Die israelische Gesellschaft ist seit dem 7. Oktober wie erstarrt

Yonatan Zeigen ist Friedensaktivist

Mein Name ist Yonatan Zeigen. Ich komme ursprünglich aus dem Kibbuz Beeri. Ich bin Vater von drei Kindern, von Beruf Sozialarbeiter und seit dem 7. Oktober aus Berufung Friedensaktivist. Eine der ersten Erkenntnisse, die ich hatte, nachdem ich meine Mutter während des Massakers im Kibbuz telefonisch bis zu ihrem gewaltsamen Tod begleiten musste: Es ist nicht so, dass wir keinen Frieden wollen, weil er kompliziert ist, sondern dass der Frieden kompliziert ist, weil wir ihn noch nicht wollen. Ich fühlte mich zutiefst verpflichtet, mich für die Schaffung dieses Friedenswillens einzusetzen und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um unsere Realität so zu gestalten, dass niemand mehr geliebte Menschen an diesen Konflikt verliert. Dafür muss die Besatzung enden, denn nur so gibt es eine Perspektive für die beiden verfeindeten Parteien. Nur so können sie sich zu Gesellschaften wandeln, die einen Versöhnungsprozess beginnen. 

Es ist wie eine Art fortwährendes Chaos, Verletzlichkeit und Schmerz

Ich kann nicht im Namen einer Art Opfergemeinschaft sprechen, denn ich fühle mich als Teil einer kleinen Minderheit von Menschen, die unter dem 7. Oktober gelitten hat und die sofort versucht hat, das Leiden allgemein zu verringern, anstatt den anderen Leiden zuzufügen. Was ich sagen kann: Die israelische Gesellschaft scheint seit dem 7. Oktober wie erstarrt. Es ist wie eine Art fortwährendes Chaos, Verletzlichkeit und Schmerz, und aus diesem imaginären Überlebensmodus heraus kann die Mehrheit der Menschen mit keiner Art von Komplexität oder kritischem Denken in Bezug auf die Situation umgehen – alles Gute steckt in uns, alles Böse steckt in den anderen, und alle anderen sind Antisemiten. In dieser aufgeheizten Stimmung sind die Menschen jedoch generell engagierter, und es besteht das Potenzial für tiefgreifende Veränderungen in der israelischen Gesellschaft, hoffentlich zum Besseren, aber möglicherweise auch zum Schlechteren.

Deutschland muss neu definieren, was es bedeutet, ein Freund Israels zu sein

Ich erwarte von den Deutschen, dass sie eine Haltung echter Verantwortung einnehmen. Deutschland muss für sich neu definieren, was es bedeutet, ein Freund Israels zu sein. Derzeit ermöglicht Deutschland es Israel, sich selbst zu zerstören und anderen monströsen Schaden zuzufügen. Ich weiß, dass die Deutschen sich verpflichtet fühlen, Israel zu helfen und es zu verteidigen, aber das sollte nicht bedeuten, die israelische Regierung blind zu unterstützen – erst recht wenn diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Stattdessen sollte Deutschland zu einem Schutzschild werden gegen die regressiven und destruktiven Kräfte in der Welt. Ich erwarte von den Menschen in Deutschland, dass sie aufhören, unseren Konflikt zu importieren und anfangen, Lösungen zu exportieren, damit Israelis und Palästinenser, Juden und Muslime unter dem Banner des Friedens und einer gemeinsamen Zukunft zusammenarbeiten können. Und von der Politik in Deutschland fordere ich, dass sie sich mit anderen Staaten zu einer internationalen Allianz zusammenschließt, die Anreize für humanitäres Verhalten und Diplomatie bietet und Sanktionen verhängt, wenn die israelische Regierung ihre Politik nicht ändert.