Die Rebellen von Recke

In Recke gibt es seit 2019 eine Basisgruppe der Linken.

Recke, im tiefschwarzen Tecklenburger Land, ist unter anderem für den politischen Aschermittwoch der CDU bekannt. Doch 2019 gründeten einige Freund*innen hier eine linke Basisgruppe und mischen seither die Lokalpolitik auf. LINKS BEWEGT sprach mit ihnen über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen und über Tipps für den Einstieg in die linke Kommunalpolitik.

Jennifer, Marvin, Tobias, Ihr habt in Recke 2019 eine Basisgruppe der Linken gegründet und seid 2020 dann bei der Kommunalwahl angetreten. Wie kam es dazu?

Jennifer Kölker: Eigentlich war ich schon immer ziemlich politisch, das Thema war bei uns in der Familie immer sehr präsent. Brisante Themen haben wir eigentlich immer beim Mittagessen ausdiskutiert. Im Selbstbewusstsein und in der Rhetorik hat mich das sicher gestärkt. 2019 habe ich dann zusammen mit Marvin beschlossen, in Recke eine linke Basisgruppe zu gründen, weil wir konkret hier vor Ort etwas verändern wollten.

Marvin Freund: Ich bin von Beruf Anlagenmechaniker Sanitär-Heizung-Klima, habe also eine ganz klassische Handwerkerlehre gemacht. Mitglied der Partei die Linke bin ich seit 2019. Als Jugendlicher war ich eigentlich gar nicht so politisch. Meine Eltern haben mir Politik damals so erklärt: „Als Arbeiter wählst du die SPD, und wenn du so willst, dass alles so bleibt, wie es ist und Christ bist, wählst du die CDU.“ Ich bin dann all die Jahre brav zur Wahl gegangen und habe bei den Sozialdemokraten mein Pflicht-Kreuzchen gemacht.

Das hat sich in dem Jahr geändert, in dem ich Vater geworden bin, das war 2018. Damals ging es ja schon los, dass die AfD in immer mehr Parlamente kam, aber auch die Fridays-for-Future-Bewegung wurde immer bekannter.

Zu diesem Zeitpunkt habe ich dann auf Social Media ein Video von Gregor Gysi gesehen, zum Thema Riester-Rente. Ich weiß gar nicht genau, warum ich das angeklickt habe, zu diesem Zeitpunkt haben mich weder die Riester-Rente noch Gregor Gysi besonders interessiert. Ich fand aber sehr gut, was er erzählt hat, vor allem, dass er sich ganz klar für die arbeitende Klasse positioniert hat. Dann habe ich begonnen, mich etwas näher mit der Linken zu befassen. Dadurch bin ich politisiert worden. Ich habe mir dann gedacht: „Jetzt musst du den Hintern vom Sofa hochkriegen und was machen.“

Jenny hat zum gleichen Zeitpunkt ihr Haus gebaut, und ich habe mitgeholfen. Wir haben dann besprochen, was wir tun könnten, und haben 2019 die Basisgruppe gegründet. 2020 sind wir bei der Kommunalwahl angetreten und Jenny wurde in den Gemeinderat gewählt. Ich bin als sachkundiger Bürger im Ausschuss für Schulen, Soziales, Ordnung und Kultur vertreten. Zudem bin ich sachkundiger Bürger im Kreistag, im Schul- und Umweltausschuss.

Tobias Caris: Mein Weg zu den Linken war, dass irgendwann im Jahr 2020 mein Telefon geklingelt hat und Jennifer dran war. Sie war auf der Suche nach Wahlkreiskandidaten und meinte, dass sie mich dafür braucht. Da kann man dann nicht nein sagen. Nach dem Kommunalwahlkampf bin ich 2021 auch in die Partei eingetreten. Später bin ich als Nachrücker in den Bauausschuss unserer Gemeinde gekommen, als sachkundiger Bürger. Den Fraktionsstatus haben wir bei der Gemeinderatswahl übrigens um sechs Stimmen verpasst. Jeder von uns kennt sechs Leute, die nicht zur Wahl gegangen sind. Das ist wirklich schade und zeigt, wie wichtig es ist, zur Wahl zu gehen.

Bevor Ihr 2019 losgelegt habt, gab es da irgendwelche Parteistrukturen bei Euch vor Ort?

