Bis auf die Knochen

Wo endet die Performance, wo beginnt das "wahre" Leben?

Kunst geht bis auf die Knochen, da sind sich die Protagonistinnen von Evelyn Schels‘ Dokumentarfilm ziemlich und sprichwörtlich einig. Marina Abramović, Shirin Neshat, Sigalit Landau und Katharina Sieverding vermitteln sich als ihre eigenen Kunstwerke in ihren Performances. Und nicht selten mit dem nackten Körper. „Body of Truth“ lautet der Titel dieses schönen Films, ein Wortspiel, es bedeutet so viel wie Körper bzw. Stück der Wahrheit, angelehnt an das englische body of proof, zu deutsch: Beweisstück.

Wie die Körperarbeit der vier Ausnahmekünstlerinnen entsteht und funktioniert, darüber geben sie gern Auskunft. Und man ist schnell erstaunt wie erfreut, zu hören, wie es ihnen gelungen ist, einen ganz eigenen künstlerischen Ausdruck zu finden. Ihre Eltern seien Kriegshelden gewesen, berichtet Abramović, aber im Frieden hätten sie sich nur gestritten und sie als Kind psychisch wie physisch misshandelt. Den Krieg führe sie nun im eigenen Körper fort. Man sieht sie, wie sie sich selbst öffentlich züchtigt, wie sie mit Knochenbergen und anderen drastischen Mitteln arbeitet. Verwundbarkeit, sagt sie, sei ihr Schlüssel zum Publikum.

Wie das Vergangene im Gegenwärtigen haust, ist auch das Thema von Sigalit Landau. Ihre älteren Verwandten sind entweder im Holocaust getötet oder traumatisiert worden. Sie sei ein „heilendes Kind“ für ihre Eltern gewesen, die mehrere Vernichtungslager überlebt hatten und fürs Leben gezeichnet waren. Die Rolle, die sie übernahm, ließ wenig Raum für Eigenes. So verbindet sie schmerzhafte Erfahrungen mit ihrer nächsten Umgebung, etwa wenn sie einen Hula-Hoop-Reifen aus Stacheldraht benutzt. Neben ihrem Körper nutzt Landau das Tote Meer, aus dessen Salz sie eindrucksvolle Skulpturen erschafft.

Wie wird ein Foto zum Bild?

Deutschlands Vergangenheit ist auch Katharina Severdings Thema, ihr Mittel die serielle und großformatige Fotografie. Kein Instrument der Bildherstellung ist ihr zu anstrengend, etwa wenn sie mit Röntgenkameras am eigenen Kopf arbeitet. Wie entsteht aus einem Foto ein Bild? Diese Frage treibt sie um. Bilder müssen etwas Befreiendes haben, vor allem was vorgegebene Rollen angeht, sagt sie. „Transformer“ heißt folglich eine ihrer bekanntesten Serien.

Auch Shrin Neshat, die sich mit der iranischen Diktatur auseinandersetzt, arbeitet mit Fotografien, die über sich hinausweisen. Regisseurin Schels begleitet sie bei der aufwendigen Vorbereitung eines Porträts der Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai und der Verzierung mit der Kunst der Kalligrafie in Farsi, Neshats Markenzeichen. „My body is my tool“, sagt sie über ihre Arbeit. Der Körper ist mein Werkzeug.

Diktatur und eigene Gewalterfahrung sind die ernsten Themen, wenn nicht das Material aller vier Künstlerinnen. Aber der Film nimmt sich auch immer wieder Zeit, ihren Werdegang und ihr Alltagsleben abzubilden. Neshat führt uns durch New York, wo sie studiert hat, Landau erklärt ihren Wohnort Jerusalem. Und Abramović, die diejenige unter den zeitgenössischen Künstlern ist, die mit am ruppigsten mit sich selbst verfährt? Die strickt am liebsten warme Klamotten für Freunde. Am Schluss hat sie Neshat bei sich zu Hause zu Besuch, die sich einen Schal aussuchen darf. Ein herzliches Treffen der zwei Künstler-Persönlichkeiten - schade, dass die beiden anderen an dem Tag nicht konnten!

„Body of Truth“ ist nicht nur ein gut funktionierender Film über die Kunst, sondern auch über ihre maßgeblichen zeitgenössischen Akteurinnen.
 

Body of Truth“. D/SUI 2019. Regie: Evelyn Schels. Ab 11. Februar 2021 als Video on Demand und ab 25. Februar als DVD. www.filmweltverleih.de