Debatte

Besser werden im demokratischen Klassenkampf

Eine Replik auf den Debattenbeitrag "DIE LINKE braucht einen Klassenkompass"

Versuch einer Verständigung über die Frage, ob wir "die Arbeiter:innen" und die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit aus den Augen verloren haben, und wie es besser geht. Eine Replik von Thomas Goes auf den Debattenbeitrag "DIE LINKE braucht einen Klassenkompass" von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter.

Lieber Jan, liebe Susanne und Ulrike,

ihr habt einen Text vorgelegt, in dem ihr euch mit der Krise der LINKEN befasst. Im Prinzip könnten es auch drei Texte sein, jedenfalls geht ihr eigentlich drei Fragen in der Kürze nach, auf die ihr drei relativ starke eigene Antworten gebt. Ich schreibe euch auf ein verhältnismäßig kurzes Papier eine relativ lange Antwort. Weil mir die Verständigung wichtig ist, und zur Verständigung gehört auch Erklärung.

Ich will darum auch meinen Standpunkt offenlegen: Ich bin ver.di-Mitglied, als Studierender habe ich in einer PDS-nahen Hochschulgruppe mitgemacht, die gewerkschaftlich orientiert war, also auch die Reproduktionsinteressen von Studierenden politisieren und das Bündnis mit Gewerkschaften suchen wollte. Später habe ich für den DGB gewerkschaftliche Studierendenarbeit gemacht, heute arbeite ich als Industrie- und Arbeitssoziologe. Ich habe Erfahrungen mit eigenen betrieblichen Konflikten, ich habe betriebliche Auseinandersetzungen unterstützt, vor einigen Jahren habe ich das linksgewerkschaftliche Netzwerk Organisieren-Kämpfen-Gewinnen mitgegründet und mit aufgebaut. In meiner Arbeit als Soziologe versuche ich in Forschung und Lehre der Gewerkschaftsbewegung so nützlich zu sein, wie es nur eben geht. Ich war lange bis zur Spaltung Mitglied in unserer Parteiströmung Sozialistische Linke. Heute diskutiere und tue mit in der Bewegungslinken. Außerdem bin ich einer der Kreissprecher unserer Partei in Göttingen und Mitglied im Kreistag. In unserer Partei bin ich seit 2007. Eingetreten bin ich, weil ich aus einer Industriearbeiterfamilie komme und eine politische Kraft mit aufbauen wollte, die für meine Leute einen Unterschied macht. Aber jetzt zu euch.

Die erste Frage ist für euch, weshalb die LINKE in der tiefen Krise ist, in der sie ist. Eure erste Antwort: Neben anderen wichtigen Gründen liegt das eigentlich daran, dass „die Welt der Arbeit“, wie ihr das nennt, kein (!) Bezug unserer Politik ist. Eure zweite Antwort, die ihr an verschiedenen Stellen des Textes gebt: Der Parteivorstand oder die Parteivorstände sind auch daran schuld, weil sie – wenn man alles zusammennimmt, was ihr schreibt – nicht willens waren eine pluralistische Debatte zu organisieren, strategische Klärung herbeizuführen und so eine Einheit der Partei zu schaffen. Ihr seid der Meinung – wie ich übrigens auch -, dass es ein starkes strategisches Zentrum bräuchte. Organisieren müsste das eures Erachtens der Parteivorstand. Ihr selbst habt versucht die BAG Betrieb und Gewerkschaft zu einem solchen Zentrum zu machen, indem ihr insbesondere die gewerkschaftlichen Gemeinsamkeiten in den Vordergrund gestellt habt – funktioniert hat das nicht. Die Strömungsdynamiken haben euch einen Strich durch die Rechnung gemacht. Warum das nicht funktioniert hat, was für euch überhaupt ein strategisches Zentrum sein soll, das führt ihr nicht weiter aus. Eure zweite Frage ist, warum für DIE LINKE Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, wie ihr das seht, keine zentrale Rolle spielt. Eure Antwort: Weil der Parteivorstand nicht dafür sorgt und weil Parteivorstand und Partei keine richtige Gesellschafts- und Klassenanalyse haben (die ihr uns allerdings auch vorenthaltet –  ich hätte mir gewünscht, ihr hättet euch die Mühe gemacht auf entsprechende klassenpolitische Debatten etwas genauer einzugehen, die wir geführt haben), dafür aber alle möglichen politischen Fragen gleichberechtigt neben die Klassenfrage stellen. Eure dritte Frage ist schließlich, wie eigentlich eine richtige Strategie der Partei aussehen müsste. Eure Antwort lautet: Die Klasse muss im Mittelpunkt von allem stehen. Ich spitze das, glaube ich, nur leicht zu. Ihr seid für feministische und antirassistische Arbeit, aber jeweils mit starkem Klassenbezug. In der Partei seht ihr etwas anderes, nämlich einen reinen Moralismus ohne Bezug zur Klasse. Und der trage zur Entfremdung zwischen Partei und Klasse bei. Ihr erklärt dann weiter, dass entscheidend sei, dass DIE LINKE dazu beitragen kann, dass die Klasse besser kämpfen und ihre Interessen durchsetzen kann. Um dann den Satz hinzuzufügen, der doppeldeutig ist: „Doch die Frage ist nicht, ob Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst oder Bernd Riexinger recht haben. Die Frage sollte vielmehr sein: Wie hält es DIE LINKE mit der Klasse?“ Das kann man so lesen: Nicht diese oder jene Person ist entscheidend, sondern ob wir unsere Klassenarbeit richtig machen. Das teile ich. Man kann es aber auch so lesen, dass nicht entscheidend sei, welche der unterschiedlichen Strategievorschläge (Klaus Ernst hat gar keinen eigenen vorgelegt, den die Partei hätte diskutieren können) nun für uns richtig seien. Das würde ich nicht teilen.

