Rede von Gerhard Trabert auf der Friedensdemo Stuttgart

Es herrscht wieder Krieg in Europa

Ich bin immer noch voller Eindrücke von meinen beiden Reisen in die Ukraine in den zwei Jahren nach Kriegsbeginn.

Der brutale völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands in der Mitte Europas gegenüber der Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen. Keine Fehler die das NATO-Bündnis im Vorfeld begangen haben, keine Vorwürfe bezüglich rechtspopulistischer Bewegungen in der Ukraine rechtfertigen dieses mörderische Töten von Kindern, Frauen und Männern.

Militärischer Widerstand mag notwendig sein, um sich gegenüber Diktatoren und Despoten wehren zu können und Demokratien zu verteidigen. Mehr Ausgaben in diesem Kontext sind eventuell auch notwendig. Ich war zu oft in Bürgerkriegs- und Kriegsregionen als Arzt tätig und musste erfahren, dass gerade die Zivilbevölkerung nur dadurch etwas geschützt werden kann, gegenüber der Gewalt durch einen Aggressor, wenn man ihm in der Akutphase eines Krieges mit einem militärischen Gegengewicht begegnet.

Rüstungsausgaben ins Grundgesetz zu schreiben, ist allerdings höchst fragwürdig. Dann fordere ich auch die Festsetzung von finanziellen Mittel im Grundgesetz zur gesellschaftlichen Realisierung von sozialer Gerechtigkeit und damit Armutsbekämpfung.

Natürlich müssen Wirtschaftsunternehmen, insbesondere die Rüstungsindustrie, die von dieser militärischen Aufrüstung profitieren eine Solidaritätsabgabe an den Staat zahlen, und natürlich muss eine Übergewinnsteuer, eine Zufallsgewinnabgabe, wie auch immer man sie nennen mag, erhoben werden damit die Sicherung der Demokratie vor äußeren Aggressoren nicht zu einem sozialen Unfrieden innerhalb dieser Demokratie führt. Diese Gelder müssen insbesondere den Menschen zu Gute kommen, die schon in der Pandemie und davor ausgegrenzt, sozial benachteiligt und von Armut betroffen waren und sind.

Ich war schon des Öfteren in Kriegsregionen und habe mich immer gefragt: Worin liegt die Macht des Krieges, dass immer wieder dazu aufgerufen wird. Ich habe vor Jahren meine Gedanken und Erfahrungen zu diesem menschlichen Phänomen in einem Gedicht thematisiert. Der Titel des Gedichtes lautet Kriegswurzeln.

Das Gedicht beginnt mit der Feststellung und hinterfragt dies immer wieder:

Dass die Wurzel der Macht des Krieges, der Glaube vieler Menschen sei:

  • dem Tod von Freunden einen Sinn zu geben, ginge nur dadurch, wieder zu töten.
  • dass Intoleranz eine Tugend ist.
  • ass die Mächtigen wissen, was sie tun.
  • dass Leid, Not und Tod nur die anderen trifft.
  • dass Unterdrückung Freiheit bringen kann.
  • dass Hass eine Kommunikationsform ist.
  • dass das Reden vom Frieden ausreicht den Krieg zu verhindern.
  • dass man nichts gegen den Krieg tun kann.

Und bestimmt gibt es noch sehr viel mehr Gründe und Erklärungen warum Kriege entfacht werden.

Zum Ende des Gedichtes stelle ich mir und uns allen die Frage: Und wo sind die Wurzeln der Macht des Friedens?!

Hinschauen

Eigene Erfahrungen sind ein Quell innerer Erkenntnis. Wie schwierig dies ist habe ich direkt und persönlich bei einem Hilfseinsatz in Mossul im Irak selbst erfahren dürfen!

Wir arbeiteten in einem sogenannten Trauma-Stabilisations-Point, einer ersten Anlaufstelle für Schwerstverletzte Soldaten und Zivilisten. Dort wurden immer wieder Kämpfer des Islamischen Staates die verletzt waren eingeliefert. Es war für die irakischen Soldaten nicht leicht zu akzeptieren, dass wir auch den Feind medizinisch gleichbehandelt haben. Aber es war zu spüren, dass dieses Verhalten sowohl beim kriegerischen Gegner als auch bei den irakischen Kämpfern etwas auslöste. Den Feind auch als Mensch zu erkennen, die Verletzlichkeit, körperlich und seelisch ist eben bei allen Menschen vorhanden und dies wiederum zeigt ihre Menschlichkeit auf.

