Linke Politik braucht Haltung
- Sandro Abbate
Politik verliert an Glaubwürdigkeit, weil sie für viele Menschen nicht mehr als gestaltende Kraft erkennbar ist. Sie wirkt wie die Verwaltung des Unvermeidbaren. Ihre Sprache klingt abstrakt, ihre Gesten mechanisch, ihre Erzählungen erschöpft. Was fehlt, ist nicht nur Vertrauen, sondern etwas Grundsätzlicheres: ein spürbarer Sinn. Gerade linke Politik sollte ein Ort sein, an dem Menschen Orientierung finden, ein Raum für die Fragen, die größer sind als die Tagespolitik: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir arbeiten? Wie kann ein System aussehen, das nicht auf Kosten der Mehrheit funktioniert? Heute ist diese Stimme leiser geworden. Interne Konflikte, hektische Reaktionen auf jede neue Lage und der Druck, möglichst taktisch zu wirken, haben lange Zeit die Haltung überlagert, die Die Linke tragen sollte.
Menschen spüren, ob eine Partei etwas sagt, weil es gerade opportun erscheint, oder weil sie davon überzeugt ist
Wer politische Relevanz zurückgewinnen will, braucht nicht zuerst Strategien, sondern Haltung. Haltung meint kein moralisches Pathos, sondern die innere Kohärenz, aus der politisches Handeln glaubwürdig wird. Sie ist das Grundrauschen, das in Sprache, Entscheidungen und Alltag erkennbar wird. Menschen spüren sehr schnell, ob eine Partei etwas sagt, weil es gerade opportun erscheint, oder weil sie davon überzeugt ist. Politik ohne Haltung wird flach und verliert Resonanz. Politik aus Haltung stiftet Sinn.
In der Wirtschaft spricht man vom „Purpose“ – dem eigentlichen Warum hinter einer Organisation. Menschen kaufen nicht Produkte, sondern Bedeutungen. In der Politik funktioniert es genauso: Parteien gewinnen nicht durch Programme allein, sondern dadurch, dass sie ein moralisches Zuhause anbieten. Die Linke hatte dieses „Warum“ lange fest verankert: Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde. Diese Werte sind keineswegs überholt; im Gegenteil, sie decken sich mit den Mehrheitsinteressen vieler potenzieller linker Wählerinnen und Wähler. Doch Inhalte allein erreichen die Menschen nicht, wenn die Haltung dahinter unscharf geworden ist.
Glaubwürdig wirkt eine Partei, wenn ihre Vertreterinnen und Vertreter erkennbar leben, wofür sie stehen
Haltung entsteht nicht in Programmen, sondern in der Praxis. Ein Papier kann Orientierung geben, aber keine Glaubwürdigkeit erzeugen. Glaubwürdig wirkt eine Partei erst, wenn ihre Vertreterinnen und Vertreter erkennbar leben, wofür sie stehen. Das wirkt sich auf alle Ebenen aus: in der Sprache, die sie wählt; in den Konflikten, die sie austrägt oder vermeidet; im Umgang miteinander. Haltung ist der Punkt, an dem Worte und Handeln zusammenfallen.
Ein Beispiel dafür liefert die belgische Partei der Arbeit (PTB), deren Erfolg nicht allein aus ihren Forderungen resultiert, sondern aus ihrem Umgang mit politischer Verantwortung. Abgeordnete beziehen dort bewusst niedrigere Gehälter, organisieren Beratung für Mieterinnen und Mieter oder sind in Betrieben präsent. Nähe wird nicht behauptet, sondern praktiziert. Glaubwürdigkeit entsteht so nicht aus Marketing, sondern aus gelebter Konsequenz.
Für Die Linke bedeutet das, Haltung wieder spürbar zu machen – und zwar auf allen Ebenen der Organisation. Auf Bundesebene braucht es eine klare moralische Richtung, die nicht nach dem tagespolitischen Wind ausgerichtet ist, sondern als verlässlicher Kern erkennbar bleibt. Wer auf Bundesebene spricht, prägt das Bild der gesamten Partei. Verständliche Sprache, begründete Positionen und eine erkennbare Bereitschaft, auch Gegenwind auszuhalten, formen den Rahmen, in dem politische Inhalte erst wirken.
Haltung ist kein Slogan und keine Wahlkampfstrategie - damit unterscheidet sie sich grundlegend von politischem Marketing
Am deutlichsten erfahrbar aber wird Haltung vor Ort, in den Kreis- und Ortsverbänden. Dort begegnen Bürgerinnen und Bürger der Partei im Alltag. Dort entscheidet sich, ob sie als abstrakte Institution oder als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen wird. Eine Linke, die Haltung lebt, ist dann nicht nur im Wahlkampf sichtbar, sondern auch im Alltag präsent – in Gesprächen, in Nachbarschaften, in konkreten Hilfs- und Beratungsangeboten, in Unterstützung für Streikende oder Betroffene sozialer Härten. Politische Nähe entsteht nicht durch Plakate, sondern durch Berührungspunkte im wirklichen Leben. Solidarität wird nicht verkündet, sondern erlebbar gemacht.
Haltung ist kein Slogan und keine Wahlkampfstrategie. Damit unterscheidet sich Haltung grundlegend von politischem Marketing. Haltung ist kein Slogan und keine Wahlkampfstrategie. Sie ist die politische Kultur, die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen, wenn sie der Partei im Alltag begegnen – oder eben nicht. Die Frage, ob Die Linke weiter Bedeutung gewinnt, hängt daher weniger an neuen Forderungen oder Reformpapieren als daran, ob sie wieder spürbar macht, weshalb es sie überhaupt braucht.
Solidarität, das Herzstück linker Politik, ist dafür der entscheidende Schlüssel. Sie ist keine nostalgische Reminiszenz an vergangene Bewegungen, sondern die notwendige Antwort auf eine Gesellschaft, in der Angst, Vereinzelung und ökonomischer Druck für viele Menschen zur Normalität geworden sind. In Zeiten, in denen sich immer mehr Menschen fragen, ob sie in diesem System noch vorkommen, wird das Gefühl „Ich bin nicht allein“ zu einer enormen politischen Kraft. Solidarität ist weniger Moral als soziale Infrastruktur des Vertrauens.
Menschen glauben nicht an Programme. Sie glauben an Menschen, die an etwas glauben.
Haltung bedeutet deshalb vor allem eines: Resonanz zu erzeugen. Politik ist mehr als das Abarbeiten von Problemen. Sie ist die Kunst, Menschen einzubeziehen, ihnen Würde zurückzugeben und die Hoffnung zu wecken, dass Veränderung möglich ist. Eine Linke, die Haltung nicht nur einfordert, sondern lebt, muss nicht auf schnelle Erfolge hoffen. Sie gewinnt zunächst etwas Wichtigeres: Bedeutung. Und Bedeutung ist der Anfang von Vertrauen, Vertrauen der Anfang von Bewegung und Bewegung der Anfang realer Veränderung.
Menschen glauben nicht an Programme. Sie glauben an Menschen, die an etwas glauben.
Sandro Abbate ist Sprecher des Kreisverbandes Die Linke Siegen-Wittgenstein. Er hat Kulturwissenschaften studiert und arbeitet als Redakteur in der Hochschulkommunikation.