Ich teile den Anspruch, dass die LINKE Klassenpartei sein muss. Sie muss den demokratischen Klassenkampf führen, also im Hier und Jetzt um Verbesserungen ringen, gestützt auf der organisierten Macht der Klasse (und sozialer Bewegungen), gewillt Reformen auch umzusetzen gegen die Welt des Kapitals, dabei bemüht den Weg zu einer sozialistischen Demokratie zu finden und zu gehen, Mehrheiten dafür zu gewinnen. Deshalb muss Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit (übrigens buchstäblich in dieser Reihenfolge und eigentlich auch mit der entsprechenden Schwerpunktsetzung auf die Welt der Betriebe) eine ganz zentrale Rolle in unserer Arbeit spielen. Es wäre deshalb auch wünschenswert, wenn wir – anknüpfend an den erarbeiteten Debattenstand – in der Partei eine breitere Diskussion über die Klassenverhältnisse in Deutschland organisiert bekämen: über den Zustand der Gewerkschaften, die Entwicklung der Sozialpartnerschaft, Hoffnungsfunken betriebs- und gewerkschaftslinker Arbeit und – davon ausgehend – über unsere Aufgaben als Gewerkschafter:innen oder gewerkschaftlich orientierte Genoss:innen in der LINKEN. Das wäre auch ein Beitrag, um innerhalb der Partei für eine klare gewerkschaftliche Ausrichtung zu werben.

Euren Vorschlag eines gut arbeitenden Gewerkschaftsrates finde ich sehr gut, in Niedersachsen haben wir in unterschiedlichen Zusammenhängen darüber gesprochen, dass die Landespartei eine Art gewerkschaftlichen Beratungskreis bräuchte. Aber: Viele eurer Ursachenbestimmungen über die Krise unserer Partei und über die Defizite unserer Gewerkschaftsarbeit, kann ich nicht oder allenfalls punktuell nachvollziehen. Vielleicht liegt das auch daran, dass euer Beitrag sehr zugespitzt, eigentlich schwarzmalerisch ist. An vielen Stellen habe ich mich gefragt, warum ihr positive Beispiele gar nicht erwähnt, oder warum ihr Debattenstände (z.B. zur sozialökologischen Transformation) als Karikatur wiedergebt. Ich will darauf weiter unten kurz eingehen, ohne in eine Art Verteidigungsrede der Partei zu verfallen. Ich will mich eher auf die beiden anderen Fragen konzentrieren, warum stecken wir im Schlamassel, in dem wir stecken, und welche Strategie brauchen wir.

In einem Punkt will ich euch aber vorher noch ausdrücklich zustimmen: Eine Debattenkultur, in der die Güte des Arguments weniger zählt als die Zugehörigkeit zu einer Strömung oder Seilschaft, ist ein Sargnagel sozialistischer Politik. Kritik ist der Kopf der Leidenschaft. Statt uns zu kritisieren versuchen uns gegenseitig fertig- und lächerlich zu machen. Die Bedingung für eine sich einigende Partei ist natürlich immer, dass es eine inhaltlich seriöse, pluralistische und demokratische Diskussion in der Organisation gibt. Anders als ihr habe ich aber nicht den Eindruck, dass das im Grundsatz in den vergangenen Jahren in der Partei nicht möglich gewesen ist – wenngleich ich, nochmal, zustimme, dass unserer Debattenkultur sehr zu wünschen übriglässt. Und die Probleme liegen sicherlich nicht nur in einem Spektrum der Partei. Ich wundere mich zuweilen doch sehr über das Diskussionsverhalten und öffentliche Austeilen von Genoss:innen, die mir in vielen politischen Fragen sehr nahe sind. Was ich auch sehr kritisch sehe, ist die Schubladisierung der Partei, die oft mit Lager- und Strömungsdenken zusammenhängt. Nicht die Partei, nicht der Kampf gegen die Ausbeutungsordnung kommt dann zuerst, sondern die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Unterverein. Oft geht damit eine „Hermeneutik des Verdachtes“ einher, wie Klaus Dörre das einmal genannt hat. „Wenn die das sagt, dann …“. Aus diesen Schützengräben müssen wir raus – aber nicht, um der großen Versöhnung das Wort zu reden, sondern um gemeinsam politische Parteilinien zu entwickeln, die dann auch gelten müssen für unsere gemeinsame Arbeit.

An eurem Diskussionsstil finde ich aber, nebenbei gesagt, auch nicht alles gut. Ich will mich nur auf ein Beispiel beschränken, ohne darauf weiter inhaltlich einzugehen: Ihr erklärt mal eben nebenbei, dass alle, die für Sanktionen gegen Russland sind, um das Morden in der Ukraine zu beenden, keinen Klassenkompass haben, eigentlich nur moralistisch diskutieren – und, wenn man das zu Ende denkt, was ihr da schreibt – Politik gegen die Arbeiter:innenklasse machen. Beim Lesen eurer Zeilen habe ich überlegt., dass ich das mal dem ehemaligen linken Betriebsratsvorsitzenden eines großen Automobilherstellers in Niedersachsen erzählen müsste. Der hat mir nämlich erklärt, dass er allen davon abraten wird uns zu wählen, weil ihn das „Wirtschaftskrieggerede“ abstößt. Keine Sorge, ich habe ihm eure These nicht vorgetragen. Aber ich rieb mir schon die Augen und fragte mich, ob ich eigentlich richtig gelesen habe. Jetzt aber zu euren Fragen und Antworten.

I. Hat die LINKE keinen Bezug zur Welt der Arbeit?

Ich meine: nein, das stimmt so nicht, wenngleich ich auch meine, dass wir als Partei besser werden müssen im demokratischen Klassenkampf. Sicherlich ist es in einer Partei, die sich verjüngt und erneuert so, dass alte politische Selbstverständlichkeiten – so selbstverständlich war das auch vor 15 Jahren übrigens nicht mit der gewerkschaftlichen Orientierung – nicht mehr einfach gelten. Als ich 2007 eingetreten bin, waren in meinem Kreisverband die meisten, die etwas mit Gewerkschaften am Hut hatten, Mitte/Ende 50. Man kann nachrechnen, wie alt die Genoss:innen heute sind.

Viele neue Mitglieder kommen mit anderen politischen Erfahrungen in die Partei und dabei sind viele Junge höher qualifiziert. Insofern halte ich es durchaus für eine zentrale Aufgabe, eine praktische gewerkschaftliche Orientierung erfahrbar zu machen. In unserem Kreisverband bauen wir deshalb den „Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit“ und „Was sind Gewerkschaften“ in die Bildungsarbeit vor Ort ein. Wir versuchen unsere Gewerkschafter:innen zum Mittun in der Partei zu begeistern, und wir versuchen – nach Möglichkeiten – gewerkschaftliche Auseinandersetzungen in der Stadt zu unterstützen. Neulich haben einige unserer Genoss:innen zum Beispiel das Streikbüro von ver.di unterstützt, als die Belegschaft einer aus dem hiesigen Klinikum ausgegründeten Firma gestreikt hat. Mit dabei übrigens junge Leute, die studieren. Ich halte diese „Vermittlungsarbeit“ für zukunftsentscheidend für unsere Partei.

