„Die Demonstrationen gegen den Krieg werden sichtbarer“
Ofer Cassif ist Pazifist und Mitglied der Hadasch-Fraktion im israelischen Parlament, der Knesset. LINKSBEWEGT sprach mit ihm über sein Engagement gegen den Krieg im Gazastreifen, die Unterdrückung der Antikriegsbewegung in Israel und die Haltung der Bundesregierung.
Herr Cassif, Sie haben eine Petition unterschrieben, mit der Sie die Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) unterstützen. Warum?
Ofer Cassif: Es geht darum, den Krieg in Gaza zu beenden. Wir alle wissen um die Massaker, die in Gaza stattfinden. Mindestens 40.000 Menschen, die meisten Frauen und Kinder, wurden getötet. Südafrikas Klage hat zum Ziel, diesen Krieg zu stoppen. Das ist einer der Gründe, warum ich unterschrieben habe. Die Klage bezweckt aber auch, dass der Internationale Strafgerichtshof untersuchen soll, ob in Gaza ein Genozid stattfindet.
Und welche Wirkungen konnten Sie damit erzielen?
Ofer Cassif: Weil ich diese Petition unterschrieben habe, wurde versucht, mich aus dem Parlament zu entfernen. Mir wird vorgeworfen, den bewaffneten Kampf gegen Israel zu unterstützen. Das habe ich nie getan, ich unterstütze gewaltlosen Widerstand. Mir war wichtig, mit der Petition öffentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Das ist der Preis dafür.
Gibt es in Israel Widerstand gegen den Krieg in Gaza?
Ofer Cassif: Die Demonstrationen gegen den Krieg werden sichtbarer, größer und finden manchmal mehrmals in der Woche statt. Ich nehme fast jedes Wochenende an Demonstrationen teil, die gegen den Krieg oder gegen die Regierung protestieren. Aber auch an solchen, die zur Freilassung der Geiseln aufrufen. Während wir hier sprechen findet ein Marsch von Tel Aviv nach Jerusalem statt, der von einigen Familien der Geiseln organisiert wird. Wir unterstützen das natürlich, weil wir natürlich die Freilassung der Geiseln fordern. Die öffentliche Meinung wandelt sich gerade, von voller Befürwortung des Krieges hin zu einer mehrheitlichen Kritik des Krieges. Diese Mehrheit ist zwar dünn, aber immerhin eine Mehrheit. Das hat hauptsächlich mit der Situation der Geiseln zu tun. Diejenigen, die in Israel gegen den Krieg sind, sind nicht wegen der Katastrophe in Gaza gegen den Krieg, sondern wegen der schrecklichen Lage der Geiseln, die tatsächlich in einer entsetzlichen Lage sind. Wir, die Kommunistische Partei, Hadasch und einige andere aus unserer Fraktion in der Knesset waren vom Anfang an gegen den Krieg und fordern ein Ende des Krieges, der Geiseln, der Palästinenser aber auch den israelischen Soldaten wegen. Vor allem sie werden von einer zynischen Regierung in den Krieg geschickt, nicht wirklich für unsere Sicherheit oder um Israel zu verteidigen, sondern um das Überleben der Netanyahu-Regierung zu sichern. Sie werden also von der Regierung dafür geopfert.
Kritik ist nicht ungefährlich – auf welche Weise werden diejenigen verfolgt, die das militärische Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza kritisieren?
