Stolpern, hinfallen und aufstehen

21 Thesen zur Krise und Erneuerung der Linken

Nur wer Fehler und Unzulänglichkeiten aufarbeitet und Lösungen sucht, kann die Krise unserer Partei überwinden. Die Wahlniederlage bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ist keine Überraschung.

Die Zeit drängt. Wir brauchen eine klare Erneuerung der Linken: Dazu gehört ein klares sozialökologisches Profil, die Klärung der strittigen programmatischen Punkte, eine Konzentration auf drei bis vier Themenfelder, eine stärkere Orientierung in unserer Arbeit hin zu den Menschen, harte Opposition und gleichzeitig die Kraft der Hoffnung zu werden. Zu einer helfenden und organisierenden Partei gehört auch die Begrenzung der Abgeordneteneinkommen auf ein Facharbeiter*innengehalt und einheitliches Abgabenmodell für Diäten.

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Die Linke ist zweimal als Gegenbewegung zur Welt gekommen, einmal in Gestalt des Erbes der DDR als PDS, die die große Entwertung ostdeutscher Leben und die rücksichtslose Abwicklung der Staatswirtschaft politisierte. Einmal als WASG, die schließlich mit der PDS zur Linken fusionierte, als Auflehnung gegen die Sozialkahlschlagspolitik der rot-grünen Regierung vor rund 20 Jahren.

Die Linke wusste immer gut, wogegen sie war. Wir wussten weniger gut, wofür wir waren. Das Vorwärtsgewandte wollte uns nicht gelingen, auch weil es eine dritte Gegenbewegung gab: Die des innerparteilichen Gegeneinanders, das nicht erst nach 2017 die Parteikultur verdarb. Die Krise unserer Partei wurzelt auch in diesem Unvermögen und der damit verbundenen Unklarheit.

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Das Gemeinsame, das Zusammenführende, Identitätsstiftende, der rote Faden, kann nicht ein Thema oder eine Kette von Themen sein. Es sollte der Kampf für Gleichheit sein, für soziale und für politische Gleichheit. Und so für wirkliche Freiheit. Der Glutkern (Horst Kahrs) linker Politik wäre das Ringen für eine Gleichheit, die es uns ermöglicht, verschieden zu sein, uns zu entfalten, wirklich frei zu sein. Gleichfreiheit, wie es der französische Philosoph Etienne Balibar zuspitzt.

Für Gleichheit zu kämpfen heißt die Ordnung zu bekämpfen, die auf Ausbeutung beruht und deshalb soziale Ungleichheit gebiert. Heißt gegen die politische Macht der Konzerne kämpfen und das Zerbrechen der liberalen Demokratie aufgreifen, um im Lichte des Strebens nach einer sozialistischen für den Erhalt und den Ausbau demokratischer Rechte zu streiten. Heißt für die Gleichheit und Gleichwürdigkeit aller Menschen in dem Sinne zu ringen, dass alle verschieden sein können, ohne Angst haben zu müssen (Adorno). Die Krise unserer Partei wurzelt auch darin, dass wir dies aus den Augen verloren haben.

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Die Linke sollte eine sozialistische Partei sein. Eine sozialistische Partei muss immer Klassenpartei sein. Aber nicht in dem Sinne, dass sie ein bestimmtes Anliegen dieses oder jenen Teils der Arbeiter*innenklasse vertritt, sondern versucht, Klassenbewusstsein und die politische Selbsttätigkeit der proletarisierten Menschen zu stärken und sie für eine andere Art der Zivilisation zu gewinnen  – also in sozialistischer Absicht, das heißt, im Anliegen, die kapitalistische Ausbeutungsordnung durch eine sozialistische Gemeinwohlwirtschaft zu ersetzen. Also eine sozialistische Demokratie zu schaffen, in der das Volk tatsächlich die Macht ausübt, weil die wirtschaftlichen Machtmittel den Händen einer kleinen besitzenden Klasse entrissen wurden.

Die Krise unserer Partei wurzelt nicht einfach darin, dass Die Linke in diesem Sinne keine sozialistische Partei ist. Aber sie wurzelt sehr wohl auch im unvermittelten Nebeneinander linkssozialistischer, reformkommunistischer, trotzkistischer, poststalinistischer, sozialdemokratischer und linksliberaler Ansätze. Eine wenigstens von großen Mehrheiten geteilte sozialistisch-demokratische Strategie gibt es nicht.