Zu dieser Vermittlungsarbeit zwischen Partei und „proletarischer Lebenswelt“ gehört für uns auch, dass wir versuchen – wieder: nach Möglichkeiten, die wir haben – überhaupt als Partei erlebbar vor Ort zu sein. Also da zu sein, wo die Arbeiter:innenklasse in ihrer Vielschichtigkeit lebt. Das hat mit Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit im engsten Sinne nichts zu tun, aber mit der „Welt der Arbeit“ schon, also mit den proletarischen Lebenszusammenhängen, in denen es um Kinderbetreuung, Feste, Sportvereine, Schul- und Einkaufswege und deshalb auch um Busanbindungen und vieles mehr geht. Aufsuchende Haustürgespräche sind meines Erachtens sehr wichtig, weil sie zu etwas führen, was ihr auch fordert: viele Debatten stärker durch die Brille der Arbeiter:innenklasse zu führen.  Und die Partei lernt draus, wenn sie mit den unterschiedlichsten Lebensverhältnissen konfrontiert. Sie lernt dabei auch, dass zur Welt der Arbeit in unserer Stadt viele Menschen gehören, die hier arbeiten, aber kaum unsere Sprache sprechen und hier auch nicht wählen dürfen – ein von der deutschen Linken leider vernachlässigter Teil der multiethnischen Arbeiter:innenklasse. Zu dieser Lern- und Vermittlungsarbeit gehören auch Kinder- und Familienfeste. Im Sommer haben wir eines in einem stark migrantisch geprägten Arbeiterstadtteil gemacht, gerade bereiten wir unser Weihnachtsfest für Kinder dort vor und verteilen vorweihnachtliche „Dankeskarten“ an Beschäftigte.

Ich schreibe euch das nicht, weil ich uns selbst loben will, wenngleich ich ziemlich gut finde, was unsere Aktivengruppe so macht. Vor allen Dingen will ich sagen: Anregungen aus der Partei – und wir haben unsere Anregungen direkt aus der Partei – muss man eben auch umsetzen. Das kann kein Bundesparteivorstand machen, wenngleich ich der Meinung bin, dass er mehr daran arbeiten müsste, dass aus Beschlüssen in den Landes- und Kreisverbänden auch Praxis wird. Nur: Die Landesverbände und insbesondere die Partei vor Ort sind entscheidend, wenn es darum geht, ob wir eben eine Partei werden können (!), die stark in den verschiedenen Teilen der lohnabhängigen Klassen verankert und nützlich für die Menschen ist.

Und ich schreibe es, weil ich weiß, dass auch an etlichen anderen Orten der Partei versucht wird, solche oder ganz ähnliche Arbeit zu leisten. Auch unsere Pflegekampagne zum Beispiel, die direkt auf gewerkschaftliche Auseinandersetzungen zugeschnitten war und die uns ein gutes Standing unter Pflegekräften gebracht hat, findet keine Erwähnung. Nachdem ich euren Text gelesen habe, habe ich mich kurz gefragt, ob wir vielleicht Mitglieder in zwei unterschiedlichen Parteien sind. Bei euch kommt Parteiarbeit, wie ich sie euch geschildert habe, gar nicht vor. Und ich weiß natürlich, dass es sie auch an vielen Orten unserer Partei nicht gibt, was ich bedaure. Dass „Die Welt der Arbeit“ grundsätzlich kein Bezugspunkt für die LINKE gewesen sein soll in den letzten Jahren, kann ich aber nicht teilen. Darauf will ich hier nicht ausführlich eingehen. Aber nichts von dem, was wir vor Ort versuchen, haben wir uns selbst ausgedacht. Ich persönlich habe es in Seminaren des Karl-Liebknecht-Hauses, der Rosa Luxemburg-Stiftung, auf den Streikkonferenzen der RLS, auch von älteren Genoss:innen gelernt, sogar von einem ehemaligen Parteivorsitzenden, der mehrere Beiträge darüber vorgelegt hat, wie denn nun eigentlich unsere gewerkschaftliche Orientierung gestärkt werden könnte. Ich wünschte mir, dass noch viel mehr Kreisverbände aus meinem Landesverband ähnliche „aktive Mitgliederarbeit“ machen würden. Denn das ist ja die Bedingung dafür, dass wir nicht nur ein Diskussionskreis sind, sondern für die Arbeiter:innenklasse eine praktische Relevanz haben, weil wir in ihrer Lebenswelt vorkommen und gemeinsam mit ihnen für Verbesserungen streiten. Aber die Machtfrage, also wer macht es, lässt sich nicht durch den Verweis auf den Bundesvorstand beantworten.

Meines Erachtens muss man konkreter werden: Wie kann es zum Beispiel sein, dass in einem Kreisverband wie Hannover, der mit Abstand größte in meinem Landesverband, einer Stadt, in der auch die Landesbezirksbereichsleitung ver.di und die Bezirksleitung der IG Metall ihren Sitz haben, und in der wir auch etliche hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre zu unseren Mitgliedern zählen, diese Gewerkschafter:innen aber praktisch keine Rolle in der Partei spielen, selbst dann wenn sie größere Verantwortung übernehmen wollen? Oder auch umgekehrt: Warum winken manche Gewerkschafter:innen ab, wenn sie zum Mittun in der Partei eingeladen werden? Was sind ihre Gründe? Nach meiner Erfahrung sind diese sehr unterschiedliche. Ich denke, wenn wir so konkret nachfragen, dann kommen wir zu besseren Antworten auf die Frage, wie wir unsere betriebs- und gewerkschaftspolitische Arbeit verbessern können. Umgekehrt heißt es auch: Lasst uns auf Best-Practice-Beispiele gucken. Ich habe zum Beispiel immer wieder gehört, dass die hessische Landtagsfraktion eine gute gewerkschaftliche Vernetzungs- und Unterstützungsarbeit macht und gemacht hat. Was könnten wir daraus lernen?

