Die AfD in den Industrieregionen
In vielen Industrieregionen fielen die Stimmenzuwächse für die AfD bei verganenen Wahlen besonders stark aus. Linke Gegenstrategien werden nur aufgehen, wenn sie die dortige politische Kultur ernstnehmen und aufgreifen.
Dieser Artikel ist der zweite Teil der Reihe AfD-Erfolge und linke Gegenstrategien. Der erste Teil der Reihe beschäftigte sich mit linken Strategien gegen die AfD im ländlichen Raum.
Wahlerfolge der AfD in Niedersachsen in industriellen Regionen
Bei der Bundestagswahl 2025 erzielte die AfD in mehreren Industrieregionen Niedersachsens überdurchschnittliche Ergebnisse und verzeichnete teils deutliche Zugewinne im Vergleich zur Wahl 2021. Hier sind fünf Regionen, in denen die AfD besonders stark abschnitt:
WK 51: Helmstedt–Wolfsburg: Zweitstimmenanteil: 22 %, Zugewinn: +12,5 Prozentpunkte. Dieser Wahlkreis umfasst Wolfsburg, einen bedeutenden Industriestandort mit dem Volkswagen-Werk.
WK 49: Salzgitter–Wolfenbüttel: Zweitstimmenanteil: 21,3 %, Zugewinn: +11,4 Prozentpunkte. Salzgitter ist bekannt für seine Stahlindustrie, insbesondere die Salzgitter AG.
WK 45: Gifhorn–Peine: Zweitstimmenanteil: 21,3 %, Zugewinn: +11,6 Prozentpunkte. Peine hat eine industrielle Prägung, unter anderem durch die Stahlproduktion.
WK 24: Aurich–Emden: Zweitstimmenanteil: 21 %, Zugewinn: +12,8 Prozentpunkte. Emden ist ein bedeutender Hafen- und Industriestandort mit Werften und dem Volkswagen-Werk.
WK 25: Unterems: Zweitstimmenanteil: 20,9 %, Zugewinn: +12,7 Prozentpunkte. Die Region Unterems umfasst Teile Ostfrieslands mit industriellen Schwerpunkten in der Schiffbau- und Energiebranche.
Ursachen für die hohe Zustimmung zur AfD
Die AfD wird in industriell geprägten Regionen zunehmend gewählt – besonders in strukturschwächeren Gebieten – aus einer Kombination mehrerer Faktoren.
Viele Industrieregionen sind vom Wandel zur Elektromobilität, Automatisierung und Klimapolitik betroffen (z. B. Transformation der Auto- oder Stahlindustrie). Arbeitnehmer*innen fürchten Jobverluste oder soziale Abstiege, was Frust und Verunsicherung begünstigt – ein Nährboden für Protestwahlen. Regionen wie Salzgitter oder Emden fühlen sich oft von der Bundespolitik vernachlässigt – vor allem im Vergleich zu wachstumsstarken Ballungszentren. Die AfD stellt sich als „Anti-Establishment“-Partei dar und profitiert vom Gefühl der sozialen und politischen Marginalisierung.
Die AfD stellt sich gegen viele Klimaschutzmaßnahmen (z. B. gegen das Heizungsgesetz, E-Mobilität, CO₂-Preise), die in Industrieregionen als Bedrohung für Arbeitsplätze empfunden werden. Damit spricht sie gezielt industrielle Kernwählerschichten an. In vielen dieser Regionen gibt es Zuwanderung (z. B. durch Arbeitsmigration oder Flüchtlinge), was Ängste vor Verdrängung oder Konkurrenz um Wohnraum, Arbeit oder Sozialleistungen schürt. Die AfD nutzt diese Themen stark rhetorisch aus. Früher stark verankerte Parteien wie die SPD verlieren in Arbeiterregionen zunehmend ihre Bindungskraft. Die AfD füllt dieses Vakuum als neue „Kümmererpartei“ mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen.
Betrachten man als Beispiel die Industriestädte Wolfsburg und Emden, die beide 2025 auffällig hohe AfD-Zweitstimmenanteile hatten. In beide Städte verbinden sich wirtschaftliche Verunsicherung, politische Entfremdung und gefühlte Bedrohung der Lebensweise zu einem Klima, in dem die AfD als Protestpartei besonders erfolgreich ist.
