Darum ist "Air Defender 23" so gefährlich

Heizt die Klimakrise weiter an und bringt keine Sicherheit: Air Defender 23

Air Defender 23 – so nennt die Nato ihre bislang größte Verlegeübung von Luftstreitkräften, die seit dem 12. Juni in Deutschland stattfindet. Allein 100 US-Kampfflugzeuge der Typen F15, F16, und F35 werden in hoher Geschwindigkeit über den Atlantik verlegt, ebenso wie einige Transport- und andere unterstützende Flugzeuge. Insgesamt nehmen rund 10.000 Soldat*innen sowie annähernd 240 Flugzeuge an dem Manöver teil. Das zweitgrößte Kontingent hinter der US-amerikanischen stellt dabei die deutsche Luftwaffe mit 64 Luftfahrzeugen. Das Manöver wird bis 23. Juni in drei ausgewiesenen Übungsräumen, vornehmlich über deutschem Luftraum, stattfinden, wobei der Großteil der Flugbewegungen über der Nord- und zum Teil der westlichen Ostsee erfolgen soll. Der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, betonte schon vor Wochen, dass die Übung einen rein defensiven Charakter habe. Es gehe nicht darum, eine kommunikative Botschaft nach außen zu senden, die Übung richte sich vor allem nach innen, um der Bevölkerung zu zeigen, dass die Nato-Streitkräfte schnell zur Verteidigung des Bündnisses fähig sind.

Deutsche Truppen wären die ersten im Kampfgebiet
 

Die Zahl der teilnehmenden Staaten sei im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine allerdings deutlich gewachsen, so Gerhartz weiter. Am Manöver nehmen nun 25 Staaten teil, neben Nato-Mitgliedsländern auch enge Verbündete der Nato. Bereits 2018 hatte die deutsche Seite dem Pentagon unter dem Eindruck der russischen Krim-Annexion ein solches Manöver vorgeschlagen, so der Generalleutnant. Deutschland wäre im Falle einer Krise in Europa der »First Responder«, also jener Staat, dessen Truppen als erste zum Kampf in den Krisenherd verlegt würden. Die US-Truppen würden ihnen in einem solchen Szenario folgen. In diesem Sinne schließt Air Defender 23 an die Logik der Defender-Übungen der letzten Jahre an, die vornehmlich mit Heerestruppen durchgeführt wurden. Und diese wiederum folgten auf die sogenannten Reforger-Übungen aus den Zeiten des Kalten Krieges. Unter diesem Namen, ein Akronym für »Return of Forces to Germany«, wurde damals die Verlegung von großen Truppenkontingenten in die Bundesrepublik geübt. Damit bereiteten sich die Nato-Staaten auf eine mögliche Invasion Mittel- und Westeuropas durch Streitkräfte des Warschauer Vertrages vor.

Was macht Air Defender 23 so einzigartig?


Obwohl Air Defender 23 die größte Luftverlegeübung seit Gründung der Nato ist, hat diese in früheren Zeiten und auch in der jüngeren Vergangenheit, bezogen auf die Gesamtstärke des eingesetzten Kriegsgeräts, weit größere Manöver durchgeführt. An Reforger 88 (im Jahr 1988) etwa nahmen fast 125.000 Soldat*innen teil. Auch an Defender 2021 nahmen 28.000 Soldat*innen und damit fast dreimal so viele teil wie in diesem Jahr. Mit dem Großmanöver sollte damals die schnelle Verlegung massiver Truppenverbände von Osteuropa Richtung Westbalkan und Südeuropa trainiert werden. Allein in der albanischen Hafenstadt Durrës wurden in diesem Rahmen über 1.000 US-Militärfahrzeuge angelandet. Air Defender 23 ist also nicht einmal annähernd »die größte Nato-Übung aller Zeiten«. Allerdings sticht eine Besonderheit hervor: Bis dato gab es keine großen alleinstehenden Luftwaffenmanöver, vielmehr trainierten die Luftstreitkräfte ihre Einsatzfähigkeit stets im Kontext der großen Gesamtmanöver wie Reforger oder Defender, zusammen mit den anderen Teilstreitkräften, wie Heer oder Marine.  Eine alleinstehende Luftwaffenübung von dieser Größe ist ein Novum. Auch Luftverlegeübungen im Rahmen der teilstreitkräfteübergreifenden Manöver waren in der Vergangenheit kleiner, zudem ging es primär um Transportflugzeuge. Bei Air Defender 23 stehen einerseits Kampfflugzeuge im Vordergrund, andererseits soll die Verlegung dieser Kräfte binnen weniger Tage geprobt werden, was mit schweren Heeresverbänden kaum machbar ist.