Meines Erachtens gehört zu diesem gemeinsamen Lernen aber auch, dass wir die erarbeiteten Debattenstände in der Partei ernst nehmen. Dazu gehört etwa, dass die Diskussion über eine sozialökologische Transformation von Anfang an so angelegt war, dass die Aufgabenstellung lautete, einen Brückenschlag zwischen Gewerkschafts- und Klimabewegung hinzukriegen. In eurem Beitrag kommt das, obwohl ihr euch – karikierend, wie ich finde – auf diese Debatte bezieht, nicht einmal vor. Kurz: Um besser zu werden, müssten wir dieses konkrete Auswerten und Lernen mehr machen.

II. Ist die tiefere Ursache der Krise der Partei darin zu finden, dass der Bezug zur Welt der Arbeit nicht vorhanden ist?

Ich will aber auch noch etwas zu eurer Schlussfolgerung schreiben, dass die Krise und die Zerwürfnisse unserer Partei eine Folge des fehlenden Bezugs zur „Welt der Arbeit“ seien. Das teile ich nicht. Ich habe da eine Gegenthese, die letztlich darauf hinausläuft, dass die Konflikte der letzten mindestens fünf Jahre eben Konflikte um richtige Klassenpolitik waren. Es ging darum, wie wir den demokratischen Klassenkampf führen müssen, u.a. wie wir Spaltungen in der Klasse vermeiden, überwinden und wie wir gesellschaftliche Bündnisse schmieden können, ohne die wir im Klassenkampf schlicht unterliegen. Sicherlich ist das vereinfachend, weil unsere Partei vielfältig ist, und etliche Genoss:innen eine andere politische Brille aufhatten und aufhaben. Und trotzdem: Fast alle zentralen Auseinandersetzungen der vergangenen fünf Jahre haben damit zu tun, dass die „Welt der Arbeit“, hier allerdings weiter verstanden als ihr es in eurem Text tut, zum Gegenstand linker Politik gemacht wurde, aber eben in einer hart umstrittenen Art und Weise.

(1) Seit 2012 wurde die Debatte um die Erneuerung der Partei unter der Überschrift geführt, die Partei müsse sich gesellschaftlich breiter aufstellen, sie müsse sich in der Klasse verankern und unter anderem sich deshalb auch auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen und auch betrieblichen und gewerkschaftliche beziehen und sogar selbst Konflikte organisieren. U.a. gab es Experimente mit Mieter:innenorganizing. All das sollte dazu beitragen, dass wir uns in der Arbeiter:innenklasse als Partei verankern, indem wir konkret daran mitwirken, Interessen und Gegenmacht zu organisieren. Ich halte das für vollkommen richtig – siehe meine kurzen Anmerkungen zu unserer Kreisverbandsarbeit. Aber: Ganze Teile der Partei – sowohl im Bund als auch in den Ländern – haben diese Ausrichtung als linksradikal und bewegungsfetischistisch bekämpft.

(2) Mein zweites Beispiel, da ihr selbst die Brisanz der ökologischen Krise in eurem Text ansprecht: Der ehemalige Parteivorsitzende Riexinger hat in seinem Buch über den linken Green New Deal Belegschaften, Betriebs- und Personalräte und Gewerkschaften als zentrale Akteure einer wirtschaftsdemokratischen sozialökologischen Transformation ausgemacht. Es war der Versuch, gemeinsam mit vielen anderen, die ökologische Modernisierung, Industrie- und Strukturpolitik, mit der sich ja Betriebsräte und Gewerkschaften auseinandersetzen müssen, zum Gegenstand unserer Politik zu machen.

Um uns überhaupt in die Lage zu versetzen, auf eine epochale Zukunftsfrage zu antworten. Auch das führte zu Debatten, zu Gegenwehr. Wir dürften nicht grüner werden als die Grünen, hieß es da beispielsweise aus der Spitze der Bundestagsfraktion. Umso irritierender liest sich eure Behauptung: „Während die Arbeitswelt vor tiefgreifenden, historischen Umbrüchen steht, beschränkt sich die Debatte der Partei über die sozial-ökologische Transformation darauf, ‚Soziales und Ökologisches zusammen zu denken‘. Mit dieser Formel wird die Partei jedoch weder den Sorgen vieler Menschen vor Entqualifizierung und Jobverlust gerecht, noch ist sie eine adäquate Analyse der Demokratisierungs- und Finanzierungsfragen, die mit den aktuellen Umbrüchen in der Arbeitswelt und den Herausforderungen für die Gewerkschaften einhergehen.“

Das würde stimmen, würde die Partei die Floskel „Soziales und Ökologisches zusammendenken“ vor sich hertragen, dann wäre das ein Problem. Aber so ist es ja nicht. Nicht nur beide ehemaligen Parteivorsitzenden, Riexinger und Kipping, haben Bücher vorgelegt – es ist offenbar eine Eigentümlichkeit unserer Partei, dass sowas offenbar gar nichts zählt – auch in der Partei wurde über mehr gesprochen und auch weitere Forderungen in die Öffentlichkeit getragen. Ich zähle dazu auch das lesenswerte Papier zur Industriepolitik, das die Bundestagsfraktion vorgelegt hat, aber auch die Beiträge aus der RLS, an denen u.a. Steffen Lehndorf mitgewirkt hat. Richtig ist: All das müsste konkretisiert werden. Natürlich auch durch die Bundespartei. Aber merkwürdig unerwähnt bleibt in eurem Text die Bundestagsfraktion. So als seien die Abgeordneten und die vielen Mitarbeiter nicht Teil dieser Partei. Dasselbe gilt in der Landespolitik übrigens auch für unsere Landtagsfraktionen.