Wolfsburg – Automobilstandort (Volkswagen-Zentrale)
Wolfsburg ist Sitz von Volkswagen, einer der größten Arbeitgeber Deutschlands. Die Stadt ist wirtschaftlich stark vom Automobilsektor abhängig – viele Jobs hängen direkt oder indirekt an der Autoindustrie. Der Wandel zu E-Autos bringt Arbeitsplatzunsicherheit (weniger Arbeitskräfte in der Produktion nötig, Werke werden umstrukturiert). Viele Beschäftigte sehen die Klimapolitik als Bedrohung ihrer Existenz. Die AfD nutzt das Thema gezielt. Sie stellt sich gegen den „grünen Umbau“ und warnt vor „Deindustrialisierung“. Einige Beschäftigte fühlen sich von Betriebsräten und der SPD entfremdet, da diese den Umbau mittragen. Die AfD profitiert von diesem Vertrauensverlust in etablierte Institutionen. Als Industriestandort zieht Wolfsburg viele Arbeitsmigranten an. Die AfD mobilisiert gezielt mit Erzählungen über angebliche „Überfremdung“ und Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt.
Emden – Hafenstadt mit VW-Werk & Werften
Emden beherbergt ein großes VW-Produktionswerk (v. a. E-Autos) und hat Tradition in Schiffbau und Hafenwirtschaft. Der Hafen wandelt sich stark – durch Digitalisierung, Rückgang traditioneller Werftarbeit, und neue Logistikketten. Auch hier wird der Wandel zur Elektromobilität als Risiko gesehen, vor allem da Emden stark auf den Export über den Hafen angewiesen ist. Ängste vor dem Verlust gut bezahlter Industriearbeitsplätze sind präsent. Viele fühlen sich in der Region sozial abgehängt. Öffentliche Infrastruktur (z. B. medizinische Versorgung, ÖPNV) wird als rückläufig empfunden – die AfD nutzt dies rhetorisch als Beleg für „Versagen der Altparteien“. Viele Wähler wollen der Politik „einen Denkzettel verpassen“ – weniger aus ideologischer Überzeugung, sondern aus Unzufriedenheit. Die AfD bietet einfache Botschaften („Grenzen zu“, „Heimat schützen“, „Arbeitsplätze statt Klimaideologie“), die emotional anschlussfähig sind.
Tiefe Klassengegensätze und ideologische Verwirrungen
Aus marxistischer Sicht lässt sich das Wahlverhalten in Industriestädten wie Wolfsburg und Emden, wo die AfD zunehmend Zuspruch findet, als Ausdruck eines tiefer liegenden Klassengegensatzes und ideologischer Verwirrung innerhalb des kapitalistischen Systems erklären.
Nach Marx lebt die Arbeiterklasse (Proletariat) in ständiger Abhängigkeit vom Kapital – sie muss ihre Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben. In Städten wie Wolfsburg (VW) oder Emden (Hafen, Industrie) sind die Menschen in genau dieser Lage. Sie sind abhängig von großen Konzernen, die sich in der kapitalistischen Logik permanent rationalisieren, transformieren oder verlagern. Die Umstellung auf Elektromobilität und „grüne Transformation“ stellt in diesem Sinne keine Befreiung, sondern eine neue Form der Unsicherheit dar. Sie bedeutet den Verlust von Arbeitsplätzen (weniger Bedarf in E-Auto-Produktion), Konzentration von Eigentum (kleine Zulieferer sterben) und Prekarisierung (Leiharbeit, Werkverträge, Outsourcing).
Die reale Ursache dieser Unsicherheit ist also die kapitalistische Produktionsweise, nicht etwa Migration oder Klimapolitik an sich. Marxistische Theoretiker*innen sprechen oft von einem „falschen Bewusstsein“, das die herrschende Klasse (Bourgeoisie) der Arbeiterklasse aufzwingt. Statt die ökonomischen Ursachen (Kapitalakkumulation, Profitmaximierung, Eigentumsverhältnisse) zu erkennen, richtet sich der Frust der Arbeiterklasse oft gegen andere Gruppen: Migranten, "die da oben" und Klimaschützer.
Die AfD verstärkt dieses falsche Bewusstsein. Sie lenkt die Wut der Arbeiterklasse weg von Kapital und Eigentumsverhältnissen hin zu kulturellen und nationalen Feindbildern. Dadurch wird der eigentliche Klassengegensatz verschleiert – was aus marxistischer Sicht eine Funktion jeder rechten Bewegung ist. Die AfD erscheint so als „Systemkritikerin“, ohne das System wirklich infrage zu stellen. Sie verteidigt sogar Eigentumsverhältnisse, fordert Steuererleichterungen für Unternehmer – also ganz im Sinne der Kapitalinteressen.
