Der Hoffnung eine Perspektive geben
Die Parteivorsitzenden, Ines Schwerdtner und Jan van Aken, im Gespräch über den Chemnitzer Parteitag
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Ines Schwerdtner
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Jan van Aken
- Redaktion
Ines, Jan, beim Parteitag in Chemnitz haben wir beschlossen, dass wir „die Hoffnung organisieren“ wollen. Was bedeutet das?
Jan: Wir sind im Wahlkampf zum Ort der Hoffnung für Millionen Menschen geworden. Eine Partei, die tatsächlich etwas verändern will, damit das Leben der Menschen besser wird. Die praktisch hilft und nah bei den Menschen ist. Merz & Co. verbreiten Hoffnungslosigkeit oder Einsamkeit. Es ist an uns, ein besseres politisches Angebot zu machen.
Wir sind im Wahlkampf zum Ort der Hoffnung für Millionen Menschen geworden.
Und das heißt: Dieser Hoffnung eine Perspektive der praktischen Umsetzung zu geben. Wenn Merz sich im Bundestag hinstellt und sagt, dass die Krankenpflegerin oder der LKW-Fahrer nicht hart genug arbeiten, ist das eine unglaubliche Beleidigung und Anmaßung. Wenn er sagt, dass die Bundeswehr die größte konventionelle Armee Europas werden soll, ist das brandgefährlich. Als Linke ist es an uns, dagegenzuhalten und zu zeigen, dass es anders geht. Wir können die Schuldenbremse reformieren und damit bessere Bildung und eine bessere Bahn finanzieren, statt das größte Militär in Europa. Wir können das Steuersystem gerecht ausgestalten und Milliardäre belasten statt Geringverdiener. Wir können einen wirkungsvollen Mietendeckel einführen und wieder ernsthaft Geld in den sozialen Wohnungsbau stecken, was seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall ist. Dabei müssen wir uns immer klar sein, dass wir das nur im Bündnis mit den Menschen schaffen können. Wir können Sozialabbau und Aufrüstung nur verhindern, wenn die Menschen sich selbst wehren. Unsere Rolle ist nicht, die Hoffnung einfach zu verkünden. Wir müssen sie organisieren.
Und wie kann das gelingen?
Ines: So wichtig der Kampf gegen Merz und die AfD auch ist: Unser größter Gegner ist die Resignation. Für viele Menschen ist die Politik extrem weit weg. Sie versprechen sich von der etablierten Politik nichts mehr – und das zu Recht. Manche macht das empfänglich für die Botschaften der AfD, aber bei weitem nicht alle. Im Haustürwahlkampf in Lichtenberg habe ich sehr deutlich gespürt, wie viele Menschen in totaler Resignation und häufig auch in sozialer Isolation leben.
Unser größter Gegner ist die Resignation.
Wenn wir politische Veränderungen zum Besseren erzielen wollen, müssen wir sie da herausholen. Das geht aber nicht, indem wir ihnen ein Manifest in die Hand drücken und ihnen abstrakt irgendwas über die arbeitende Klasse erzählen. Das funktioniert so nicht. Man erreicht viele auch kaum noch über die Medien, jedenfalls nicht die klassischen.
Das ist es, was wir mit „organisierender Klassenpartei“ meinen.
Was aber sehr gut funktioniert: Wenn wir ihnen konkret zeigen, dass wir auf ihrer Seite stehen. Wenn wir Sozialsprechstunden, einen Heizkostencheck oder einen Mietwucherrechner anbieten, sind das niedrigschwellige Angebote, auf die sich die Menschen einlassen können, auch wenn sie mit Politik und Parteien sonst nicht viel anfangen können. Natürlich ist das nur der erste Schnitt. Das Ziel ist schon, dass die Menschen merken, dass sich hier jemand für sie interessiert und dann auch selbst politisch aktiv werden. Wenn sie zu uns als Parteimitglieder kommen, ist das natürlich ideal. Aber auch aus einer Mieterversammlung, die wir organisieren, kann beispielsweise ein regelmäßiges Treffen und dann ein Mieterverein werden. Das ist es, was wir mit „organisierender Klassenpartei“ meinen.
Können wir die Erwartungen, die wir damit wecken, überhaupt erfüllen? Was können wir aus der Opposition denn überhaupt für die Menschen tun?