Ich habe beispielsweise Anfang des Jahres einen Strategievorschlag für eine ökologische Industriepolitik unserer Landespartei in die Debatte eingebracht, um in einen inhaltlichen und politischen Austausch mit der IG Metall zu kommen. Sicherlich braucht es Initiativen der Parteiführung, das teile ich. Aber es gab sie ja auch Die Partei muss das aber schon auch selbst aktiv werden – auf Landesebene und vor Ort (siehe oben). Dass das zuweilen auch deshalb nicht passierte, weil die sozialökologische Strategie abgelehnt wurde, gehört aber auch zur Wahrheit dazu. In meinem Landesverband jedenfalls sind wir kaum dazu in der Lage, eine industrie- und energiepolitische Diskussion mit IG BCE oder IG Metall zu führen, geschweige denn um die betriebspolitische Gestaltung von Energiewende und Produktionsumstellung. Das liegt nicht an „der Bundesebene“, sondern daran, dass wir über Jahre die Vernetzungsarbeit mit den Industriegewerkschaften nicht gut genug gemacht haben, inhaltlich dazu nicht gearbeitet haben, keine Leute aufgebaut und auch den Austausch dazu in der Partei nicht hingekriegt haben. Dieses Jahr gab es ein Seminar der LAG Betrieb und Gewerkschaft zum Thema, aber natürlich reicht das nicht. Wenn ich darüber nachdenke, warum wir für Leute, die im Betrieb und in der Gewerkschaft aktiv sind, zu wenig Relevanz haben, dann muss ich mir mit meinen niedersächsischen Genoss:innen erstmal an die eigene Nase fassen – und aussprechen, dass ein nicht unerheblicher Teil ökologische Klassenpolitik ablehnt. Kurz: Die Partei wächst und lebt von unten, oder sie spielt eben keine Rolle, auch nicht für „die Welt der Arbeit“.

(3) Ein weiteres Beispiel: Selbst der Streit um angemessene migrationspolitische Positionen wurde durchaus sehr direkt auf die „Welt der Arbeit“ bezogen geführt. Ihr sprecht von einem Moralismus ohne Klassenbezug. Und vermutlich gibt es all das, was ihr bemängelt in der Partei auch. Aber als dominante Auseinandersetzung habe ich selbst etwas anderes erlebt: Nachdem Sahra Wagenknecht nach der Bundestagswahl 2017 erklärt hatte, dass wir es uns migrationspolitisch viel zu einfach gemacht hätten, wurden einige migrationskritische Thesen veröffentlicht, u.a. mitgeschrieben vom damaligen Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi und Ralf Krämer (ver.di-Sekretär). Kurze Zeit später erschienen Gegenthesen – formuliert von ver.di-Sekretär:innen, die Mitglieder unserer Partei sind oder uns sehr nahe stehen. Überhaupt ist die Frage, ob man für eine Begrenzung der Migration ist oder nicht, eine alte in der Arbeiter:innenbewegung, in der protektionistische und offene Positionen oft miteinander ringen. Das war auch nun so. Egal welche der migrationspolitischen Positionen man nun richtig findet, in beträchtlichem Maße war es ein Teil der Debatte darüber, wie die „Welt der Arbeit“ gegenüber dem Kapital gestärkt werden könnte.

(4) Letztes Beispiel: Unter anderem auch deshalb, weil diese Diskussion mit der über Rassismus und den Aufschwung der extremen Rechten verbunden wurde. Auch hier stand im Hintergrund, wie eigentlich „die Welt der Arbeit“, also die multiethnische Arbeiter:innenklasse, gestärkt werden könnte usw. Auch hier: harte Auseinandersetzungen, Zerwürfnisse. All das waren Bezüge zur „Welt der Arbeit“. Und gerade weil es diese Bezüge gab, wurde so hart gestritten. Und deshalb gingen die Risse und Spaltungen direkt durch das heterogene Lager derjenigen, die sich als Klassenlinke verstehen und Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit für ein wichtiges Arbeitsfeld halten. Meines Erachtens konnte es deshalb auch nicht funktionieren, die BAG Betrieb und Gewerkschaft zu einem strategischen Zentrum zu machen – jedenfalls nicht, wenn das in erster Linie darauf basieren sollte, die Gemeinsamkeiten als Gewerkschafter:innen in den Vordergrund zu rücken. Möglicherweise verstehe ich euch an der Stelle aber auch falsch.

III. Gab es kein strategisches Zentrum, weil nicht die „Welt der Arbeit“ zentraler Bezugspunkt unserer Politik war?

Wie gesagt: Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit halte ich für absolut wichtig, schon deshalb, weil Gewerkschaften die größte reine Klassenorganisation der Arbeiter:innenklasse sind. Und ich finde auch: Betrieblich aktive Kolleg:innen und Gewerkschafter:innen sollten eine führende Rolle in der Partei spielen – und zwar auf allen Ebenen. Manchmal gelingt das, oft gelingt es auch nicht. In meinem Kreisverband führen Gewerkschafter:innen zum Beispiel nicht die Partei, sondern ‚machen mit‘, was nicht dasselbe ist – oft mit den Hinweis, dass sie neben Arbeit und Engagement nicht noch Zeit und Lust haben in der Partei wirklich Verantwortung zu übernehmen. Es wäre wichtig genauer darüber zu reden, was wir als Partei machen müssten, damit viel mehr aktive Gewerkschafter:innen – und ich meine damit in erster Linie Menschen, die noch im Betrieb sind – die Gesichter unserer Partei sein wollen und sein können. Und neben aktiven Gewerkschafter:innen gilt das  übrigens auch für Aktive aus der Seenotrettung, der Klimagerechtigkeitsbewegung oder von der Tafel-Bewegung. Aber über eine „zentrale und führende Rolle“ zu sprechen, ist eben etwas anderes als über ein „strategisches Zentrum“.

Wenn wir über ein strategisches Zentrum sprechen – auch ich halte eins für nötig –     dann sagen wir damit ja schon: Es gibt unterschiedliche Politikvorstellungen, die miteinander konkurrieren. Und aus den vielen unterschiedlichen Strategievorstellungen müssen wir zu gemeinsamen Linien kommen. Damit wir handlungsfähig sind. Erkennbar. Klar in der Orientierung, erkennbar für die Leute im Land. Kein Hühnerhaufen, sondern ein Verein von Leuten, die was draufhaben, die an den entscheidenden Fragen der Zeit arbeiten und auch konkrete Vorschläge machen, wie mit denen so umgegangen werden kann, dass es besser und nicht schlechter wird. Ich lasse an dieser Stelle meine eigenen Strategievorstellungen weg, weil es ja lediglich darum geht, wie wir nun zu einem strategischen Zentrum kommen können.