Die Rückkehr der Massenarmeen
 

Über die Frage, warum also die Luftstreitkräfte gerade jetzt eine ungewöhnlich große und aufwändige Übung durchführen, lässt sich ohne Insiderwissen nur spekulieren – das aber zumindest gründlich: Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die auf Wehrpflicht basierenden fordistischen Massenheere durch verkleinerte Streitkräfte abgelöst. Sogar Russland folgte diesem Trend der Verkleinerung, wenngleich inkonsequenter als die Nato-Mitgliedstaaten. Kleinere Streitkräfte galten als flexibler, wenn es um sogenannte Auslandseinsätze ging, die die damals neue unipolare Weltordnung quasi polizeilich stabilisieren sollten. Die Hoffnungen der Militärplaner*innen, den Auslandseinsätzen mit dem Paradigma der kleinen flexiblen Armeen eine neue Grundlage zu verschaffen, erfüllten sich gleichwohl nie zufriedenstellend. Mit der Rückkehr der klassischen Staatenkonkurrenz seit den späten 2000er Jahren und dem großen Landkrieg in der Ukraine, dessen Frontlänge allein 1.200 Kilometer beträgt, ist dieses Paradigma vollends obsolet geworden. Bis zur Rückkehr zur großen Massenarmee ist es im Westen politisch und vor allem praktisch-organisatorisch noch ein weiter Weg. Die nach 1990 zu Manufakturen transformierten westlichen Rüstungsindustrien fahren unter großen Mühen ihre Produktion hoch, um den Bedarf der ukrainischen Streitkräfte zu decken. Trotz Milliardeninvestitionen ist die Errichtung großer Streitkräfte binnen kurzer Zeit in der heutigen Konstellation nicht realisierbar.

Die Nato will ein Signal der Stärke
 

Allerdings besitzt die Nato weiterhin die Stärke des »Poolings« von nationalen Streitkräften zu großen Verbänden. Die Verlegung von Streitkräften ist dafür die Schlüsselfähigkeit schlechthin. Zudem sendet die Nato mit der aktuellen Übung das Signal, dass sie trotz der Inanspruchnahme durch die militärische Unterstützung der Ukraine weiterhin über hinreichende Mittel für große Manöver verfügt. Die Durchführung des seit 2018 geplanten Air-Defender-Manövers ist also auch ein Schritt, um sich in der Konstellation der offenen geopolitisch-militärischen Konkurrenz zu positionieren. Amy Gutmann, Botschafterin der Vereinigten Staaten in Deutschland, wurde auf einer Pressekonferenz der deutschen und der US-Luftwaffe in Berlin deutlich: Sie wolle die Übung auch als ein Signal der Stärke der Nato gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verstanden wissen, gab sie zu Protokoll. Zurzeit sind die Luftstreitkräfte der Nato-Staaten für derartige Manöver außerdem in besonderer Weise prädestiniert: Da die Landstreitkräfte durch die Ringtausche erheblich in die Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte eingebunden sind, ist ihr Bestand an rasch verfügbaren Waffensystemen für große Manöver reduziert. Hinzu kommen die logistischen und organisatorischen Aufgaben, die sie in diesem Kontext zu bewältigen haben. Die Luftstreitkräfte sind zumindest bislang vergleichsweise wenig in die Unterstützung der Ukraine eingebunden. Zwar haben einige östliche Nato-Staaten ihre MiG-29-Jäger an die ukrainischen Streitkräfte abgegeben, und die Lieferung älterer F-16-Flugzeuge aus US-Produktion ist gerade in Vorbereitung, doch dies betrifft vor allem Dänemark und die Niederlande. Und auch wenn wahrscheinlich noch weitere Staaten Teile ihrer F-16-Bestände zur Verfügung stellen werden, beginnt der Transfer der F-16 nicht unmittelbar, sondern zunächst mit einem langwierigen Ausbildungsprogramm. In anderen Worten: Im Gegensatz zu den Landstreitkräften wurden bei der Luftwaffe bislang kaum konventionelle Fluggeräte abgegeben. Hinzu kommt, dass das Gros der an der Übung beteiligten Flugzeuge von den USA und Deutschland gestellt wird, die bislang keine Lieferung von Jets an die Ukraine angekündigt haben.

Air Defender vergrößert Deutschlands Gewicht im Bündnis
 

Für die deutsche Luftwaffe dürfte – neben dem gemeinsamen Üben ihrer Eurofighter zusammen mit den hergebrachten amerikanischen F-15- und F-16-Jets – vor allem die Interaktion mit den relativ neuen F-35 von hohem Interesse sein. Von diesen beschafft sie im Rahmen des 100-Milliarden-Euro-Sondervermögens 35 Stück. Auffällig ist aber auch das hohe Maß an deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit. Beide Staaten stellen zwei Drittel der beteiligten Flugzeuge. Für die Luftwaffe bedeutet Air Defender 23 also auch einen Gewinn an politischem Gewicht im transatlantischen Bündnis und relativ zu den anderen Teilstreitkräften der Bundeswehr. Nicht zuletzt hat es dort Stimmen gegeben, die die 35 bestellten F-35-Jets als zu wenig betrachten, um den Bedarf der Bundeswehr zu decken. Solche Stimmen bekommen im Kontext der Anforderungen großer Manöver tendenziell Aufwind. Verglichen mit den britischen und französischen Luftstreitkräften ist die bundesdeutsche Luftwaffe bislang relativ schwach aufgestellt. Allerdings wird die »Dimension Luft« im Sondervermögen überproportional berücksichtigt. Air Defender 23 dürfte dieser Aufwertung der deutschen Luftwaffe nun weiter Vorschub leisten

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Webseite von "Analyse und Kritik - Zeitung für linke Debatte und Politik".  https://www.akweb.de/