Jennifer: Hier in Recke gab es keine Partei mit einer politischen Richtung, bei der wir uns wiedergefunden hätten. In Ibbenbüren gibt es einen Ortsverband, der uns bei den Behördengängen geholfen hat. Ich glaube, dass wir allein für den Schritt, das zu machen und uns das zu trauen, viele Stimmen bekommen haben. Weil wir etwas Neues waren und etwas frischen Wind in die Lokalpolitik gebracht haben.

Wie sah die politische Landschaft in Recke denn aus, bevor Ihr aufgetaucht seid?

Tobias: Recke selbst ist sehr schwarz. Die Gemeinde ist ländlich geprägt, die CDU ist meist recht nah an der absoluten Mehrheit, die SPD eher abgeschlagen. In unserem kleinen Gemeinderat ist es so, dass die beiden aber Hand in Hand gehen. Ich spreche da gerne der Einfachheit halber von der SPDU. Die Verkehrsanbindung, abgesehen vom Mittellandkanal, ist nicht so gut. Wir haben hier keine Autobahn und keine Bundesstraße in der Nähe und deshalb auch wenig Industrie und eher mittelständische Gewerbebetriebe, mit entsprechend geringeren Einnahmen für die Kommune.

Jennifer: Bevor wir angefangen haben, gab es die CDU, KBR (Kommunalbündnis Recke), SPD und die FDP.

Ist Eure Position als Linke im Rat manchmal schwierig?

Tobias: Aber hallo!

Marvin: Ja, durchaus. Als wir in den Rat gewählt wurden, hatten wir uns eigentlich erhofft, dass wir eine soziale Mehrheit haben, zusammen mit dem KBR und der SPD. Denn mit diesen beiden Fraktionen hätten wir eigentlich eine Stimme mehr gehabt als CDU und FDP. Leider sieht die Realität anders aus.

Uns wurde auch schon Populismus vorgeworfen, zum Beispiel, nachdem wir beantragt hatten, dass Recke sich dem Bündnis Seebrücke anschließen soll. Solche Sachen gab es in der Vergangenheit eben in Recke nie.

Tobias: Alles, was als links gilt, wird eigentlich per se abgelehnt. Die Initiative zur Seebrücke wurde am 18. März mehrheitlich abgelehnt. Am 19. März haben die SPD, CDU und FDP einen nahezu gleichen Antrag, außer dem Beschlusspunkt zum Beitritt der Seebrücke, eingebracht. Man muss schon sagen: Das ist eine verrückte Welt!

Jennifer: Vor Ort haben wir auf jeden Fall einen guten Ruf, weil wir ein wenig bissiger sind und Dinge ansprechen, an die sich die anderen nicht rantrauen. Dinge wie unser Antrag für die Ausgabe von Menstruationsmitteln, das haben manche alten weißen Männer, die dort im Rat sitzen, gar nicht auf dem Schirm. Da sage ich dann auch ganz offen: Ihr seid alle nicht betroffen.

Ein weiteres Beispiel ist unser Antrag für beleuchtete Kellen für die Schülerlotsen. Wir haben den Antrag ursprünglich gestellt, weil in Recke morgens ein Kind angefahren wurde. Der Fahrer hat den Schülerlotsen nicht gesehen – mit einer leuchtenden Kelle wäre das höchstwahrscheinlich nicht passiert. Wir haben dann eben beantragt, dass für die Schülerlotsen solche beleuchteten Kellen angeschafft werden. Das wurde von der Verwaltung geprüft und mit dem Argument abgelehnt, dass solche Geräte der Polizei und der Berufsfeuerwehr vorbehalten seien, noch nicht einmal die freiwillige Feuerwehr dürfe solche Kellen verwenden.

Das kam mir wie ziemlicher Quatsch vor. Was soll das Problem sein, dass die Schülerlotsen dann zu gut gesehen werden? Wir hatten aber sogar Sympathien für den Antrag bei den anderen Parteien, weil zum Beispiel ein Mitglied des Rates Schülerlotse ist, dennoch wurde der Antrag abgelehnt. Wir haben uns dann damit aber nicht zufriedengegeben und an den Petitionsausschuss des Landtags geschrieben. Eine Woche später hat der Petitionsausschuss getagt und uns recht gegeben. Manchmal braucht man diese Terrier-Taktik, man muss sich festbeißen und nicht loslassen.