Nach Marx müsste die Arbeiterklasse sich organisieren, um ihre Interessen zu vertreten – also in Gewerkschaften, linken Parteien oder Bewegungen. Wenn diese Institutionen aber zu sehr im System verhaftet erscheinen, als abgehoben oder elitär gelten, und/oder sich auf identitätspolitische Themen fokussieren, ohne die materielle Lage der Arbeiter ernst zu nehmen, dann entsteht ein politisches Vakuum, das rechte Kräfte wie die AfD füllen können. Die AfD ist kein Ausdruck von Klassenbewusstsein, sondern von dessen Desintegration. Die AfD in Wolfsburg und Emden ist ein Symptom des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit – jedoch kein Mittel zu dessen Aufhebung, sondern zur Stabilisierung der herrschenden Ordnung durch Spaltung und Ablenkung.
Hegemonie und Gegenhegemonie im Werk
Aus Sicht Antonio Gramscis – eines marxistischen Theoretikers, der besonders die Rolle von Kultur, Ideologie und Hegemonie betont – lässt sich der Aufstieg der AfD in Industrieregionen wie Wolfsburg und Emden als Folge eines hegemonialen Bruchs und einer fehlenden Gegen-Hegemonie erklären.
Früher waren Parteien wie die SPD (in Verbindung mit Gewerkschaften) hegemoniale Kräfte in Arbeiterregionen: Sie boten ein Weltbild, in dem Arbeiterinteressen im Rahmen des Kapitalismus berücksichtigt wurden (z. B. durch Sozialstaat, Mitbestimmung). Viele Arbeiter empfinden die SPD & Co. heute aber als abgehoben, technokratisch oder „grün-bürgerlich“. Der hegemoniale Konsens („Transformation ist gut für euch“) bricht zusammen. Es entsteht ein ideologisches Vakuum, das von Akteuren wie der AfD gefüllt wird – nicht, weil sie klassenbewusst argumentieren, sondern weil sie emotionale, nationale, identitäre Erzählungen bieten. Die AfD schafft in Gramscis Sinne eine neue kulturelle Hegemonie von rechts, die das Weltbild der Arbeiterschaft reorganisiert: Nicht mehr Klassenkonflikt steht im Zentrum, sondern „Heimat“, „Volk“, „Tradition“, oder „Gerechtigkeit für Deutsche“.
Gramsci betont, dass eine erfolgreiche Gegen-Hegemonie nicht rein ökonomistisch sein darf – sie muss kulturell anschlussfähig sein, Alltagserfahrungen aufgreifen und alternative Narrative bieten. Jedoch erscheinen Linke Bewegungen häufig akademisch, urban, identitätsfokussiert. Sie erreichen die Lebenswelt von Industriearbeiter*innen in Wolfsburg oder Emden kaum noch. Es fehlen „organische Intellektuelle“ (vor Ort verankerte Multiplikator*innen) in diesen Milieus, die Brücken schlagen könnten. Die AfD besetzt die Lücke mit einem scheinbar „volksnahen“ Stil, einfachen Erklärungen und dem Versprechen, die soziale Ordnung wiederherzustellen, die durch Globalisierung, Migration und Klimapolitik vermeintlich „zerstört“ wurde.
Der AfD-Erfolg in Industriestädten ist also nicht bloß ökonomisch erklärbar, sondern Ausdruck eines hegemonialen Machtkampfes in der Zivilgesellschaft, den die politische Linke dort verloren hat – mangels kultureller Verankerung, politischer Strategie und organischer Intellektueller. Gerade in Gramscis Sinne sind es Alltagskultur, Moralvorstellungen und kollektive Identitäten, die politische Entscheidungen mitformen.
Werte und Traditionen der Industriearbeitenden
Bestimmte Werte und Traditionen, die in klassischen Industrieregionen wie Wolfsburg oder Emden historisch gewachsen sind – spielen im heutigen politischen Wandel eine erhebliche Rolle.