Ofer Cassif: Seit dem Massaker vom 7. Oktober werden israelische Bürger im Allgemeinen, aber vor allem natürlich palästinensische Bürger politisch verfolgt. Wenn ich palästinensische Bürger sage, meine ich nicht diejenigen, die in den von Israel besetzten Gebieten leben, sondern israelische Bürger. Auch progressive und demokratische Jüdinnen und Juden werden politisch verfolgt. Viele wurden entlassen, aus akademischen Institutionen ausgeschlossen, verhaftet. Manchmal wird bei den Befragungen auch Gewalt angewendet. Die Polizei geht insgesamt sehr gewalttätig gegen Demonstranten gegen den Krieg in Gaza vor, sogar gegen die Familienangehörigen der Geiseln. Ohne Grund verprügeln oder verhaften sie Menschen und das nur, weil der Minister es so möchte. Die Polizei ist zu einer privaten Miliz des Ministers für die sogenannte Nationale Sicherheit geworden. Dieser Minister ist ein Rassist, ein Faschist. Der Versuch, mich und einige andere Knesset-Abgeordnete vom Parlament zu entfernen ist auch Teil der politischen Verfolgung. In Israel läuft ein Prozess der Faschisierung. Unter dieser faschistischen Regierung wird das Land in eine faschistische Diktatur verwandelt. Das sieht man an den Gesetzen, an der Verfolgung. Jeder, der eine abweichende Meinung äußert, wird mit Gewalt verfolgt.
Welche Rolle spielen die Medien in diesem Konflikt? Und wie steht es um die Pressefreiheit?
Ofer Cassif: Eigentlich sollen Medien in einer Demokratie den Wachhund geben. Leider sind die israelischen Medien zu Schoßhunden mutiert und tun nur das, was ihnen der Herr befiehlt. Damit meine ich die Regierung. Es gibt keine Kritik am Gazakrieg, die überwiegende Mehrheit der Journalisten, sei es bei den Printmedien, Fernsehen oder Radio, unterstützen die Massaker in Gaza. Nur einige wenige Personen erheben ihre Stimme dagegen. Einer von ihnen wurde gerade entlassen. Und das ist nur die Spitze des Eisberges, denn die Medien in Israel gehorchen der israelischen Regierung. Die meisten Menschen in Israel, außer jenen, die die internationalen Medien folgen, wissen gar nicht, was in Gaza vor sich geht. Die israelischen Medien berichten nicht über die Katastrophe in Gaza. Es gibt einen Gesetzentwurf, der vor kurzem in erster Lesung im Parlament war, demnach Universitäten Professoren entlassen sollen, die verdächtigt werden, Terror zu unterstützen. Aber die Idee dahinter ist, jeden zu entlassen, der gegen den Krieg in Gaza ist. Die Medien, die akademische Welt, Künstler, selbst Knesset-Abgeordnete und die sogenannten normalen Bürger - sie sind alle Opfer von bösartiger Verfolgung und können sich nicht wirklich frei äußern. Es herrscht eine sehr faschistische Atmosphäre.
Wie wirkt sich das auf die israelische Gesellschaft aus, dass oppositionelle Stimmen unterdrückt werden?
Ofer Cassif: Die Regierung möchte ein faschistisches Regime errichten und steuert auf einen Bürgerkrieg hin. Es gibt bereits mindestens zwei Milizen. Zum einen die Polizei, die in eine Miliz mutiert ist. Zum anderen hat der besagte Minister, den ich bereits erwähnte, Waffen an Zivilisten verteilen lassen. Auf den Straßen Israels laufen tausende bewaffnete Zivilisten herum. Mit M 16-Gewehren! Die warten nur auf ein Zeichen, um gegen Demonstranten, palästinensische Bürger oder gegen Menschen wie mich loszustürmen. Sie erinnern mich an die Freikorps, die nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstanden und im 20. Jahrhundert gediehen sind. Drittens sehen wir inzwischen Soldaten, die in Gaza gedient haben und frustriert sind, weil die Regierung oder die Generäle ihnen nicht erlaubt hätten, den Job zu beenden. Genau diese Menschen erinnern mich an die Soldaten, die in Italien, in Deutschland oder in anderen Ländern aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrten und in faschistischen Organisationen eine politische Heimat fanden. Wohin uns das später führte, das wissen wir alle. Ich fürchte, wir nähern uns dem an, falls nicht bald eine radikale Wende in der israelischen Gesellschaft stattfindet.