Ihr argumentiert, dass der Parteivorstand versäumt hat, klärende und pluralistische Strategiedebatten zu organisieren. Ich bin nicht der Rechtsanwalt der letzten Vorstände, aber zumindest fällt auf, wer in eurer Erzählung alles nicht vorkommt: nicht das Hufeisenbündnis in der Bundestagsfraktion, nicht die Initiativen „Aufstehen“, an der sich Abgeordnete wie Vorstandsmitglieder der Landes- und Bundesebene beteiligt haben, darunter auch wichtige Gewerkschafter:innen unserer Partei, und auch Sahra Wagenknecht kommt nur nebenbei vor. Das ist nicht unerheblich, weil damit ein ganzer Teil und auch ein ganzes Bündel von Ursachen für unsere Probleme aus dem Blick gerät, über die wir reden müssen, wenn wir wirklich ein Interesse an einem strategischen Zentrum haben. Weil: Ein strategisches Zentrum kann nur entstehen, wenn offene Fragen ausdiskutiert und in einen tragenden Kompromiss übersetzt werden und dieser dann auch gemeinsam nach außen umgesetzt wird. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich unterzuordnen, wenn man sich nicht durchsetzen kann. Auch das ist Teil interner Demokratiekultur. Genauso wie die Bereitschaft zuzuhören, sich überzeugen zu lassen und zu lernen. Und man muss präzise sein: Ein strategisches Zentrum ist gerade kein „alle zusammenhalten“, sondern ein wechselnder Zusammenhang von Genoss:innen, der sich auf Spielregeln einigt, Vertrauen aufbaut, bereit ist, Widersprüche auch auszuhalten und eine politisch Linie auszubuchstabieren, die klar orientiert und nicht aus lauter blockierender Kompromisse besteht. Ein strategisches Zentrum, das auf die zentralen Fragen unserer Zeit Formelkompromisse als Antworten gibt, kann eine Partei nicht führen. Logischerweise können zu einem strategischen Zentrum gar nicht alle Teile der Partei gehören, die Grundvoraussetzung sind: Kooperationswille und ein Mindestmaß an inhaltlicher Übereinstimmung, die Bereitschaft gemeinsam nach Außen zu handeln und so die Partei zu orientieren. Ein solches strategisches Zentrum muss mit allen Teilen der Partei im Dialog sein, aber nicht alle Teile können sich auch in diesem Zentrum wiederfinden – logisch, weil sich gegen Mehrheitsmeinungen ja nun mal legitimerweise oppositionelle Minderheitsmeinungen herausbilden. M.E. ist politisches Zentrum auch kein Synonym für politischen Zentrismus, sondern ein anderer Ausdruck für Dialog- und Führungsfähigkeit verschiedener Gruppen in der Partei. Bis hier sind wir uns möglicherweise einig.

Teil unserer Geschichte ist aber gerade, dass ein ganzer Teil der Partei, über den ihr nicht schreibt, auf eine Art und Weise gehandelt hat, die weder vertrauensbildend war, noch sich dadurch auszeichnete, dass auch Mehrheitsentscheidungen respektiert wurden. Seit 2017, spätestens seit der damaligen Bundestagswahl, hat sich um Sahra Wagenknecht eine Opposition gebildet, die nicht mal davor zurückschreckte mit „Aufstehen“ ein alternatives politisches Projekt zu starten, an dessen Spitze Sahra stehen sollte, nachdem sie sich mit ihrer strategischen Position in der Partei selbst nicht hatte durchsetzen können. Und hier ist das Problem: Ihr habt recht, wir brauchen ein strategisches Zentrum, dass dazu in der Lage ist radikale „arbeitnehmerorientierte“ Reformpolitik zu betreiben. Aber um euch beim Wort zu nehmen: das muss entstehen anhand der Debatte über politische Herausforderungen, echte Umbrüche in der Gesellschaft und den notwendigen Antworten der Partei. Einige der Streitfragen der letzten Jahre habe ich oben genannt. Euren Ausführungen entnehme ich, dass ihr der Meinung seid, diese seien nicht auf angemessene Art und Weise diskutiert worden – das teile ich nicht. Beispielsweise haben wir auf unserem letzten Bundesparteitag einen Leitantrag zum sozialen und ökologischen Umbau unserer Gesellschaft beschlossen, dem intensive Diskussionen in der Partei vorausgingen und der die Interessen der abhängig Beschäftigten in den Mittelpunkt stellt.

Ohne Bereitschaft auch einer politischen Parteilinie zu folgen, die man nicht so gut findet, sind wir nicht mehr als ein Hühnerhaufen, als der wir ja im Moment auch erscheinen. Um bei euren eigenen Positionierungen zu bleiben: Wir haben in der Partei über die Ursachen des Überfalls Russlands auf die Ukraine diskutiert, auch darüber, was wir tun müssen und können, um den Krieg zu beenden. Eine deutliche Mehrheit hat sich für einen Kurs entschieden, der euch offensichtlich nicht überzeugt. Innerparteiliche Opposition ist wichtig, deshalb auch euer Nein. Nur: Als demokratische Partei können wir doch nur besser werden im demokratischen Klassenkampf, wenn wir Antworten geben, die unseres Erachtens gute Antworten auf die Probleme der Zeit sind – selbst wenn wir dabei irren. Und wir müssen auch dann mittun und an einem Strang ziehen, wenn wir uns nicht durchsetzen können. Das verlange ich übrigens auch von Genoss:innen, die mir nahe und in bestimmten Landesverbänden in der Minderheit sind: Intern streiten und um neue Mehrheiten ringen, nach Außen zusammen kämpfen. Alles andere ist politischer Selbstmord und den begeht diese Partei nun schon lang genug.

Wenn man ein strategisches Zentrum will, muss man deshalb auch über diese Dialektik von Mehrheit und Minderheit sprechen. Und darüber, warum Sahra Wagenknecht und ihre Verbündeten in der Öffentlichkeit über Jahre nun schon anders gearbeitet haben. Ich finde es nicht übertrieben in diesem Zusammenhang von einer lang andauernden Abrechnung mit der eigenen Partei zu sprechen, die sich für uns verheerend ausgewirkt hat. Ihr erzählt m. E. eine einseitige Geschichte, in der Parteivorstände angeblich keine integrativen Diskussionsangebote gemacht haben, in eurer Sicht haben sie vor allen Dingen Öl ins Feuer gegossen. Ich sehe das anders. Im Streit um die migrationspolitischen Positionen der Partei haben sich die damaligen Bundesvorsitzenden z. B. stark um einen befriedenden Kompromiss in Form eines gemeinsamen Positionspapiers bemüht. Und auch Janine Wissler hat sich, seit sie Bundesvorsitzende ist, verschiedene Male um Integration bemüht – und auch um eine bessere gemeinsame Abstimmung zwischen Bundesvorstand und den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion.   