Tobias: Von den Schülerlotsen bei mir vor Ort habe ich dafür ausnahmslos positives Feedback bekommen. Leider hat es diesen Beinahe-Unfall gebraucht, um die Leute aufzurütteln. Es gibt Beispiele dafür, dass am Ende von Sitzungen noch schnell Beschlüsse über 100.000 Euro gefällt werden, aber über diese Kellen, die nur wenige hundert Euro gekostet haben, haben wir langatmig diskutiert und am Ende mussten wir vor den Petitionsausschuss. Ein Hygieneartikel-Spender kostet im Jahr ca. 600 Euro, darüber gibt es riesige Diskussionen. Ich sage oft: Frage nicht nach 10 Euro, frage nach einer Million, dann geht es auf einmal.

Marvin: Ich glaube, das war von unserer Seite aus ein richtig gutes Signal. Wir waren ja politische Neulinge und hatten niemanden mit jahrzehntelanger Ratserfahrung. Die haben sich wahrscheinlich gedacht: „Die kleinen Linken, brauchen wir nicht ernst nehmen.” Ich glaube, damit haben wir Kompetenz bewiesen.

Jennifer: Das Beispiel zeigt einfach sehr klar, das linke Kommunalpolitik sehr schwierig ist. Du musst immer mehr geben und mehr kämpfen als alle anderen. Man denkt sich: Das ist doch richtig so, das ist doch ein Antrag, den kann man doch nicht ablehnen. Und trotzdem finden sie dann irgendwas, um uns Steine in den Weg zu legen, obwohl wir letztendlich ja alle das Beste für die Gemeinde Recke wollen.

Tobias: Der meiste Gegenwind, den wir bekommen, ist inhaltlich vollkommen unbegründet. Das, was wir vorschlagen, hat eigentlich alles Hand und Fuß und ist auch keine Utopie. Ich meine, da ist auch sicherlich manchmal etwas Wunschdenken dabei, aber das ist nicht das Gros der Anträge oder der Wortmeldungen von uns. Wir machen einfach substantielle, sozial ausgerichtete Arbeit.

Werdet Ihr eher als Kommunalpolitiker*innen wahrgenommen oder als Mitglieder der Partei? Spricht man Euch häufig auf die Bundes- und Landespolitik an?

Marvin: Ich bin ja Heizungsbauer, komme daher sehr viel rum und fahre etliche Haushalte bei uns in der Gemeinde ab. Die Leute, die die Linke auf Bundesebene nicht abkönnen, erreicht man auch auf kommunaler Ebene eher nicht. Aber es gibt schon einige Leute, die sehr interessiert sind und unsere Arbeit hier vor Ort verfolgen. Die fragen dann eher besorgt um die Linke, zum Beispiel, was jetzt eigentlich im Bundestag los ist und wie es mit der Fraktion weitergeht.

Ich denke, die Kommunalpolitik wird schon anders wahrgenommen als die Bundespolitik. Aber wir profitieren schon, wenn es „oben“ besser läuft. Auch auf der kommunalen Ebene gilt man dann eher als wählbar. Ich habe auch schon mal die Frage bekommen: „Marvin, du bist doch ein netter Kerl, warum bist du nicht bei der SPD?“. Dann habe ich gesagt: „Na ja, weil ich ein netter Kerl bin.“ Aber wenn wir etwas beantragen, gibt es häufig positives Feedback.

Jennifer: Hier vor Ort sind wir Personen des öffentlichen Lebens und werden auch von der Bevölkerung auf unsere politische Arbeit angesprochen. Mit nur drei Personen in den Ausschüssen ist die Menge der Anfragen manchmal nicht leicht zu schultern. Die CDU hätte theoretisch ein Vielfaches an Leuten, auf die sie die Arbeit verteilen könnten. Dass die Bürger*innen trotzdem auf uns zukommen, ist auch eine Form der Auszeichnung. Sie wissen, dass man mit uns einfach so reden kann und dass wir kein Geklüngel machen.

Welche Themen haben Euch in letzter Zeit noch beschäftigt?

