Jede Erneuerung braucht eine mächtige Koalition der Erneuerer

Vor einigen Tagen veröffentlichten Katharina Dahme u.a. auf Links bewegt einen Beitrag unter dem Titel „Widerspenstig, lernbegierig und reformorientiert. Für eine LINKE, die sich neu erfindet“. Da wir ausdrücklich darum gebeten wurden, uns zu dem Aufschlag der Autoren zu äußern, wollen wir mit dem folgenden Text ein paar Anmerkungen machen. Sie sind als Fortführung einer Strategiedebatte zu verstehen, die seit einigen Monaten durch diverse inhaltliche Beiträge und nicht zuletzt durch die Strategie-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Sommer 2023 stattfindet.

Allgemeine Betrachtung

Zunächst begrüßen wir, dass sich auch der Ko-Kreis der Bewegungslinken an dieser Strategiedebatte beteiligt. Wenn DIE LINKE wieder zu einer stabilen linken Kraft in der Bundesrepublik werden soll, dann müssen sich alle Teile der Partei daran beteiligen, Antworten auf die aktuelle gesellschaftliche Polarisierung zu entwickeln. Dabei muss das Verhältnis von Einheit und Klarheit so ausbalanciert werden, dass sowohl innerparteilicher Zusammenhalt als auch die Vorstellung, wohin DIE LINKE will, unsere Partei handlungsfähig machen. Die Abspaltung des Lagers um Sahra Wagenknecht schwächt DIE LINKE, so lange dieser Bruch nicht zu inhaltlich-strategischer Klärung führt.

Wir verstehen den Beitrag von Dahme u.a. als Versuch, in der aktuellen Existenzkrise unserer Partei integrative Angebote an alle Teile der Partei zu machen. Das begrüßen wir außerordentlich. Dennoch sagen wir: Die Basis für integrative Angebote wird nicht durch Appelle an die Einheit geschaffen, sondern durch einen Strategieprozess auf Augenhöhe. Dieser setzt voraus, dass wir mit analytischer Schärfe danach fragen, wie sich die Welt seit der Gründung unserer Partei verändert hat, wie sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, politische Akteure, auch Bündnispartner, verändert haben und welche Anforderungen sich daraus für sozialistische Politik ergeben.

Anders als die Autoren finden wir daher nicht, dass sich DIE LINKE „neu erfinden“ muss. Sie muss sich vielmehr so verorten, dass ihre Vision von einer freien und gleichen Gesellschaft für die Mehrheit der Menschen zur Antwort auf die tiefe systemische Krise des Kapitalismus wird. Es geht um weit mehr als den Austausch von Meinungen. Wir brauchen mehr Geschichts- und Gesellschaftsverständnis und weniger kurzlebige Twitter-Diskussionen. Mehr Verstehen und weniger Bauchgefühl. Mehr echte Diskurse und weniger bloßen Meinungsaustausch.

Der Beitrag von Dahme u.a. zeigt aus unserer Sicht, wie sehr es DIE LINKE in den letzten Jahren verlernt hat, diese Gesellschaftsanalyse zu betreiben und eine strategische Verortung sozialistischer Politik vorzunehmen. So werfen die Autoren viele Fragen auf, gestehen aber zugleich, dass sie keine Antworten haben. Nun ist es für sich genommen weder verwunderlich, noch zeugt es von politischer Dummheit, wenn man keine Antworten auf die komplexe gesellschaftliche Krisensituationen hat.

Aber die Stärke der sozialistischen Arbeiterbewegung waren immer ihre Kollektivität und ihre organisatorische Schlagkraft.

Wer also keine Antworten hat, muss zumindest eine Vorstellung davon entwickeln, wie diese Antworten in einem gemeinsamen Prozess erarbeitet werden können. Dies gilt auch und insbesondere für die Parteiführung. Es ist höchste Zeit, solch einen kollektiven Prozess zu initiieren.

Bislang war aber weder die aktuelle noch die vorherige Parteispitze dazu in der Lage, einen notwendigen, strategischen Klärungsprozess einzuleiten. Die Folge ist nicht nur eine Unklarheit über die Schwerpunktsetzung und Zielgruppen, sondern ebenso eine fehlende, der Pluralität der LINKEN angemessenen Streitkultur. Dies wiederum führte nicht nur dazu, dass Sahra Wagenknecht und ihr Umfeld seit Monaten öffentlich über eine Parteineugründung nachgedacht haben. Auch Teile der Bewegungslinken haben sich im Verbund mit der Progressiven Linken darauf verständigt, die friedliche Koexistenz mit dem Wagenknecht-Flügel zu beenden und „aus dem Zentrum heraus, eine disruptive Neugründung der Partei“[1] zu betreiben. Der ehrenwerte Versuch der Autoren, die Idee eines strategischen Zentrums aufzugreifen und durchzubuchstabieren, muss daher mit einer sorgfältigen Analyse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen beginnen und eine ebenso sorgfältige, wie auch ehrliche, Analyse der Krise unserer Partei zur Folge haben. Beides fehlt in dem Beitrag der Autoren.