Die Industriearbeit wurde (und wird) als sinnstiftend und identitätsstiftend erlebt. Werte wie Pflichtbewusstsein, Disziplin, Genauigkeit und Leistung sind tief verankert. Viele fühlen sich heute in ihrer Anerkennung entwertet, wenn z. B. akademische Jobs, Klimapolitik oder urbane Milieus aufgewertet erscheinen. Die AfD spricht dieses Gefühl gezielt an, indem sie etwa gegen "Gender-Unsinn" oder "Klimazwang" polemisiert und die Würde „ehrlicher Arbeit“ beschwört.
Viele Industriearbeiter*innen sind in Milieus sozialisiert, in denen Familie, Hausbesitz und Stabilität zentral sind. Rollenmuster sind häufig konservativer geprägt, besonders in männlich dominierten Berufszweigen. Wandel in Geschlechterverhältnissen oder Diversitätsdebatten wird teils als Verunsicherung der eigenen Lebensrealität empfunden. Die AfD besetzt hier die Rolle des "Wächters der Normalität" – im Kontrast zu progressiven oder akademischen Debatten.
In stabilen Arbeitsverhältnissen gewachsene Sicherheitskulturen (Tarifbindung, klare Hierarchien, planbares Leben) geraten heute unter Druck. Migration, Transformation, Globalisierung und politische Volatilität verstärken Verlustängste. Die AfD bietet scheinbar einfache Lösungen: Grenzen zu, „unser Volk zuerst“, Rückbesinnung auf eine „sichere“ Vergangenheit.
Früher war klassenbewusste Solidarität ein starker Wert (z. B. im Betrieb, in der IG Metall, in der SPD). Heute beobachten viele stattdessen soziale Konkurrenz (z. B. um bezahlbaren Wohnraum oder Arbeitsplätze mit Migrant*innen). Wenn Gewerkschaften oder linke Parteien diese Konkurrenz nicht benennen, füllt die AfD die Lücke mit völkisch-sozialer Rhetorik („Soziales nur für Deutsche“).
Die kulturellen Werte der Industriearbeiterklasse – wie Leistungsstolz, Ordnung, Heimatverbundenheit, Familienorientierung und materielle Sicherheit – werden heute von vielen politischen Akteuren nicht mehr als legitim anerkannt oder nicht aktiv vertreten. Die AfD nutzt genau diese Lücke: nicht mit realer Klassenpolitik, sondern mit kultureller Anschlussfähigkeit und autoritär-nationalen Erzählungen.
Linke Gegenstrategien – Klassen und Kulturkampf verbinden
Eine erfolgreiche Rückgewinnung von Menschen in Industrieregionen durch die Linke muss – im Sinne von Marx und Gramsci – ökonomische Klassenpolitik und kulturelle Hegemoniearbeit verbinden. Es genügt nicht, soziale Forderungen zu stellen; entscheidend ist, wie diese im Alltagsleben verankert und kulturell anschlussfähig vermittelt werden. Wer den Kulturkampf ignoriert, überlässt ihn der Rechten.
Herstellung einer Gegenhegemonie: Herrschaft zeigt sich nicht nur in Eigentumsverhältnissen, sondern auch in Erzählungen, Normen und dem, was als „normal“ gilt. Wer hegemonial ist, prägt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch, wie Menschen über Arbeit, Migration, Familie oder Zukunft denken. Die Linke muss hier eigene, positive Erzählungen entwickeln, die soziale Interessen sichtbar machen und mit Stolz und Hoffnung verbinden. Statt abstrakter Parolen braucht es konkrete Bilder: „Gute Arbeit für die Zukunft statt Manager-Boni“, „Ein neuer Werkvertrag für die Region – mit Mitbestimmung, Tarifbindung und ökologischer Transformation“ oder „Kein Kind ohne warmes Mittagessen – öffentliche Schulen statt private Elitenförderung“.