Diese sogenannte Feindesliebe, bedeutet allerdings nicht, und dies ist mir wichtig hervorzuheben, mit dem Tun und Handeln des Feindes einverstanden zu sein. Aber es bedeutet schon im Kern dieser Botschaft, Gewalt nicht mit Gewalt zu begegnen.

Im Lukas-Evangelium steht eine zentrale Botschaft: „Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet.“

Dies bedeutet, Hinschauen und nicht Wegschauen, nur dann kann ich die Situation des Anderen Erkennen und entsprechend Handeln bzw. Behandeln.

Der Mensch lebt in seinem Inneren, mit dem was häufig als Seele bezeichnet wird vom Hinschauen. Hinschauen und Stigmatisierung und Diskriminierung und Unrecht denen Menschen ausgesetzt sind zu Erkennen und sich dagegen aufzulehnen ist elementar für unser aller seelisches bzw. psychisches Überleben.

Wegschauen hält die Glut des Unrechts am Glimmen. Sie bringt uns selbst ins Ungleichgewicht. Die Glut wird dann vom Sauerstoff-Elixier des Ignorierens, des Tolerierens von Benachteiligung und Ausgrenzung weiter entfacht. Aus der Glut wird ein Feuer, aus dem Feuer ein Brand, aus dem Brand eine Feuerwalze die das seelische Leben des Menschen zerstört. Wir Menschen leben von Begegnung, von Beziehung, von Mitgefühl und Empathie aber auch von konkretem praktischen Handeln.

Deshalb dürfen wir nie mehr Wegschauen. Aus der tief empfundenen Solidarität und Nächstenliebe für unseren Mitmenschen, aber auch aus der Eigenfürsorge um unser individuelles und persönliches seelisches Leben.

Zu diesem eingeforderten Verhalten gehört auch elementar eine Selbstreflektion ein Schauen in unser Inneres. Dies bedeutet, selbst Verantwortung zu übernehmen und nicht Andere für Leid und Not verantwortlich zu machen.

Es geht also immer auch um die Hinterfragung des eigenen Handelns.

Es geht nicht um eine selbstzerstörerische Kritik, es geht um tabulose Kritik, es geht um stetige authentische Begegnung und das Hinschauen dem eigenen Leben und dem fremden Leben gegenüber. Wachsam für die Not und das Bedürfnis des Anderen und Wachsam gegenüber meinen irrationalen Ängsten zu sein. Und zugleich die Demut zu leben, wie schmal der Grat zwischen falschem und richtigem Handeln oft ist. Diese Wachsamkeit ist nicht selten ein schmerzvoller Erkenntnisprozess, aber davon lebt der Mensch eben auch.

 Geschichten von Vätern und ihren Söhnen im Kriegsgeschehen

Während einer unserer ärztlichen Sprechstunden in einem Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze kommt ein Vater mit seinem ca. 11-jährigen Sohn zu mir. Unser syrischer Dolmetscher übersetzt mir die Worte des Vaters. Sie kommen aus Aleppo, sein Sohn könne seit dem Beginn des Bürgerkrieges nicht mehr schlafen. Er zeigt mir eine mittlerweile äußerlich verheilte Schusswunde an der linken Brustseite seines Sohnes. Danach zeigt der Vater mir eine Granatsplitterverletzung, an seinem Rücken. Ich bin traurig und betroffen und weiß nicht was ich sagen soll. Ich bitte unseren Dolmetscher, dass er dem Vater sage möge, dass ich ihn so gut verstehen würde, seine Angst und Fürsorge für seinen Sohn, gerade weil ich auch 4 Kinder habe. Ich bin dem Weinen nahe! Der Vater schaut mich an, und tröstet mich mit den Worten: „Ich danke Dir, dass Du dir die Zeit genommen hast mir zuzuhören.“ Wir umarmen uns schweigend!

