Interview mit Ulrike Eifler

Auf einem zerstörten Planeten lassen sich Arbeitsplätze nicht gestalten

Ulrike, du gehörst zu den Initiatoren des Aufrufs „Gewerkschaften gegen Aufrüstung und Krieg. Was hat dich bewogen, den Aufruf gemeinsam mit anderen auf den Weg zu bringen?

Die Friedensfrage ist, seit ich denken kann, ein wichtiger Bestandteil meiner politischen Identität. Ich wurde hineingeboren in die Zeit des Kalten Krieges. Das Wettrüsten zwischen den Blöcken hat mich genauso geprägt wie das Ringen um Abrüstungsziele in den späten Achtziger Jahren. Als dann die Mauer fiel, haben mich die großen Schülerdemonstrationen gegen den Golfkrieg politisiert. Woche für Woche liefen wir da mit, weil das unser Lebensgefühl ausdrückte: Einerseits die Angst vor Krieg und Zerstörung, die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks wahrscheinlicher geworden waren, andererseits die Möglichkeit, unsere Angst gemeinsam auf der Straße zeigen zu können. Die Gefahr großer weltkriegerischer Auseinandersetzungen hat seitdem massiv zugenommen. Heute verhandelt niemand mehr Abrüstungsverträge. Das Gegenteil ist der Fall: Die NATO diktiert Aufrüstungsziele, und ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat bedroht all diejenigen, die diesen Zielen nicht folgen wollen. Zu dieser enthemmten Aufrüstungsdebatte müssen sich die Gewerkschaften verhalten.

Aber eigentlich ist es mehr als eine Aufrüstungsdebatte, eigentlich ist es eine reale Entwicklung, oder?

Völlig richtig. Der Aufrüstungskurs ist real. In den meisten Ländern sind die Militärhaushalte gestiegen. In Deutschland ist die finanzielle Grundlage dieses Kurses das „Sondervermögen Bundeswehr“ und die 2-Prozent-Zusage der NATO. Aber die Debatte bereitet den weiteren Weg. Das sozialdemokratische Spitzenpersonal tut sich seitdem dadurch hervor, dass es sich gegenseitig überbietet und die Ausgaben für Rüstung verdoppeln und verdreifachen möchte. Zuletzt Boris Pistorius, der auf der Münchner Sicherheitskonferenz sagte, dass er eher von einer NATO-Quote ausgehe, die bei 3 bis 3,5 Prozent liegt. Sollte es so kommen, reden wir über jährliche Militärausgaben in Höhe von bis zu 140 Milliarden Euro, die ab 2027 aus dem laufenden Haushalt genommen werden sollen. Gegenwärtig liegen die Militärausgaben - ohne das Sondervermögen - bei 52 Milliarden Euro.

Das würde Einsparungen in anderen Bereichen nach sich ziehen…

Absolut! Einerseits würde sich die Konkurrenz zwischen den finanziellen Ausgaben der Bundesregierung vergrößern, insbesondere wenn sie an der Schuldenbremse festhält und es auch weiterhin ablehnt, den Reichtum der Millionäre und Milliardäre zu besteuern. Eine Bundesregierung, die den Rüstungsetat derart aufstockt, wird sich das Geld irgendwo herholen müssen. Der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, war sich nicht zu schade, dafür die zentrale Propaganda-Metapher der Nazis hervorzuholen, um die Bevölkerung frühzeitig auf Sozialkürzungen einzuschwören. „Kanonen statt Butter“, zitierte er Rudolf Hess, der dies bereits im Oktober 1936 gesagt hatte. Keine drei Jahre später überfiel Deutschland im übrigen Polen.

Und andererseits?

Andererseits ist eine derartige Fokussierung auf Aufrüstung auch ökonomischer Unsinn. Eine üppige Kindergrundsicherung, eine kräftige Rentenerhöhung oder staatliche Investitionen in den Heizungstausch stärken die Binnennachfrage. Rüstungsmilliarden dagegen wandern größtenteils ins Ausland. So fließen derzeit zehn Milliarden Euro aus dem Sondervermögen in die F-35-Kampfjets des US-Rüstungsherstellers Lockheed Martin. Deutsche Rüstungsaufträge kurbeln also aktuell eher die US-amerikanische Wirtschaft an als die deutsche.

Aber man könnte auch nach dem gesellschaftlichen Nutzen der Aufrüstung fragen, oder?