Marvin: Aktuell ist das die Elternbeitragssatzung für die Mittagsbetreuung an unseren Grundschulen. Darüber habe ich mich wahnsinnig aufgeregt. Dazu hatte die Verwaltung eine soziale Staffelung vorgeschlagen, wenn auch mit einem Pauschalbeitrag von 10 Euro pro Monat für die unteren Einkommensklassen, mit der Begründung, sonst würden sich die Besserverdiener darüber aufregen, dass finanziell Schwächere alles umsonst kriegen. Da habe ich mich dann zu Wort gemeldet und gesagt, dass das völlig falsch ist. Gerade bei den Einkommensschwächsten einfach so aus Prinzip 10 Euro abzuzwacken, geht an deren Lebensrealität völlig vorbei. Diese Leute müssten wir eigentlich entlasten.

Jetzt hat man sich am Ende statt auf eine soziale Staffelung auf einen Pauschalbeitrag von 50 Euro für alle Eltern in Recke geeinigt. Das ist für eine alleinerziehende Mutter viel, viel zu hoch. Das Problem ist einfach, dass hier im Rathaus viel zu wenige Menschen sitzen, die armutsbetroffen sind oder auch nur ein Gespür dafür haben, was es bedeutet, sich am Ende des Monats Gedanken zu machen, wie man die Butter in den Kühlschrank bekommt.

Ein weiteres Beispiel ist ein Antrag von uns, dass an den Mülleimern Pfandflaschenringe für das Pfandgut angebracht werden, damit Flaschensammler, die sich so ihr Einkommen aufbessern müssen, nicht mehr gezwungen sind, im Müll zu wühlen und dabei das Risiko einzugehen, sich zu verletzen.

Ich hatte das bei uns in der Gemeinde beobachtet und mit einem anderen Genossen darüber gesprochen, was man da machen könnte. Er ist dann auf die Idee mit den Pfandringen kommen. Wir haben das dann beantragt, damit Menschen die Scham erspart bleibt, im Müll zu wühlen. Wir hätten in Recke vielleicht vier oder fünf Pfandringe gebraucht, das hätte wahrscheinlich ein paar hundert Euro gekostet. Aber der Antrag wurde mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt. Das hat mir nochmal gezeigt, dass es im Ausschuss niemanden außer uns gibt, der für die Schwächsten in der Gesellschaft seine Stimme erhebt. Über Politikverdrossenheit braucht man sich dann nicht mehr zu wundern. Die armutsbetroffenen Menschen haben keine Lobby, und ich bin der Meinung, dass es unsere sozialpolitische Verantwortung ist, das immer wieder anzusprechen.

Auch der Neubau der Grundschule beschäftigt uns gerade. An sich ist das keine schlechte Sache, denn unsere Overberg-Schule ist sehr in die Jahre gekommen. CDU, SPD und FDP fordern einen Neubau. Dagegen ist erst mal nichts einzuwenden. Auch wir wünschen uns eine gute Schule und ein angenehmes Lernumfeld für die Kinder.

Aber im Moment ist noch nicht klar, ob dabei eine Lösung angestrebt wird, bei der ein privater Investor das Gebäude als Teil einer Öffentlich-Privaten-Partnerschaft baut, weil die Gemeinde so klamm ist. Wenn wir unsere Schule auf diese Weise privatisieren, weiß ich nicht, wie wir als Linke da mitgehen sollen. Dadurch verlören wir entscheidende Gestaltungsmöglichkeiten: Wenn es beispielsweise, wie in der Corona-Pandemie, zu einer Situation kommt, in der Luftfilteranlagen an den Schulen eingebaut werden sollen, haben wir, was Umbauten am Gebäude angeht, als Kommune kein Recht auf demokratische Mitbestimmung mehr.

Tobias: Was uns sehr am Herzen liegt, ist Transparenz bei Abstimmungen. Wir wollen namentliche Abstimmungen, die protokolliert werden. Dadurch müssten die Leute persönlich für ihr Abstimmungsverhalten einstehen. Ansonsten heißt es nämlich häufig: „Das war die Partei, da kann ich nichts dafür!“

Auch achten wir – gefühlt als einzige Partei – sehr darauf, dass wir uns als Gemeinde wirtschaftlich nicht übernehmen. Natürlich hätten wir auch gerne eine neue Schule, eine bessere Dorfkernbegrünung, etc. Aber die finanzielle Situation der Gemeinde ist sehr fragil. Da geht es zum Beispiel um Parkplätze, die nur an ein paar wenigen Tagen im Jahr wirklich benötigt werden. Dafür große Fläche zu versiegeln, leuchtet uns einfach nicht ein. Bei vielen Leuten herrscht noch das Denken vor, überall mit dem Auto direkt vor jedes Fachgeschäft fahren zu wollen. Dafür haben wir aber keinen klassischen Dorfkern, wo man sich mal treffen, sich hinsetzen und etwas lesen oder einen Kaffee trinken könnte. Das ginge zwar, aber dafür müsste man zehn Parkplätze opfern.