IV. Was ist eine angemessene Strategie für die LINKE?

Hier will ich mit etwas beginnen, was ich ausdrücklich teile: Um als Partei Gewerkschaften zu stärken, um den Nutzen der Partei für die organisierten Kolleg:innen zu stärken und um uns als Partei besser in der Klasse zu verankern, „reicht (es) eben nicht aus, einen Gewerkschafter an die Spitze der Partei zu stellen oder eine Handvoll von ihnen in die Parlamente zu schicken.“ Es reicht sogar nicht aus, wie ja im Fall der letzten und auch des amtierenden Bundesvorstandes, mehrere Gewerkschafter:innen in den Bundesvorstand zu wählen, wenngleich das schon ganz gut ist. Später schreibt ihr: „Einen Klassenkompass zu haben, bedeutet, auch den Stolz und die Stärke der abhängig Beschäftigten zu sehen, ihnen bei der Durchsetzung ihrer Interessen eine subjektive Rolle zuzugestehen, die Klasse nicht auf ein heroisches Treppchen zu heben, sondern ihre Widersprüche zur Kenntnis zu nehmen und er bedeutet letztendlich auch, über die Rolle nachzudenken, die eine linke, sozialistische, aus der Tradition der Arbeiterbewegung kommende Partei hat: nämlich nicht für die Klasse zu kämpfen, sondern sie dabei zu unterstützen, ihre Interessen gemeinsam durchzusetzen.“

Das ist absolut richtig. Den demokratischen Klassenkampf können wir nur dann erfolgreich führen, wenn wir dazu beitragen, dass Menschen sich aktiv einmischen, selber Gestalter:innen ihrer Geschichte werden. Dazu gehört auch, mit den Menschen zu arbeiten, wie sie wirklich sind, mit all ihren Widersprüchen. Um im Klassenkampf voranzukommen, müssen wir mit dem Gesicht zu ihnen argumentieren, uns auch selbst verändern wollen, nicht über sie reden. Nun ist die Frage, was aus dieser Übereinstimmung zwischen uns folgt, wie wir also besser werden im demokratischen Klassenkampf. Meines Erachtens ist die Antwort: Mehr verbindende Klassenpolitik. Ihr lehnt das ab, seid der Meinung, gerade die Strategie der verbindenden Klassenpolitik habe den Klassenwiderspruch verwischt, weil in diesem Konzept nunmal, meint ihr, alle möglichen Kämpfe zu Klassenkämpfen erklärt werden. Das finde ich nicht richtig, und ihr weist das auch gar nicht nach, weder anhand der Beiträge dazu, noch anhand der Praxis der Partei.

Ich will an dieser Stelle nicht andere verteidigen, die Genoss:innen können für sich selbst sprechen. Meine eigenen Vorstellungen darüber, was wir tun sollten und müssen, will ich aber abschließend trotzdem darlegen. Auch im Papier von Janine Wissler, in dem sie umrissen hat, wie eine moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei aussehen müsste, finden sich wichtige Anknüpfungspunkte. Meines Erachtens hat die LINKE lediglich dann eine Zukunft, wenn wir die Partei der Gleichheit und der Demokratie sein wollen. Wir kämpfen für Gleichheit, und zwar überall: im Betrieb genau so, wie etwa im Feld der Klimapolitik oder im Bereich des Antifaschismus. Und wir sind es, die sagen, dass wirkliche Demokratie soziale Gleichheit braucht und eben auch die Ausweitung der Demokratie auf die Wirtschaft. Der Kampf für Gleichheit und Demokratie müsste m.E. im Mittelpunkt unserer Strategie stehen. Das Konzept der verbindenden Klassenpolitik spielt für eine solche Ausrichtung aber eine zentrale Rolle, auch wenn ich das, was ich richtig finde eher als „popularen Sozialismus von unten mit einem gehörigen Schuss Linkspopulismus“ bezeichnen würde. Aber ich teile vieles, was in der Debatte über verbindende Klassenpolitik erörtert worden ist. Fünf Überlegungen waren und sind dabei zentral:

Erstens, die Klasse ist fragmentiert, Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind pluralisiert, zwischen den verschiedenen Teilen der Klasse muss eine Verbindung hergestellt werden. Betriebliche- und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen spielen dafür eine wichtige Rolle, aber eben nicht nur. Klassenpolitik findet auch außerhalb der Betriebe statt, deshalb sind auch andere soziale Kämpfe, etwa im Mietenbereich, wichtig. In diesem Zusammenhang wurde auch über die Neuzusammensetzung der Klasse(n) diskutiert, etwa den Bedeutungszuwachs der Dienstleistungsarbeit, prekärer Arbeit, Streiks im Pflegesektor. Ich halte es für absolut zentral, hier weiterzudenken und weiterzuarbeiten.

Zweitens: Um die verschiedenen Teile der Klasse zu verbinden, muss sich die Partei auf eine bestimmte Art und weise arbeiten, sie muss vor Ort erlebbar sein, teilnehmen an (u.a. betrieblichen und gewerkschaftlichen) Auseinandersetzungen, um nützlich zu sein. Verbindungen müssen so praktisch hergestellt werden, die Partei – oder linke Organisationen – soll also aus der Vielheit Einigung schaffen. Der Grundgedanke ist, dass man nicht erstmal objektive gemeinsame Interessen voraussetzen kann, auf die man sich dann als kleinsten gemeinsamen Nenner bezieht (und das ist dann Klassenpolitik), sondern daran mitwirkt und teilnimmt, dass Interessen konkret artikuliert werden.  Von den verschiedenen Interessen in den Klassen ausgehend, gilt es dann Gemeinsames zu finden. Es geht um die Dialektik von Einheit und Spaltung der Klasse, wie Frank Deppe das einmal nannte. Um Verbindungen zu schaffen, braucht es selbstverständlich auch sozialpolitische Vorschläge und vieles mehr. Erinnern will ich an die Diskussion über „das neue Normalarbeitsverhältnis“. M.E. gehört zur verbindenden Klassenpolitik deshalb auch zwingend der Kampf für eine Neugründung unseres Sozialstaates dazu. Also sozialpolitische Vorschläge, die die Macht der abhängig Beschäftigten stärken, Ungleichheiten in der Klasse abbauen, den Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft mildern und das Lebensniveau der Masse heben. Kurz: Verbindende Klassenpolitik bewegt sich auf zwei Ebenen, der der unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe, und auf der Ebene des Staats, der als Verdichtung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ein eigenes Kampffeld ist.