Das muss man sogar. Kampfhubschrauber und Panzer leisten einen Beitrag zur Steigerung des Bruttosozialproduktes, aber für den zivilen Wohlstand sind sie nutzlos. Weniger Investitionen in Klimaschutz, den Ausbau der Bildung, die Entwicklung von Fachkräften, nachhaltigen Industrieumbau oder die Entlastung der Pflegekräfte wäre unverantwortlich. Mal ganz abgesehen davon, dass Metallfacharbeiter oder Elektriker Fachkräfte sind, die derzeit dringend gesucht werden, um Wärmepumpen herzustellen oder Solarpanel zu installieren. Ein Hochfahren der Rüstungsausgaben und der Aufbau einer eigenen nationalen Rüstungsindustrie würde bedeuten, dass die Fachkräfte Kampfpanzer produzieren und gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten liegen bleiben.

Das sind eine ganze Reihe von Gründen, weshalb man als Gewerkschaftsmitglied diesen Aufruf unterschreiben sollte…

Und es gibt noch einige Gründe mehr. Der CO2-Fußabdruck der deutschen Waffenhersteller beispielsweise liegt bei 3,4 Millionen Tonnen. Für den gesamten deutschen Militärsektor einschließlich der Bundeswehr sind es sogar 4,5 Millionen Tonnen. Das entspricht dem CO2-Ausstoß von etwa einer Million Autos im Jahr. Und auch der bereits erwähnte Kampfjet F-35 emittiert im Durchschnitt mehr CO2 in der Stunde, als ein Deutscher im Jahresschnitt verursacht. Steigende Militäretats ziehen also einen deutlichen Anstieg der CO2-Emissionen nach sich. Das ist eine Entwicklung, die angesichts des drohenden Klimakollapses nicht zu rechtfertigen ist. Während die Bevölkerung durch die Erhöhung des CO2-Preises zur Kasse gebeten wird, dürfen Kampfjets munter die Emissionen in die Welt hinausblasen.

Was kann ein solcher Aufruf verändern? Braucht es nicht mehr als nur das persönliche Bekenntnis?

Aus meiner Sicht ist der Aufruf deutlich mehr als ein persönliches Bekenntnis. Er ist der Versuch, die Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften als Teil der Friedensbewegung wieder zurück in die Gewerkschaften zu tragen und dort auch zu führen. Ein ähnliches Ansinnen verfolgt ja auch die friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung in diesem Jahr gemeinsam mit dem ver.di-Bezirk Stuttgart organisieren wird.

Und wie ist es aus deiner Sicht um das Verhältnis von Gewerkschaften und Friedensbewegung bestellt?

Die Gewerkschaften haben eine lange friedenspolitische Tradition. Sie sind nicht nur die Mitbegründer der Ostermarschbewegung, sondern noch immer vielerorts ihr infrastrukurelles Rückgrat. Ich habe selber in meiner Funktion als Regionsgeschäftsführerin des DGB viele Jahre lang den Ostermarsch in Bruchköbel und in Fulda mitorganisiert. Der DGB hat die Kundgebungen und Demonstrationen angemeldet, die technische Infrastruktur bereitgestellt und war ein wichtiger Multiplikator und Unterstützer. Das läuft in anderen Regionen ähnlich.

Aber haben die gewerkschaftlichen Aktivitäten zu Ostern oder auch am 1. September nicht einen überwiegend institutionellen Charakter?

Mag sein. Ich bin dennoch froh, dass sie stattfinden. Aber richtig ist auch, dass die Gewerkschaften sich deutlich stärker zu Krieg und Aufrüstung positionieren könnten. Etwa wenn Gesundheitsminister Lauterbach die Zeitenwenden fürs Gesundheitswesen ausruft. Jahrelang wehrt sich die Bundesregierung, Geld für die Entlastung der Pflegekräfte und gegen das Kliniksterben in die Hand zu nehmen, und plötzlich sollen Lazarette entstehen und Materialvorräte angelegt werden. Gleiches gilt für den Substanzerhalt unserer Infrastruktur. Dass Menschen sicher und unfallfrei von A nach B kommen, bot in den vergangenen Jahren kein Anlass, Brücken und Straßen zu sanieren, die Notwendigkeit von Truppenverlegungen dagegen schon. Gegen diese Vermischung der Infrastrukturdebatte mit der Debatte über Aufrüstung müssen wir unsere Stimme erheben. Andernfalls durchdringen Kriegslogik und Aufrüstung alle Bereiche unserer Gesellschaft.

Bieten Tarifrunden eine Möglichkeit, auch über den Krieg zu reden?