Die Verkündung der Parteineugründung durch Sahra Wagenknecht ist kein Befreiungsschlag, wie einige frohlocken, sondern das Eingeständnis einer Niederlage, die wir alle gemeinsam zu verantworten haben. Doch der Schaden beschränkt sich nicht allein auf die Spaltung an sich, auf diejenigen also, die jetzt gehen. Vielmehr hat der Streit der Flügel die Partei demobilisiert. Viele Genossinnen und Genossen sind unmotiviert, manche politisch erschöpft. Vor allem ländliche Kreisverbände wirken in einigen Regionen regelrecht implodiert. Starke Mitgliederverluste schwächen die Partei zusätzlich. Wie die Partei in die Wahlkämpfe der nächsten Monate ziehen soll, bleibt fraglich.

Hinzu kommt: Weiten Teilen der Partei mangelt es an Bewusstsein für die strategischen Leerstellen, die weit über die Person Wagenknecht hinausgehen. Wir sagen: Der Partei fehlt ein strategisches Zentrum als „materieller Unterbau“ für den Meinungskorridor, den ein ehemaliger Bundesgeschäftsführer einmal eingefordert hat. Die auf Bundesparteitagen verabredete programmatische Linie schwebt ohne dieses Zentrum im luftleeren Raum, weil es niemanden gibt, er sich für diese Positionierungen verantwortlich fühlt. Das ist ein Problem. Der Partei fehlt aber auch die Fähigkeit zur strategischen Debatte. Und über allem steht die Leerstelle eines strategischen Ziels.

Im Folgenden wollen wir auf diesen Dreiklang aus strategischer Debatte, strategischem Ziel und strategischem Zentrum eingehen.

Strategische Klarheit schaffen

Die Vereinigung von PDS und WASG 2007 fand auf der inhaltlichen Grundlage der politischen Widersprüche jener Zeit statt. Dies war der Rechtsruck der Sozialdemokratie, der Kampf gegen einen in Unordnung geratenen Arbeitsmarkt und Hartz IV sowie das wachsende Bedürfnis unter Gewerkschaftsmitgliedern nach politischer Organisierung links von SPD und Grünen. Die politische Schwerpunktsetzung der Partei hat sich seitdem unter dem Einfluss neuer gesellschaftlicher Krisenentwicklungen verschoben. Die Klimafrage hat eine neue Relevanz bekommen. Hinzu kommen Fragen von politischer Diskriminierung ebenso wie die wachsende militärische Eskalation. Die Tatsache, dass die Partei nicht in der Lage ist, einen Kompass in diese komplexe gesellschaftliche Krisensituation zu halten und auf diese Weise die Partei in den aktuellen Umbrüchen und Zeitenwenden zu verorten, verunmöglicht die strategische Diskussion.

Diese Leerstelle – oder besser die Unfähigkeit zu strategischer Debatte und Neuausrichtung – wird kompensiert durch Flügelkämpfe, die schon lang nicht mehr als ideologischer Streit auf Augenhöhe ausgetragen werden. Nicht selten ersetzen moralische Bewertungsmaßstäbe die nüchterne Analyse der politischen Entwicklungen und realer gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

Gleichzeitig wurde in den letzten zwölf Monaten von verschiedener Seite strategische Impulse in die innerparteiliche Diskussion gegeben. Zu nennen wären die Strategiekonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Juli 2023 oder unseren Diskussionsbeitrag in der Zeitschrift Sozialismus.[2] Auch die Artikel von Heinz Bierbaum, Micha Brie[3] oder Ines Schwerdtner[4] dokumentieren die Versuche, eine strategische Debatte um die Ausrichtung der Partei zu führen. All diese Versuche waren für sich genommen bemerkenswerte Aufschläge. Jeder von ihnen wäre geeignet gewesen, zum Ausgangspunkt einer Strategiedebatte zu werden. Dass dies nicht geschah, lag nicht zuletzt daran, dass die Parteiführung, keine einzige dieser Initiativen aufnahm, um daraus eine qualifizierte Debatte zu machen. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: Einige der Beiträge wurden als Nestbeschmutzung betrachtet oder als Nörgelei abgetan. Indem man die Autoren reflexartig in die Schublade innerparteilicher Kontrahenten einsortiert hat, wurden inhaltliche Argumente strömungspolitisch verortet, statt sie als strategischen Beitrag zu sehen.

Strategisches Ziel

DIE LINKE ist zudem geschwächt durch das Fehlen eines strategischen Ziels. Micha Brie schreibt in seinem Buch „Sozialismus neu denken“, dass sich einen Antikapitalismus ohne die Vorstellung einer alternativen Gesellschaftsvision nur leisten kann, wer der Illusion nachjagt, der Kapitalismus würde durch einen inneren Verfall in sich zusammensinken.

Die Geschichte lehrt uns, dass das Gegenteil der Fall ist: Der Kapitalismus ist hochflexibel und äußerst anpassungsfähig.