Nachdem wir im zentralen Militärkrankenhaus in Charkiv das medizinisch-chirurgische Gerät Dermatom, dass für Autohauttransplantationen bei großflächigen Verletzungen vorgesehen ist, übergaben, setzt sich ein Soldat, der wohl Kommandant einer ukrainischen Front-Einheit ist, zu uns. Er ist zur Therapie und Rehabilitation seit Monaten im Krankenhaus, da er nach schweren Verletzungen die er im Kampf an der Front erlitten hat, behandelt werden musste. Er berichtet uns von diesem Kampfeinsatz, bei dem er schwerste Verletzungen erlitten hatte. Er wäre mit seiner Einheit in einen Hinterhalt geraten, wurde zuerst durch einen Schuss am Fuß und dann aufgrund einer Explosion am Kopf verletzt worden. Seine Kameraden dachten er sei tot. Er verlor das Bewusstsein erwachte aber immer wieder und hätte nach Auskunft seiner Kameraden sofort wieder in Richtung Feind geschossen, dann wäre er wieder bewusstlos gewesen und dies hätte sich mehrfach wiederholt. Er selbst kann sich an nichts erinnern. Jetzt wäre er im Militärkrankenhaus durch mehrere Operationen behandelt worden. Er zeigt uns verschiedene Narben an seinem Körper sowie eine besonders große an seinem Kopf.

Dann zeigt er uns auf seinem Handy Fotos von seiner Frau und seinem fünfjährigen Sohn. Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges wären sie getrennt worden. Seine Frau und sein kleiner Sohn hätten sich vor den Bomben und Raketen der russischen Aggressoren in einem U-Bahn-Schacht in relative Sicherheit bringen können. Danach seien sie nach Deutschland geflohen und lebten jetzt in Leipzig. Er selbst hätte sich sofort freiwillig zur Armee gemeldet. Seit Beginn des Krieges, also fast 1 1/2 Jahre, haben sie sich seither nicht mehr von Angesicht zu Angesicht sehen können. Während er uns die Fotos seines kleinen Sohnes zeigt, laufen ihm die Tränen an den Wangen herunter. Dann spielt er uns eine Videobotschaft auf dem Smartphone vor, in der sein Sohn, seine Sehnsucht nach dem Vater zum Ausdruck bringt und so sehr hofft, dass der Krieg bald vorbei sei und er endlich den Vater wiedersehen könne. Er zeigt uns ein Foto auf dem sein Sohn, schon nach Deutschland geflohen, seinen fünften Geburtstag feiert und dann ein weiteres Foto wo er den sechsten Geburtstag feiert. Der Vater vermittelt uns sehr bewegt, wie schwer es ihm falle an diesen beiden Geburtstagen nicht dabei gewesen sein zu können. Er hätte so große Sehnsucht nach seinem Sohn. Man sieht die Betroffenheit, den Schmerz und diesen tief empfundenen Wunsch dieses Soldaten, dieses Vaters, ganz authentisch mit vielen Tränen verbunden. Wir verabschieden uns und wünschen ihm alles, alles Gute.

Wie wir später erfahren war er einige Wochen nach unserem Aufenthalt wieder an der Front. Zwei Monate später nimmt unser Dolmetscher Michael Kontakt mit mir auf und berichtet mir das Grigoriy, denn so ist sein Name, Anfang August eine Woche Sonderurlaub zum Besuch seines Sohnes bekommt. Er bittet uns um Unterstützung bei der Organisation dieser Reise sowie der Unterbringung von Grigoriy. Leider erfahren wir auch, dass die Ehe mittlerweile getrennt sei. Ein Schicksal was viele Soldaten und ihre Ehefrauen und Partnerinnen auf der ganzen Welt teilen. Krieg hat in vielerlei Hinsicht eine zerstörerische Wirkung. Er zerstört oft Beziehungen, und oft auch die Beziehungsfähigkeit.

Wie oft habe ich bei meinen medizinischen Einsätzen mit dem Arztmobil für wohnungslose Menschen ehemalige Soldaten behandeln müssen. Vor 25 Jahren waren dies häufig deutsche Soldaten die in der Fremdenlegion aktiv waren und den Weg zurück in ein normales Leben nicht mehr fanden. Seit geraumer Zeit sind es deutsche Soldaten die in Afghanistan stationiert waren, oder anderen Orten in denen die Bundeswehr aktiv war. Immer wieder begegnen mir ehemalige Soldaten die aufgrund des Erlebten, aufgrund der Schicksale die sie im Krieg erleben und erleiden mussten, die Grundlage für ein „normales Leben“ nicht mehr entwickeln konnten.