Aus meiner Sicht tun sie das. Insbesondere dort, wo der öffentliche Dienst verhandelt. Hier besteht die Arbeitgeberseite aus gewählten Politikerinnen und Politikern, das heißt Verteilungskonflikte spitzen sich hier in besonderer Weise zu. Nicht zufällig kommentierte das Verteidigungsministerium von Boris Pistorius die Tarifrunde im öffentlichen Dienst im letzten Jahr mit dem Hinweis, dass ein hoher Abschluss die Ausstattung der Bundeswehr gefährde. Und Verkehrsminister Wissing verwies im aktuellen Tarifkonflikt bei der Bahn darauf, dass in Europa Krieg herrsche und Tarifauseinandersetzungen nicht zum Sicherheitsrisiko werden dürften. Die Beispiele zeigen: Eine Vermischung der Themen - Krieg einerseits und unsere Arbeits- und Lebensbedingungen andererseits - findet statt. Die Frage ist, ob wir uns dazu verhalten. Sowohl die IG Metall Hanau-Fulda, als auch der ver.di-Bezirk MainKinzig-Osthessen haben dies in den letzten zwei Jahren getan. Unter dem Motto „Waffen runter! Löhne rauf!“ organisierten sie gemeinsam mit der örtlichen Friedensinitiative auf dem Hanauer Marktplatz große Warnstreikaktionen. Ich fand das inspirierend und beispielgebend.

Im Organisationsbereich der IG Metall gibt es auch einige Rüstungsbetriebe. Richtet sich die Forderung nach Abrüstung nicht gegen die dort beschäftigten Kollegen und ihre Arbeitsplätze?

Zweifelsohne brauchen wir gerade jetzt, wo die Industrie vor epochalen Umbrüchen steht, Standort- und Beschäftigungssicherung. Das Beispiel der Rüstungsindustrie zeigt sehr anschaulich, dass wir im Transformationsdiskurs die Frage nach gesellschaftlichen Bedarfen nicht ausblenden dürfen. Wir müssen diskutieren, was wozu produziert wird und ob eine gesellschaftliche Nützlichkeit vorliegt? Diese Diskussion berührt eine zentrale Frage, nämlich wie wir leben und arbeiten wollen? In der Vergangenheit haben die Gewerkschaften den Widerspruch zwischen den furchtbaren, tödlichen und zerstörerischen Produkten rüstungsindustrieller Fertigung und dem Interesse an guten Arbeitsplätzen durch eine Konversionsdebatte aufgelöst, das heißt, wir haben diskutiert, wie Rüstungsunternehmen in den Dienst ziviler Produktion gestellt werden können. Und der Gewerkschaftstag der IG Metall hat mit seinem Beschluss im letzten Jahr an diese Debatte angeknüpft.

Mit einer solchen Forderung stellen sich die Gewerkschaften aktuell nicht nur gegen die mächtige Rüstungsindustrie, sondern auch gegen weite Teile des politischen Establishments, das in anderen Fragen aber wiederum politischer Bündnispartner ist…

Das sollte uns nicht im geringsten davon abhalten, klar Position zu beziehen. Aktuell tut sich das politische und auch das mediale Establishment dadurch hervor, dass es kriegsbesoffen über den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine und den Einsatz von Atomwaffen diskutiert. Was für eine absurde Debatte! Im Kinderkanal des ZDF lief kürzlich sogar eine Animation über das Zögen des Kanzlers bei der Taurus-Lieferung. Diese Entwicklung erfordert Widerspruch. Und welche andere Position könnten die Gewerkschaften vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, im Bewusstsein von zwei furchtbaren Weltkriegen und angesichts des wachsenden Risikos neuer weltkriegerischer Auseinandersetzungen sonst einnehmen? Hinzu kommt: Auf einem zerstörten Planeten lassen sich Arbeitsplätze weder erhalten noch gestalten. Die Sicherung des Friedens ist daher ein wichtiges Anliegen der Gewerkschaften, und die Gewerkschaftstage haben dafür gute und wegweisende Beschlüsse gefasst.

Was können die Kolleginnen und Kollegen deiner Gewerkschaft tun, wenn sie sich über den Aufruf hinaus gegen Aufrüstung und Krieg engagieren wollen?

Sie können den Aufruf in ihren Gremien zur Diskussion stellen. Sie können zum Ostermarsch mobilisieren, um sicherzustellen, dass es eine starke gewerkschaftliche Präsenz bei den diesjährigen Ostermärschen gibt. Und sie sind natürlich herzlich eingeladen, am 14/ 15. Juni zu der bereits erwähnten friedenspolitischen Gewerkschaftskonferenz nach Stuttgart zu kommen.