Drittens: Verbindende Klassenpolitik geht davon aus, dass eine sozialistische Partei auf alle Fragen antworten muss, die die Nation bewegen, wie Lenin das einmal in seiner Polemik gegen den reinen Trade Unionismus formulierte. Dazu gehören natürlich auch viele politische Fragen und damit auch Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse, die sich nicht unmittelbar auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zurückführen lassen. Das gilt etwa für die Frage, ob und wie wir eine demokratische und relativ liberale Gesellschaft gegen die erstarkende extreme Rechte verteidigen. Oder wir uns zur Klimakrise verhalten. Die Klimakatastrophe wurzelt zum Beispiel in den destruktiven „Gesetzen“ der kapitalistischen Produktionsweise, und sie hat auch eine „Klassenseite“. Vereinfacht: die Konzerne sind Klimakiller Nummer 1, der ökologische Fußabdruck der Reichen ist besonders groß, die, die heute bereits besonders wenig haben – auch in Deutschland – werden besonders unter der Klimakrise leiden, die Kostenverteilung und die genauen Wege der ökologischen Modernisierung, die Kapital und Regierung betreiben, sind auch abhängig von Klassenkämpfen. Aber Klima- und Klassenpolitik gehen nicht einfach ineinander auf. Verbindende Klassenpolitik stellt lediglich die Aufgabe, diese politischen Themen und Herausforderungen aufzugreifen und – mit den Interessen der Arbeiter:innenklasse im Fokus – zu verbinden. Als junge Parteigenoss:innen und Mitglieder des SDS zum Beispiel die Tarifauseinandersetzung im ÖPNV unterstützt haben und dabei eine Brücke zur Klimabewegung geschlagen haben, war das ein sehr gutes Beispiel verbindender Klassenpolitik. Auch eine Verkehrskampagne kann das leisten. Als wir in Göttingen Unterschriften für die Fortsetzung des 9-Eurotickets gesammelt haben, war die Zustimmung immens. Es waren aber gerade diejenigen, die besonders wenig Geld hatten, mit denen wir richtig gut ins Gespräch gekommen sind. Ich finde: Davon brauchen wir deutlich mehr.

Teil der Debatte um verbindende Klassenpolitik war natürlich auch, dass die Unterstützung von Kämpfen, die Teilnahme an sozialen Bewegungen, das Ausarbeiten wohlfahrtsstaatlicher Konzepte (wozu ich auch Struktur- und Industriepolitik zähle) nicht reicht. Es wurde viertens auch diskutiert, ob es nicht zuspitzende Öffentlichkeitsarbeit braucht, die Emotionen schürt und den Gegensatz zwischen Oben und Unten stark macht, durchaus auch personalisierend, in jedem Fall aber in der Sache hart – eine Öffentlichkeitsarbeit, die die Gesichter der Klasse sichtbar macht. Ich selbst habe das Linkspopulismus genannt, andere anders. Ich glaube, darin müssen und können wir besser werden. Auch auf diesen Teil der Debatte, geht ihr leider gar nicht ein.

Und Teil dieser Diskussion war – fünftens – auch, dass verbindende Klassenpolitik ohne Machtoption und Gestaltungsmöglichkeiten (auch) in Regierung nicht funktionieren wird. Prominent hat das natürlich Katja Kipping vertreten, aber dabei hat sie auch etlichen Zuspruch von Gewerkschafter:innen erhalten, die betont haben, dass man schon auch möglich machen muss, dass – beispielsweise – die eigenen energie- und industriepolitischen Vorschläge zum Beispiel auf Landesebene auch umgesetzt werden können. Auch diese Linie der Debatte kommt bei euch nicht vor. Mich selbst hat gerade diese gewerkschaftliche Diskussion über nötige Umsetzungsperspektiven dazu bewogen, fürs „rebellische Regieren“ zu plädieren, um Fortschritte für die Klasse durchzusetzen.

Meines Erachtens müssen wir diese fünf Strategiebausteine weiter ausarbeiten, dafür sorgen, dass aus Anspruch Wirklichkeit wird. Jedenfalls dann, wenn wir die Welt der Arbeit stärken wollen, wie ihr sagt: (1) Die Klasse ist fragmentiert, wir müssen diese Fragmentierung zum Ausgangspunkt unserer Politik machen. (2) Die Partei muss aktiv die Selbstorganisierung in der Klasse unterstützen, Verbindungen herstellen. Für beides muss sie erlebbar sein, in Konflikten unterstützen und selbst mit organisieren, sie muss zusätzlich durch (auch) soziale Reformvorschläge Gemeinsamkeiten sichtbar und Verbesserungen greifbar machen. (3) Sie muss auf die zentralen Fragen der Zeit antworten, Verbindungen zwischen Klassenkämpfen im engeren Sinne und andere Themen/Kämpfen herstellen. (4) Sie braucht eine zuspitzende Öffentlichkeitsarbeit, die den Klassenwiderspruch sichtbar macht, und das auf eine ansprechende und schlaue Weise (Linkspopulismus). (5) Sie muss betonen, dass sie (auch) die Regierungsmacht übernehmen will, um die Welt zu verändern – im Bündnis mit aktiven Kolleg:innen und sozialen Bewegungen und im Konflikt mit der Welt des Kapitals, die es – wie ihr sagt – zu schwächen gilt.

Ich habe den Eindruck, dass vieles, was Teil dieser Strategiedebatte gewesen ist, eben auch gesicherte Konsense, in der Breite der Partei nicht umgesetzt, in Wirklichkeit auch bekämpft und blockiert wurde. Ich finde jedenfalls: Um die Welt der Arbeit zu stärken, sollten wir aber daran arbeiten, mehr und nicht weniger verbindende Klassenpolitik zu machen.

Ich hoffe, wir können in einen kritischen und verständigungsorientierten Austausch treten. Weil wir eine in Betrieben und Gewerkschaften vertretene LINKE brauchen.