Jennifer: Wir sind in die Partei eingetreten und haben dann einfach mal losgelegt. Ich habe damals über meinen Vater etwas mitbekommen, wie Kommunalpolitik so läuft. Wir wollten dem Gemeindejugendring, der wegen der Corona-Pandemie kein Zeltlager veranstalten konnte, etwas aushelfen und haben einen entsprechenden Antrag gestellt. Die CDU war dann davon etwas überrumpelt. Ich denke, sie haben sich hauptsächlich daran gestört, dass sie das nicht selbst beantragt haben. Aber eigentlich war das ein weiterer Antrag, den man nicht ablehnen konnte.

Tobias: Marvin kümmert sich auch sehr stark um das Thema Barrierefreiheit. Es gibt bei uns einen Freizeitpark, der regional sehr beliebt ist. Es gibt dort aber keine öffentliche Toilette vor Ort und der Park ist nur bedingt barrierefrei. Eine Arbeitsgruppe hat 47 mal zum Thema Freizeitpark getagt: Aber die Barrierefreiheit hatte wohl nicht genug Priorität.

Marvin: Wir haben bei uns in der Nachbarschaft mehrere Altglascontainer stehen. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, wohnt eine Familie, bei der beide Eltern im Rollstuhl sitzen. Sie haben aber wegen der fehlenden Absenkung des Bürgersteigs keinen direkten Zugang dazu. Diese Menschen schauen jeden Tag aus dem Küchenfenster und sehen gescheiterte Inklusionspolitik. Ich wurde von ihnen angesprochen, ob man da nicht was machen könnte.

Ich habe mich dann mit der Familie getroffen und das Thema in den Ausschüssen mehrfach angesprochen. Eines Tages wurde der Bordstein dann abgesenkt. In diesem Zusammenhang haben wir mit dem KBR dann auch einen Antrag gestellt, dass es in Recke einen Inklusionsbeauftragten geben soll. Wir suchen aktuell noch nach der richtigen Person für das Amt, allerdings gibt es bereits einen „Runden Tisch Inklusion“. Ohne unsere Initiative hätte es das wahrscheinlich nicht gegeben.

Welche Tipps würdet Ihr Leuten geben, die bei sich vor Ort linke Parteistrukturen aufbauen oder in der Kommunalpolitik aktiv werden wollen?

Marvin: Es ist auf jedenfalls sehr hilfreich, wenn man sich auch außerhalb der Politik irgendwo engagiert, sei es im Karnevalverein, im Fußballverein, im Schützenverein, im Kultur- oder Musikverein und auch dort präsent ist, auch wenn das natürlich mit sehr viel zusätzlichem zeitlichen Aufwand verbunden ist. Es ist definitiv von Vorteil, wenn man sich nicht nur auf die Kommunalpolitik beschränkt, sondern auch so unter die Leute kommt, in Kontakt bleibt und ein offenes Ohr hat. Man braucht auf jeden Fall einen langen Atem und muss sich gut vernetzen.

In Recke selbst hatten wir zwar gar keine Strukturen, aber hatten mit einem funktionierenden Ortsverband in Ibbenbüren immerhin schon Leute, die uns grob sagen konnten, was wir beachten mussten. Der bürokratische Aufwand, bei einer Kommunalwahl anzutreten, ist enorm.

Als Linker muss wirklich für die Sache brennen und fest an das Gute glauben, und daran, dass es eine Welt ohne den Kapitalismus geben kann, obwohl das auf kommunaler Ebene natürlich nicht zu erreichen ist. Ansonsten hält man das nicht durch. Aber ich persönlich brenne für Kommunalpolitik. Ich würde den Leuten vor allem raten: Dran bleiben und ehrgeizig sein!

Jennifer: Wichtig ist auch, dass sich das politische Team gut versteht, da haben wir einfach Glück. Man muss nicht immer einer Meinung sein, und es ist auch richtig, dass innerhalb der Partei verschiedene Ansichten zu Wort kommen. Am Ende ist wichtig, dass man in der Lage ist, Pro und Kontra zu sehen und auf einen Nenner zu kommen. Und man muss Spaß bei der Sache haben.