Jan: Mehr, als viele denken! Wir waren auf Bundesebene noch nie an einer Regierung beteiligt. Und trotzdem haben wir es als Partei geschafft, dass eine unserer zentralen Forderungen heute umgesetzt ist, nämlich der Mindestlohn. Als wir ihn zum ersten Mal gefordert haben, wurden wir dafür ausgelacht. Aber wir haben nicht lockergelassen und über viele Jahre politischen Druck dafür aufgebaut. Und irgendwann war es eben nicht mehr normal, dass eine Friseurin auf dem Land in Ostdeutschland drei Euro die Stunde verdiente. Es wurde nicht mehr einfach so hingenommen, sondern als das aufgefasst, was es war: ein Skandal.
Wenn wir einen bundesweiten Mietendeckel durchsetzen wollen, müssen wir genauso fokussiert und hartnäckig sein wie beim Mindestlohn.
Hier kommt die Kampagnenfähigkeit ins Spiel. Wenn ich als Campaigner bei Greenpeace eines gelernt habe, dann das: Gesellschaftlich durchsetzungsfähig wirst du, wenn du dich auf einen Punkt konzentrierst und dort alle Kraft einsetzt, die du hast. Diese Form von Kampagnenfähigkeit brauchen wir als Partei. Wenn wir einen bundesweiten Mietendeckel durchsetzen wollen, müssen wir genauso fokussiert und hartnäckig sein wie beim Mindestlohn. Wir müssen dafür kämpfen, bis er kommt. Das bedeutet nicht, dass wir andere Themen nicht bearbeiten, das haben wir im Leitantrag auch nochmal ausdrücklich festgehalten. Aber wir müssen dahin kommen, dass die Menschen als erstes an den Mietendeckel denken, wenn sie an uns denken. Dann denken sie auch an uns, wenn die nächste Mieterhöhung eintrudelt.
Der Ton gegenüber unserer Partei wird ja gerade wieder rauer. Nimmt man uns als Gegner wieder ernst?
Ines: Ich denke schon, ja. Ich hatte vor Kurzem das zweifelhafte Vergnügen, mit Jens Spahn im Fernsehen zu sein. Er hat dann wieder mit den alten Verleumdungen gegen uns angefangen, dass wir Millionäre erschießen wollen und diesen ganzen albernen Quatsch. Sein ganzer Auftritt war unfreiwillig komisch, weil es eigentlich darum ging, dass die Union jetzt auf uns angewiesen ist, etwa, wenn es um die Reform der Schuldenbremse geht. Er konnte sich da auch nicht so richtig rauswinden. Im Kern musste er zugeben, dass wir jetzt echte Verhandlungsmacht im Bundestag haben, weil uns die Regierung bei Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, eben braucht. Offensichtlich ist das eine Botschaft, die er dann mit der entsprechenden konservativen Folklore verpacken muss, um in den eigenen Reihen die Gemüter zu beruhigen.
Wenn Heidi sich hinstellt und mit großer Selbstverständlichkeit sagt, dass wir den Kapitalismus abschaffen wollen, dann ist das eine klare Ansage an die Elite in diesem Land.
Für mich ist das ein hervorragendes Zeichen. So hat man bis jetzt eigentlich nur in der Zeit nach der Parteigründung über uns gesprochen, als man noch nicht genau wusste, wie sehr sich das Parteiensystem durch die Gründung der Linken neu sortieren würde. Ich glaube, bei diesem Parteitag sind wir mit einem Selbstbewusstsein und Selbstverständnis aufgetreten, die es einfach unmöglich machen, uns weiterhin einfach so zu ignorieren. Wenn Heidi sich hinstellt und mit großer Selbstverständlichkeit sagt, dass wir den Kapitalismus abschaffen wollen, dann ist das eine klare Ansage an die Elite in diesem Land.
Wir haben in Chemnitz sehr klargemacht, wo wir stehen: Wir bezeichnen uns als Anti-Establishment. Aber wir sind keine Fundamentalopposition, wir nehmen unsere Verantwortung als demokratische Kraft sehr ernst. Aber wir haben einen Anspruch auf grundlegende Veränderung, den wir ebenso ernst nehmen, und von dem wir nicht abrücken werden: Wir wollen eine Wirtschaft, die die Interessen der Vielen priorisiert, nicht die der Vermögenden. Ich glaube, das hat der eine oder die andere gerade erst realisiert.