Mit einem befreundeten Ehepaar, Anita und Dirk, mit denen ich gemeinsam bei einem Seenothilfeeinsatz mit der SeaWatch für Bootsflüchtlinge vor Jahren im Mittelmeer unterwegs war, das in der Nähe von Leipzig ein Ferienlager, ein Landschulheim betreibt, organisierten wir die Unterbringung von Grigoriy und auch die Übernachtung und das Zusammensein mit seinem Sohn. Grigoriy ist so alt wie mein jüngster Sohn, 31 Jahre. Auch mein Sohn hat einen kleinen Sohn. Das Leben dieser jungen Väter ist zu verschieden, es liegen Welten dazwischen.

Und genau in diesem Kontext ist das „Füreinander da sein“, das gegenseitige Zuhören ein zentraler Lebensbaustein des Menschseins. Aber natürlich auch die Kritik an politischen Fehlentscheidungen und einem zunehmend gelebtem Klassismus.

Es ist, und dies möchte ich nochmals ausdrücklich betonen, wichtig Demokratien von außen und von innen zu schützen, den sozialen Frieden im gesellschaftlichen Miteinander zu gewährleisten. Und dies geht nur durch die Praktizierung von sozialer Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung, Gendergerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit und damit auch Verteilungsgerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist die Bewährungsprobe einer jeden freiheitlichen Demokratie. Mahatma Gandhi sagte einmal:

Armut ist die schlimmste Form von Gewalt.“

Unsere Demokratie muss also von außen und im Inneren geschützt und beschützt werden. Der soziale Frieden im Inland ist genauso bedeutsam wie der Frieden mit anderen Nationen!

Die Menschenrechte und das Völkerrecht müssen bei allen Menschen und bei allen Nationen Anwendung finden. Denn nur diese Maxime lässt uns letztendlich hoffen und überleben.

Menschen mit Respekt, Würde und Zuwendung zu begegnen ist immer ein Prozess der auf beide Kommunikationspartner ausstrahlt.

Dies bedeutet auch, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu akzeptieren ist, und dies auch, oder gerade bei einem kriegsführenden Land. So muss die Ukraine selbst Kriegsdienstverweigerer menschenrechtskonform behandeln und nicht bestrafen. So muss aber auch Deutschland russischen Kriegsdienstverweigerern Asyl gewähren. Beides wird derzeit nicht praktiziert. 

Immer wieder wird behauptet das Befürworter von Friedensverhandlungen gegen das ukrainische Volk seien. Genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade aufgrund der Solidarität mit den Kindern, Frauen und Männern in der Ukraine ist das streben nach einem Waffenstilland und Frieden, auch wenn dies eventuell territoriale Zugeständnisse in der Gegenwart bedeuten könnte, etwas was zutiefst pro-ukrainisches Intervenieren bedeutet. Ein Intervenieren, das Leben schützt, das eine Traumatisierung verschiedener Generationen zumindest stoppt und Demokratisierungsprozesse fördert, ist immer der bessere Weg, als auf militärische Dominanz, auf eine Lösung von Konflikten durch ein militärisches „Gewinnen“, ausgerichtet ist.

Haben wir den Mut zur Begegnung mit uns selbst, und dies beinhaltet immer auch die Begegnung mit meinen Mitmenschen und genau davon lebt der Mensch! Auch wenn die Begegnung mit meinem Mitmenschen schmerzhaft sein kann und wir uns ohnmächtig fühlen, und die Gefahr des daran Scheiterns groß erscheint, sollten wir nie die Hoffnung und auch die Gewissheit aufgeben, die Mahatma Gandhi wie folgt beschreibt:

„Und wenn ich verzweifle, dann erinnere ich mich, dass durch alle Zeiten in der Geschichte der Menschheit die Wahrheit und die Liebe immer gewonnen haben. Es gab Tyrannen und Mörder und eine Zeit lang schienen sie unbesiegbar, doch am Ende scheiterten sie immer. Denke daran – immer.“