Man bekommt in der Kommunalpolitik nichts geschenkt, weiß Gott nicht. Wenn man eine Basisgruppe gründen will – das muss man ehrlicherweise sagen – dann gehört da Engagement und Ehrenamt dazu. Ich denke, das ist auch der Grund, warum wir im ländlichen Raum nicht mehr so gut aufgestellt sind: Den Jüngeren fehlt einfach die Zeit, weil sie oft neben dem Studium arbeiten müssen, oder in der Ausbildung stecken.

Als wir in die Partei eingetreten sind, hat jeder von uns gleich eine Menge Posten bekommen, auch, weil es auf die Landtagswahl zuging. Wir waren dann jedes Mal sehr blauäugig und haben gesagt: „Na klar, machen wir!“ Man muss die Leute aber an diese Dinge heranführen und ihnen klarmachen, dass das kein Zuckerschlecken ist. Aber umso besser ist es, wenn man dann die kleinen Erfolge im Alltag sieht. Wenn man es schafft, dass jetzt in ganz NRW Schülerlotsen Leuchtkellen haben, dann ist das toll. Man hat das Gefühl: „Das haben wir jetzt geschafft, weil wir dran geglaubt haben.“ Dieses Gefühl ist unbeschreiblich.

Tobias: Ich kann nur allen wirklich raten, in die Linke einzutreten und bei sich in der Gemeinde oder Stadt eine Basisgruppe aufzubauen. Man stößt auf viele offene Türen. Gerade Haustüren. Einfach bei den Leuten zu klingeln ist gewöhnungsbedürftig und man muss auch ein bisschen der richtige Charakter dafür sein, aber nach zehn oder zwanzig Mal fällt es schon deutlich leichter, sich in seinem Wahlbezirk vorzustellen oder am Infostand auf der Straße zu stehen.

Ich habe es tatsächlich nur einmal erlebt, dass jemand keine Lust auf ein Gespräch hatte und einfach die Tür zugemacht hat. Viel häufiger ist, dass die Leute einem interessiert entgegentreten. Es kommt dann auch oft vor, dass man lebhafte Diskussionen führt, was auch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Aber dafür gibt es dann auch mal einen Kaffee oder ein Bier. Ich glaube, für uns als Partei ist der direkte Kontakt zu den Menschen fast der einzig gangbare Weg vorwärts.

Auf der kommunalen Ebene werden definitiv eher die Köpfe gewählt, nicht die Themen. Wenn man seine Ideen überzeugend rüberbringt und zum Beispiel anspricht, dass die Elternbeiträge für die Übermittagsbetreuung gestiegen sind, weil die anderen Parteien dafür gestimmt haben, kann man sich sehr viel Glaubwürdigkeit erarbeiten. Damit kann man erklären, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist, und dass wir eigentlich noch viel mehr erreichen und vieles anders machen wollen. Und dass wir dafür vor allem alle fünf Jahre die Stimmen der Leute brauchen.

Wenn das dann von hundert Menschen nur sieben, acht, oder neun machen, weil ihnen vielleicht vorher gar nicht bewusst war, dass es in Recke auch eine Linke gibt, hat man schon sehr viel erreicht. Die Bürger*innen sind auch sehr dankbar dafür, dass man sich bei ihnen erkundigt. Ich würde fast behaupten: Nur so geht es, gerade in einem dörflichen Umfeld wie bei uns.

Marvin: Es ist wichtig, dass man authentisch und ehrlich ist. So kommt man bei den Leuten sehr viel besser rüber, als wenn man sich eine Maske aufsetzt und als „typischer Politiker“ auftritt. Gerade bei uns auf dem Land kommt das gar nicht gut an.

Hattet Ihr außer den Genoss*innen in Ibbenbüren und der eigenen Familie noch Vorbilder, von denen Ihr lernen konntet? Habt ihr zum Beispiel an Workshops der Partei teilgenommen?

Marvin: Eigentlich hatten wir uns mit dem Vorstand für einen Workshop angemeldet, dann kam die Pandemie dazwischen. Zu dem Zeitpunkt, als wir das geplant hatten, gab es da auch noch keine Alternative auf Zoom oder Ähnliches, das kam alles erst später. Überhaupt hat die Pandemie den ganzen Wahlkampf und den Beginn unserer Arbeit im Rat und in den Ausschüssen sehr geprägt. Wir haben uns das alles selbst erarbeitet.