Der Parteitag hat sich dafür entschieden, dass sich Die Linke beim Kampf gegen Antisemitismus auf die „Jerusalemer Erklärung“ beziehen soll. Dafür gab es Zuspruch, aber auch Kritik. Könnt ihr kurz erklären, was das bedeutet?
Jan: Zunächst einmal bedeutet das, dass wir weiter entschieden gegen jeden Antisemitismus einstehen. Antisemitismus ist ein vielschichtiges Phänomen und es ist schon länger Gegenstand einer wissenschaftlichen Debatte: Wo hört zum Beispiel berechtigte Kritik an Israel auf und wo ist eine solche auch antisemitisch? Dazu gibt es in der Wissenschaft, innerhalb und außerhalb Israels, sehr unterschiedliche Auffassungen - auch in unserer eigenen Partei. Der Streit verläuft im Kern zwischen zwei Definitionen von Antisemitismus, der so genannten IHRA-Definition und der Jerusalem Declaration. Beide verurteilen auch israelbezogenen Antisemitismus, aber mit unterschiedlichen Kriterien. Beide haben ihre Stärken und Schwächen und stehen jeweils auch innerhalb der Linken aus unterschiedlichen Gesichtspunkten in der Kritik. Jetzt hat sich der Bundesparteitag für eine Definition entschieden, aber damit ist die Debatte natürlich nicht zu Ende. Wir werden in den kommenden Wochen Diskussionsangebote machen, damit alle ihre jeweilige Sichtweise auf die verschiedenen Definitionen darlegen und diskutieren können. Dabei suchen wir auch den Austausch mit jüdischen und israelischen Organisationen.
Der Leitantrag, aber auch weitere Anträge, formulieren ja einige Aufgaben an den Parteivorstand. Wie wird das Arbeitsprogramm für die nächsten Monate aussehen?
Jan: Das stimmt, wir haben einiges an Hausaufgaben bekommen. Wir werden einen Schwerpunkt auf den Aufbau von schlagkräftigen Kampagnenstrukturen legen. Für die Mandatszeitbegrenzung und Gehaltsbegrenzung werden wir, wie beschlossen, konkrete Konzepte ausarbeiten, ebenso wie für eine Verbesserung der Partizipation von Arbeiter*innen und queeren Menschen. Und wir werden politische Strukturen dafür schaffen, dass unterschiedliche Parteiebenen in zentralen Fragen in Zukunft besser und frühzeitiger zusammenarbeiten, zum Beispiel bei Bundesratsabstimmungen.
Wir werden einen Schwerpunkt auf den Aufbau von schlagkräftigen Kampagnenstrukturen legen.
Der Mitgliederzustrom hält ja an. Glaubt ihr, dass wir gut aufgestellt sind, die vielen neuen Genoss*innen einzubinden?
Ines: Ich bin da sehr optimistisch. Ich glaube, das Bildungsprogramm, das wir ebenfalls beschlossen haben, wird da eine wichtige Rolle spielen, und natürlich auch die Arbeit vor Ort in den Kreisverbänden. Mir ist es wichtig, dass wir eine lernende Partei sind. Dazu gehört ein fairer, solidarischer Umgang miteinander, eine offene Fehlerkultur und ein Grundverständnis dafür, dass wir eine pluralistische Partei bleiben, die Menschen aus ganz unterschiedlichen politischen Traditionen und mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen zusammenbringt. Ich glaube, die Entwicklung geht in die richtige Richtung.
Mir ist es wichtig, dass wir eine lernende Partei sind. Dazu gehört ein fairer, solidarischer Umgang miteinander.
Ich bin der Überzeugung, dass wir Verbindungen am besten über konkrete gemeinsame politische Arbeit schaffen. Wenn man gemeinsam eine Haustürkampagne organisiert hat, lassen sich politische Differenzen später auch entspannter miteinander diskutieren. Jan und ich sind uns einig, dass wir uns auch in Zukunft öffentlich vor andere stellen werden, wenn die Grenzen einer fairen innerparteilichen Debatte überschritten werden. Mir wäre wichtig, dass wir den neuen Mitgliedern vermitteln: Wir sind eine streitbare Partei, in der auch mal kontrovers diskutiert werden darf, aber immer solidarisch, und hinterher vertragen wir uns wieder und feiern gemeinsam. Das ist die Partei, die ich mir wünsche.
Ines, Jan, vielen herzlichen Dank für das Gespräch.