Deshalb darf sich der Antikapitalismus der Linken auch nicht nur aufs Dagegensein beschränken, sondern muss durch die Vision einer alternativen, besseren, solidarischen Gesellschaft jenseits von Profitmaximierung, Unterdrückung und Krieg konkretisieren.[5]

Da die zentrale politische Bruchlinie der Gegenwart, an der nicht nur SPD und Grüne scheitern, sondern aus der auch die AfD ihr zerstörerisches Potential zieht, der organisierte Konflikt zwischen sozialer und ökologischer Frage ist, muss eine solche Vision die Gestalt einer sozial-ökologischen Transformation annehmen. Sie kann allerdings nur dann eine Antwort auf die systemische Krise des Kapitalismus sein, wenn sie als realpolitisches Projekt ebenso verstanden wird wie als Vision einer gesamtgesellschaftlichen Umstrukturierung. Der aktuelle Umbau der Industrie, die Energiewende mit teuren Heizungsgesetzen oder die Abkehr vom Verbrenner ohne gleichzeitigen Ausbau der öffentlichen Verkehrs-Infrastruktur zeigen: Die ökologische Krise soll auf Kosten der sozialen Frage vermeintlich „gelöst“ werden. Eine Entwicklung, die sich nicht klassenneutral vollzieht, sondern als Verteilungsauseinandersetzung und ohne demokratische Teilhabe der unteren Klassen organisiert wird. Eine „rot-grüne Vision“ kann daher der gesellschaftlichen Linken helfen, in den bürgerlich dominierten, stark technologiefixierten Transformationsdiskussionen die Stimme der Lohnabhängigen-Klasse stark zu machen und diese für einen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu mobilisieren.

Strategisches Zentrum

Die Partei braucht einen Erneuerungsprozess, der mehr sein muss als das Verwalten des Status Quo und weniger als eine Fortsetzung politischer Spaltungen. Doch jeder Erneuerungsprozess braucht eine mächtige Koalition von Erneuerern. Diese gilt es zu identifizieren und miteinander zu vernetzen. Ihre Aufgabe muss darin bestehen, einen Strategieprozess einzuleiten, der im Unterschied zur Strategiekonferenz 2020 kein singuläres Ereignis ist, sondern die auf Dauer angelegte Suche nach gemeinsamen Antworten. Welche politische Schwerpunktsetzung ergibt sich für DIE LINKE aus einer zuvor vorgenommenen Zeitdiagnose? Die unterschiedlichen Flügel der Partei müssen zwingend in einen regelmäßigen und verbindlichen Verständigungsprozess eintreten, der nicht zum Ziel haben darf, dass der eine über den anderen Flügel obsiegt, sondern Positionen entwickelt werden, die die Partei in ihrer Gesamtheit stärken. Nur wenn der Richtungsstreit innerparteilich kanalisiert wird, statt öffentlich über soziale Medien ausgetragen zu werden, hat DIE LINKE eine Chance, das Verhältnis von Einheit und Klarheit innerparteilich neu zu verhandeln, dann hat sie auch wieder die Stärke, um in gesellschaftliche Krisensituationen einzugreifen.

Für diesen Dreiklang braucht es eine Koalition der Erneuerer. Sie müsste diesen Prozess auf den Weg bringen. Dazu wäre es sinnvoll, die besonnensten Köpfe der Flügel und Landesverbände in einen gemeinsamen Diskussionskontext zu bringen, um einen Erneuerungsprozess zu erwägen, zu diskutieren und zu organisieren.

Wichtig dabei wird sein, eine Grundlage für strategische Klärungsprozesse zu schaffen, die die Partei nicht weiter verletzt, sondern stärkt.

Vermutlich lässt sich das nicht allein auf eine inhaltliche Positionsbestimmung reduzieren, sondern es braucht darüber hinaus strukturelle Veränderungen und sichtbare Signale des Aufbruchs, um die Partei aus ihrer Schockstarre und ihrem politischen Phlegmatismus herauszuholen. Dazu gehören Veränderungen im Apparat, eine Verbesserung des Verhältnisses von Fraktion und Partei und die Verstetigung des strategisch-inhaltlichen Austauschs. Die Partei hat eine echte Chance, wenn die notwendigen Aufgaben jetzt auch konsequent angegangen werden. Das Zeitfenster dafür ist allerdings nicht allzu groß.

 

[1] Vgl.: Candeias, Mario (August 2023): Wir leben in keiner offenen Situation mehr – Thesen zum Ende des Interregnums und warum es gerade jetzt einen Neustart der LINKEN braucht

[2] Vgl. Eifler/Ferschl/Richter (November 2022): DIE LINKE braucht einen Klassenkompass, Sozialimus.de

[3] Vgl. Brie/Bierbaum (Juni 2023): Zukunft der Linkspartei – die Klassenfrage ist das Modernste, nd

[4] Vgl. Schwerdtner, Ines (Juli 2023): Wir leben in keiner offenen Situation mehr? Aber natürlich! Warum die kommenden Monate für DIE LINKE entscheidend sind – ein Gegenentwurf zu Mario Candeias‘ 15 Thesen, LUXEMBURG

[5] Brie, Michael (2022): Sozialismus neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu den Widersprüchen einer solidarischen Gesellschaft, VSA.