Am Anfang kann man da schon häufig mal in ein Fettnäpfchen treten. Aber man lernt mit der Erfahrung. Wenn man in eine vorhandene Fraktion eintritt, wird man von einem älteren Parteikollegen an die Hand genommen, setzt sich neben ihn und hält erst mal den Mund. Das hatten wir natürlich nicht. Jenny im Rat und ich im Schul- und Sozialausschuss mussten das alles von Anfang an selbst machen.

Was wünscht Ihr Euch als Kommunalpolitikerin und Kommunalpolitiker von der Bundes- und Landespolitik? Und was wünscht Ihr Euch als Linke von unserer Partei?

Jennifer: Es ist ganz wichtig, dass die Kommunen entlastet werden und dass man den ländlichen Raum im Auge behält. Gerade das Thema öffentlicher Personennahverkehr ist hier sehr wichtig. Als Ratsfrau kann ich sagen, dass den Kommunen finanziell sehr viel aufgebürdet wird und dass uns das wirklich das Genick bricht. Überhaupt sollte häufiger nach unten geschaut werden, wie es den Leuten vor Ort und an der Basis eigentlich geht. Meiner Meinung nach sollte jeder Politiker und jede Politikerin, die im Bundestag sitzt, auch mal Kommunalpolitik gemacht haben, damit sie weiß, wovon sie spricht. Von meiner Partei wünsche ich mir, dass wir noch mehr zusammenwachsen, dass wir mehr mit einer Stimme sprechen und uns wieder etwas mehr liebhaben.

Tobias: Da bin ich d’accord. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Marvin: Ich habe das Gefühl, dass wir als Partei schon sehr eng zusammengerückt sind. Ich finde, wir treten jetzt sehr viel einheitlicher auf, jetzt ist es nur noch entscheidend, dass wir mit unseren Themen medial durchdringen.

Ich habe mich heute wieder wahnsinnig über die Bild-Zeitung geärgert. Ein Arbeitskollege hat mir einen Link geschickt, dass die Linke in einem „Gaga-Vorstoß“ die Vier-Tage-Woche und ein Verbot von Stress gefordert hätte. Ich finde aber, dass die Themen, die aktuell von unserer Partei gesetzt werden, unheimlich gut sind. Zum Beispiel die Forderung nach kostenlosen Brillen alle drei Jahre. Auch den Vorstoß zur Vier-Tage-Woche finde ich wahnsinnig gut, weil damit die richtigen Leute entlastet werden: Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Menschen mit einem geringen Einkommen, das sind die Menschen, für die wir Politik machen.

Wie geht es weiter für die Linke in Recke?

Tobias: Wir hatten vor kurzem ein Basisgruppentreffen und sind zu dem Schluss gekommen, dass, wenn wir die Linke stärken und Stimmen hinzugewinnen wollen, wir vor allem verstärkt die Jugend ansprechen wollen. Viele interessieren sich leider kaum für Kommunalpolitik, weil sie der Meinung sind, dass dort nichts passiert. Wobei man unserer Meinung nach hier den größten alltäglichen Einfluss hat.

Für den Kommunalwahlkampf im nächsten Jahr, aber auch für den Europawahlkampf, haben wir unsere politischen Schwerpunkte und uns selbst schon in verschiedenen Jugendheimen vorgestellt. So kamen wir mit den Leuten ins Gespräch.

Es gibt gerade im sozialen Bereich viele Punkte, wo man als Gemeinderat für die Jugendlichen und junge Familien viel tun kann: Nachmittagsbetreuung, Schulgeld, gerechte Kitagebühren. In den Räten sitzen nicht selten Besserverdiener, die das eher nicht betrifft und die mitunter einfach den Blick dafür nicht haben. Auch bei uns in der Gemeinde fällt daher das Soziale massiv hinten runter.

Auf jeden Fall gilt: Die Linke Recke ist da, die Linke Recke hat Bock, und die Linke Recke wird es, wenn es nach uns geht, auch noch die nächsten Jahrzehnte geben.

Jennifer, Tobias, Marvin, ich danke Euch für das Gespräch!

 

 

 

 

Das Interview führte Julian Alexander Hitschler.