Tag der Wohnungslosen: Wenn Arbeit nicht mehr vor Armut schützt
Am 11. September macht der Tag der Wohnungslosen auf die Lage von Menschen ohne eigenes Zuhause aufmerksam. Nach aktuellen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) sind in Deutschland mehr als 600.000 Menschen betroffen – Tendenz steigend. Dass in einem der reichsten Länder der Erde Erwerbstätige, Familien mit Kindern und junge Erwachsene ohne Wohnung leben müssen, ist kein Unfall. Es ist Ausdruck eines Systems, das Profite über die Bedürfnisse der Menschen stellt.
Die Erhebungen der BAG W verdeutlichen, wie weitreichend das Problem ist: 13 Prozent der Betroffenen sind erwerbstätig, 11 Prozent leben mit mindestens einem Kind im Haushalt. Besonders Menschen mit Migrationsbiografie sind überdurchschnittlich betroffen – 38 Prozent besitzen keine deutsche Staatsangehörigkeit. Unter den nicht-deutschen Frauen lebt fast jede Vierte allein mit Kindern.
Besonders dramatisch ist die Situation für junge Erwachsene: Fast die Hälfte der unter 25-Jährigen in den Hilfestrukturen lebt in absoluter Armut. Insgesamt befindet sich mehr als ein Drittel der Betroffenen unterhalb der Armutsgrenze.
Wohnungslosigkeit ist kein Randphänomen und keine Verkettung persönlicher Fehlentscheidungen. Sie ist die Folge einer kapitalistischen Logik, die Wohnraum nicht als Menschenrecht, sondern als Ware behandelt. Wohnungen entstehen dort, wo Renditeerwartungen hoch sind – nicht dort, wo Menschen sie dringend benötigen. Während börsennotierte Immobilienkonzerne Rekordgewinne einstreichen, werden Beschäftigte trotz Vollzeitarbeit aus ihren Wohnungen gedrängt.
Die Ursachen liegen in drei zentralen Dynamiken:
- Steigende Mieten: Wohnraum wird als Anlageobjekt genutzt. Finanzinvestoren treiben die Preise hoch, während gleichzeitig Sozialwohnungen massenhaft aus der Bindung fallen.
- Sinkende Reallöhne: Obwohl viele Menschen arbeiten, reicht ihr Einkommen nicht mehr, um die Lebenshaltungskosten zu decken. Arbeit schützt längst nicht mehr vor Armut.
- Kommerzialisierter Sozialstaat: Nicht nur die Unterfinanzierung, sondern auch die kapitalistische Ausrichtung sozialer Einrichtungen verschärft die Lage. Ob bei Jobcentern mit Sanktionslogik oder im Gesundheitssystem mit Fallpauschalen – überall gilt Effizienz und Kostenreduzierung mehr als das Wohl der Menschen. Wer krank wird oder Unterstützung braucht, wird nicht selten durch bürokratische Hürden und ökonomische Zwänge zusätzlich in Unsicherheit gedrängt.
Nicht nur ökonomisch, auch ideologisch wird Wohnungslosigkeit verteidigt. Immer wieder heißt es von bürgerlichen Parteien, jeder sei „seines eigenen Glückes Schmied“. Wer auf der Straße landet, habe schlicht die falschen Entscheidungen getroffen. Dahinter steckt eine gefährliche Umkehrung: Anstatt gesellschaftliche Strukturen verantwortlich zu machen, wird die Schuld den Einzelnen zugeschoben.
Man könnte meinen, das Grundgesetz beginne nicht mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sondern mit „Die Würde des Menschen ist Privatsache“. Diese Ideologie entlastet die Politik und rechtfertigt den Status quo: Wer arm ist, ist selbst schuld – und wer reich ist, habe es eben verdient.
Eine sozialistische Perspektive weist diese Argumentation zurück. Denn Armut, Wohnungslosigkeit und soziale Unsicherheit sind keine individuellen Fehlleistungen, sondern Ausdruck der kapitalistischen Verhältnisse. Kein Mensch „entscheidet“ sich freiwillig dafür, sein Zuhause zu verlieren. Es ist das Resultat einer Gesellschaftsordnung, die Profit über Menschen stellt. Solidarität bedeutet deshalb, den Mythos der Eigenverantwortung zu durchbrechen und die Strukturen anzugreifen, die Armut und Wohnungslosigkeit überhaupt erst erzeugen.
Eine Politik, die wirklich am Gemeinwohl orientiert ist, müsste massenhaft in sozialen Wohnungsbau investieren, armutsfeste Löhne garantieren und soziale Absicherung stärken – unabhängig von Herkunft oder Aufenthaltsstatus. Doch solange das kapitalistische System die Profitinteressen über die Bedürfnisse der Mehrheit stellt, bleibt Wohnungslosigkeit ein strukturelles Problem.
Wohnen ist ein Menschenrecht. Die Verteidigung dieses Rechts ist nicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine Frage der Systemkritik.