Förderung organischer Intellektueller: Hier braucht es organische Intellektuelle – also Menschen aus der Klasse selbst, die in der Lage sind, soziale Wirklichkeit in politische Sprache zu übersetzen. Beispiele sind: Eine Krankenschwester, die auf TikTok von der Überlastung im Schichtdienst berichtet – und dabei die Rolle von Privatisierung und Sparpolitik erklärt. Ein Betriebsrat eines Automobilzulieferers, der für „Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich“ kämpft und neue Produktionsideen mit seinen Kolleg*innen diskutiert. Kulturarbeiter*innen, die in Stadtteilen Theaterstücke über Entlassung, Migration oder die Geschichte von Arbeiterkämpfen inszenieren. Lokale Online-Radios oder Podcasts aus Stadtteilen, die soziale Themen mit der Lebensrealität der Hörer*innen verbinden – etwa zur Frage: „Was bringt die Wärmewende, wenn ich meine Miete nicht zahlen kann?“
Zivilgesellschaftliche Verankerung: Linke Politik darf sich nicht auf Debattenrunden oder Social Media beschränken. Sie muss dort präsent sein, wo Menschen ihren Alltag organisieren. Im örtlichen Fußballverein, wenn es um den Erhalt des Sportplatzes geht. In der Stadtteilinitiative, wenn Mieten steigen und Menschen verdrängt werden. Im Betriebsrat, wenn ein Werk geschlossen oder ein Werkvertrag ausgelagert wird. In der Elternvertretung der Kita, wenn Personal fehlt oder Gebühren steigen. Beispiel Wolfsburg: Eine lokale linke Strategie könnte etwa einen „Zukunftspakt für Industriearbeitsplätze“ fordern – gemeinsam mit Betriebsräten, nicht über ihre Köpfe hinweg. Ziel: ökologische Transformation mit tariflich gesicherten Jobs, Umschulungen, kommunaler Industriepolitik und demokratischer Mitgestaltung.
Kampf um Produktionsverhältnisse: Wer profitiert eigentlich vom sogenannten „Wandel“? Die Linke muss Ross und Reiter benennen. Profiteure wie Großkonzerne, Immobilienfonds oder Vermögensverwalter. Genauso Leidtragende wie Leiharbeiterinnen, Pendlerinnen, Menschen in prekären Beschäftigungen, vor allem im Niedriglohnsektor. Beispiel aus der Autoindustrie: Ein Elektrobatterie-Werk wird mit Subventionen gebaut – aber die alten Verbrenner-Standorte schließen. Statt fairer Übergänge entstehen neue Niedriglohn-Jobs in Tochterfirmen. Die linke Antwort: „Klimaumbau in öffentlicher Hand – mit Arbeitsplatzgarantie und Tarifbindung.“ Demokratischer Umbau statt grün lackierter Arbeitsplatzabbau.
Anerkennung von Werten und Traditionen – ohne Anbiederung: Gramsci betont: Man kann Menschen nur gewinnen, wenn man ihre Lebenswelt versteht und achtet, statt sie zu belehren. Der Stolz eines Familienvaters auf 35 Jahre Arbeit am Band ist kein „reaktionäres Traditionsbewusstsein“, sondern Ausdruck von Disziplin, Verantwortung und Würde. Eine linke Sprache, die diese Werte anerkennt, kann Brücken bauen. Die Gegenerzählung zur Rechten muss lauten, nicht „Früher war alles besser“ – sondern: „Früher war der Bus pünktlich, die Schule gut ausgestattet und der Lohn sicher. Das war nicht Heimat, das war Sozialstaat.“ In diesem Sinne: „Nicht Abschottung, sondern Solidarität bringt Sicherheit.“
Klassenbewusstsein statt Empörung: Wut allein reicht nicht. Die Aufgabe der Linken ist es, die Strukturen hinter den Problemen sichtbar zu machen. Wohnungsnot durch Privatisierung, Spekulation und fehlender Sozialwohnungsbau Pflegenotstand durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Lohnverlust entsteht aus der Schwächung von Tarifverträgen, Auslagerung sowie Leiharbeit. Verwahrloste Schulen entstehen durch Schuldenbremse und ungleiche Bildungspolitik im Föderalismus. Ziel muss es sein, Menschen zu überzeugen, dass eine kollektive Perspektive möglich ist – weg vom „Ich schau, wie ich über die Runden komme“ hin zum „Wir kämpfen gemeinsam für ein besseres Morgen“.
Organisierung als Schlüssel: Klassenpolitik muss konkret organisiert werden – z. B. durch Soziale Zentren, die Mieterberatung, politische Bildung und Kultur verbinden. Mittels Betriebsgruppen, die gewerkschaftliche Kämpfe und politische Debatten verknüpfen. Mit Linke Lokalzeitungen oder Podcasts, die nicht von außen berichten, sondern von unten erzählen. Sowie durch Politische Bildungsarbeit in einfacher Sprache, auch im Werk, im Verein, im Wartezimmer. Klassenpolitik ist keine Nostalgie. Sie ist der Schlüssel zu Gerechtigkeit, Demokratie und Solidarität – wenn sie in der Sprache und Lebenswelt der Menschen ankommt.