Internationales

Wie Indiens linker Musterstaat Corona meistert

Die Linke ist in Kerale tief verwurzelt

Corona hat im Jahr 2020 die Welt fest im Griff. Überall suchen Regierungen nach geeigneten Strategien gegen die Pandemie. Es wird händeringend nach positiven Beispielen gesucht, unterschiedliche Herangehensweisen werden intensiv beleuchtet und diskutiert. Im Mai wurde im britischen “Guardian“ ein Artikel über die Gesundheitsministerin von Kerala veröffentlicht („Die Corona-Jägerin! Wie Keralas Gesundheitsministerin half, den Bundesstaat vor Corona zu retten“). Der Artikel sorgte weltweit für viel Aufsehen und bescherte dem eher beschaulichen Bundesstaat im Südwesten Indiens ungewohnt viel Aufmerksamkeit.

Bereits seit den 1970/80er Jahren ist Kerala mit seinen heute knapp 35 Millionen Einwohner*innen vor allem in linken Kreisen in Deutschland bekannt für sein gutes Gesundheitssystem, viele sagen das beste in Indien. Daneben konnten und können sich die jeweiligen Regierungen mit dem besten Bildungssystem, der niedrigsten Analphabeten-Quote und der höchsten Lebenserwartung rühmen. Außerdem liegt Kerala auch bei dem zahlenmäßigen Verhältnis von Männern zu Frauen (1.084 Frauen auf 1.000 Männer) und im Index der menschlichen Entwicklung auf dem ersten Platz in Indien. Ein Grund dafür ist, dass seit den ersten Wahlen 1957 durchgängig mitte-links bzw. sozialdemokratische, oder sozialistische bzw. kommunistische Parteien an der Macht waren, die den besonderen Entwicklungsweg Keralas weiter vorantrieben. Dieser bestand schon früh aus einer Dezentralisierung von Macht, weg von der Bundesstaatsregierung, hin zu partizipativer Selbstverwaltung auf Dorfebene (Panchayat). Und auch wenn sich wenn die beiden politischen Blöcke fast alle fünf Jahre wieder gegenseitig abwechseln, ist Kerala die letzte verbliebene linke Bastion in Indien. Seit vier Jahren regiert nun die Linke Demokratische Front (LDF) unter Führung der Kommunistischen Partei Indiens (Marxist) und anderen, kleineren linken Parteien.

Was sind die Faktoren für den Erfolg?

Neben den Hauptpfeilern eines starken Bildungs- und Gesundheitssystems und der Stärkung der lokalen Selbstverwaltung war es vor allem das schnelle Handeln nach dem Ausbruch von Corona. Bereits am 19. Januar entschied sich die später gefeierte Gesundheitsministerin KK Shailaja, sich für unmittelbare und strenge Maßnahmen einzusetzen. Bevor Corona in einigen Ländern überhaupt als eine mögliche Bedrohung ernst genommen wurde, führte die Linke Demokratische Front in Kerala einen umfassenden Lockdown ein – ohne allerdings die Nöte der Menschen aus den Augen zu verlieren. International wurde beispielsweise das Schicksal der Wanderarbeiter*innen mittels herzzerreißender Fotos und Reportagen sichtbar, die sich zu tausenden auf den Autobahnen zu Fuß auf den Weg in ihre Heimat-Bundesstaaten und Heimatstädte machen mussten – weil die indische Zentralregierung mit nur vier Stunden Vorlaufzeit einen landesweiten Lockdown mit Sperrung aller Bundesstaatsgrenzen und öffentlicher Verkehrsmittel verhängte. Millionen Wanderarbeiter*innen steckten in vielen Städten fest und hatten als Tagelöhner*innen keine Einkommen zum Überleben. Die Regierung in Kerala wählte einen anderen Weg und errichtete umgehend knapp 4500 Camps für Wanderarbeiter*innen. Sie wurden mit Nahrungsmitteln, Wasser, ärztlicher Versorgung und kostenlosem Datenvolumen ausgestattet, damit sie mit ihren Familien kommunizieren können.

Auch die Wanderarbeiter*innen wurden versorgt

Das Wohlfahrtsprogramm umfasste vier Aspekte: niemand sollte hungern. Dafür wurden öffentlich Lebensmittel ausgegeben, die die am dringendsten benötigten Bedarfe abdecken. Außerdem wurden Unterkünfte für alle bereitgestellt, niemand sollte auf der Straße leben müssen, vor allem nicht die vielen Wanderarbeiter*innen. Dass diese überhaupt in den Genuss (bundes-)staatlicher Versorgung kamen, war ein weiteres Unikum in Kerala. Natürlich sollten darüber hinaus auch alle Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung haben.

Der Zugang zu Informationen war essentiell, um die Bevölkerung über die Maßnahmen aufzuklären. So gab es eine breit angelegte Kampagne „Break the chain“ sowie tägliche Pressekonferenzen des Ministerpräsidenten. Die linke Regierung rief das Motto „trace, quarantine, test, isolate, treat“ aus: Verfolgung, Quarantäne, Tests, Isolierung, Heilung. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal zu anderen indischen Bundesstaaten war und ist aber die enorme Beteiligung der Gesellschaft. In Kerala gibt es aufgrund der mitte-links Regierungen eine lange Geschichte von Bürger*innenbeteiligung. Diese Zusammenarbeit von Regierung und Bevölkerung ermöglichte nun eine Strategie, die sich um die Menschen, ihre Gesundheit und ihre Nöte kümmert. Auch der Nobelpreisträger Amartya Sen und der angesehene US-amerikanische Politökonom Noam Chomsky haben die Bemühungen Keralas im Kampf gegen die Corona-Pandemie gewürdigt. Noch ist der Kampf nicht gewonnen, aber mit einer starken gesellschaftlichen Einheit stehen die Chancen mit Sicherheit besser.