Wie könnte denn jetzt noch ein Ausgleich zwischen Sicherheit für Israel und Achtung der Menschenrechte der Palästinenser erreicht werden?
Ofer Cassif: Das kann nur durch die Befreiung der palästinensischen Bevölkerung und die Herstellung ihrer nationalen Unabhängigkeit in einem eigenen Staat erreicht werden. Ich denke, das sind gerechte Ziele, die die Menschenrechte der Palästinenser sichern helfen. Ich bin ganz sicher, dass das auch zur Sicherheit Israels führen wird. Es gibt keinen Widerspruch zwischen den Menschenrechten der Palästinenser und der Sicherheit Israels. Israel hat ein Recht auf Sicherheit. Aber die Sicherheit Israels sollte nicht auf Kosten der Freiheit der Palästinenser erreicht werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Befreiung und Unabhängigkeit der Palästinenser den Israelis Sicherheit bringen werden.
Welche Voraussetzungen sind notwendig, um einen dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina zu erreichen?
Ofer Cassif: Volle Befreiung der Palästinenser! Es gibt keinen anderen Weg. Das bedeutet ein unabhängiger palästinensischer Staat neben dem israelischen Staat, auf dem Gebiet, das Israel 1967 besetzt hat. Also Gaza-Streifen, Westjordanland, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Außerdem ist die Re-Demokratisierung Israels eine Voraussetzung. Israel darf kein Apartheid-Staat oder ein Staat sein, in dem es eine auf Herkunft basierende Hierarchie der Bürger gibt. Rund 20 Prozent der in Israel lebenden Menschen sind Palästinenser. Sie müssen die gleichen Rechte haben wie die jüdischen Mitbürger. Diese Voraussetzungen bereiten den Weg zum Frieden und Wohlstand für alle Völker in diesem Teil der Erde.
Welche Rolle sollten internationale Organisationen und die internationale Gemeinschaft bei der Lösung des Konfliktes spielen?
Ofer Cassif: Internationale Gemeinschaft – das ist zwar ein vages Konzept dennoch muss sie sich einmischen und den Krieg beenden helfen. Sie muss Druck auf die israelische Regierung ausüben, damit diese sich aus allen palästinensischen Gebieten zurückzieht und sich in Richtung eines gerechten Friedens bewegt. Sie muss unbedingt aufhören Israel mit Waffen zu versorgen. Ein Freund, dessen Eltern am 7. Oktober von der Hamas ermordet wurden, sagte neulich, dass die internationale Gemeinschaft Friedenswerkzeuge statt Kriegsgerät nach Israel schicken sollte. Diesen Gedanken unterstütze ich von ganzem Herzen.
Die deutsche Regierung kritisiert bisher das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza sehr zögerlich. Wie beurteilen sie diese Haltung, die ja eng verknüpft ist mit der deutschen Schuld.
Ofer Cassif: Ich bin Nachkomme von Familien, deren meiste Mitglieder während des Holocausts von Nazis ermordet wurden. Als solcher muss ich Deutschen sagen, dass sie keine Wiedergutmachung für Israel oder die Juden erreichen, wenn sie die israelische Regierung unterstützen. Im Gegenteil. Sie unterstützen damit eine hochproblematische Regierung. Deutschlands Regierung muss dies auseinanderhalten. Die israelische Regierung ist doch der Hauptfeind der israelischen Bevölkerung. Wenn Berlin die Israelis unterstützen wollte, müsste es gegen die israelische Regierung sein, denn die opfert uns Juden in Israel für ihren eigenen Fortbestand. Indem sie die rassistische israelische Regierung akzeptiert, beschützen oder gar verteidigen, werden sie antisemitisch. Ich sage nur: Helfen sie ihr nicht! Hören sie damit auf. Das wäre kein Antisemitismus, sondern genau das Gegenteil.