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Abbildung 1 Meinungsumfrage BTW Die Linke 2005-2022

Die Wahlniederlage bei den Europawahlen ist schmerzlich, aber sie war erwartbar. Auch 2021 haben wir eine bittere Niederlage erlitten, unsere Wählerschaft hat sich beinahe halbiert. Es heißt, die Krise unserer Partei sei auf eine falsche Ausrichtung zurückzuführen, die seit 2012 erfolgte. Ein Blick auf die Bundestagswahlen widerlegt diese Deutung. Im Rückblick ergeben unsere Wahlergebnisse eine Welle. 2005 gewann die damalige Linke.PDS 4,12 Millionen Stimmen, 2009 waren es 5,16 Millionen, 2013 3,76 Millionen, 2017 rund 4,3 Millionen und 2021 2,25 Millionen Menschen, die für uns stimmten. Nach der tiefen parteiinternen Krise von 2011 bis 2012 haben wir uns erholt und gewonnen. Das zeigt sich auch, wenn man einen langen Blick zurück auf die Entwicklung von Wahlumfragen zur Bundestagswahl wirft (im Folgenden Allensbach im 4-Monate-Abstand seit Ende 2005 bis Ende 2022). Nach dem Fast-Spaltungs-Parteitag von 2012 wurden auch die Umfragen wieder besser.

Insgesamt allerdings wurde ein Ost-West-Unterschied deutlich. Bei den Wahlen 2017, die parteiintern von Kritikern als große Niederlage diskutiert wurde, gewannen wir überall in Westdeutschland dazu, während wir in den ostdeutschen Bundesländern zum Teil schwer verloren haben. Man kann von einer Ost-West-Schere sprechen. Während wir zum Beispiel in Hessen 2,1, in NRW 1,3 oder in Niedersachsen 1,9 Prozentpunkte dazugewannen, verloren wir in Mecklenburg-Vorpommer 3,7, in Sachsen 3,9, in Thüringen 6,6, in Sachsen-Anhalt 6,2 und in Brandenburg 5,3 Prozentpunkte. Die Wahl von 2017 ist deshalb besonders, weil sie zwei Jahre nach dem sogenannten Sommer der Migration stattfand. Insbesondere die Wahlauswertung der Bertelsmannstiftung wurde damals als Beleg dafür genommen, dass die Linke zur Oberschichtenpartei würde, die die einfachen Leute verloren hätte.

Diese Wahlauswertung arbeitete mit sogenannten Wählermilieus (Milieus werden nach Einkommensschichten, Bildungsabschlüssen und geteilten sozialen und politischen Orientierungen gebildet, sie sind nicht mit Gesellschaftsklassen zu verwechseln). Demnach verloren wir damals im sogenannten prekären Milieu 6 Prozentpunkte (hier wählten uns aber immer noch 14 Prozent der Menschen – also überdurchschnittlich viele). Gleichzeitig gewannen wir aber in einem anderen Milieu der unteren Mitte und der „Unterschicht“, im sogenannten hedonistischen Milieu (das sind eher junge und mittelalte Menschen mit einfachen und mittleren Bildungsabschlüssen und Löhnen, die ihre Freizeit genießen und eher unkonventionell leben wollen). 16 Prozent der Hedonisten wählten uns damals – ein Plus von 4 Prozentpunkten.

Verloren haben wir damals in einem Teil der mittleren Milieus, gewonnen dagegen in anderen, die stärker ökologisch und antirassistisch orientiert waren. Gewonnen hatten wir damals z.B. in der sozialen Mitte bei den sogenannten Sozialökolog*innen, die die Konsum- und Wachstumsgesellschaft kritisch sehen und ein starkes soziales und ökologisches Gewissen haben. Nichts Schlechtes eigentlich, möchte man meinen – außer für Teile der Linken, die gerade in diesen Menschen später das Feindbild der woken, urbanen und intoleranten Bevölkerung ausmachten. Kurz: Die Zusammensetzung unserer Wählerschaft damals veränderte sich, aber einen generellen starken Rückgang im Rückhalt in den unteren und mittleren Schichten gab es nicht. Die Ursachen für die Krise unserer Partei sind woanders zu suchen.

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Seit Entstehung der AfD haben wir nicht nur, aber doch sehr klar in unseren ostdeutschen Landesverbänden an die Nationalradikalen verloren, die an nationalen und konservativen Gesinnungen in unserer Wählerschaft ansetzen konnten. Schon dann, wenn man die Zyklen der Landtagswahlen zwischen 2011 und 2014 mit denen zwischen 2016 und 2019 vergleicht, wird das deutlich. Insgesamt haben wir im ersten Zyklus (2011-2014) in allen ostdeutschen Bundesländern bei den Landtagswahlen 1,12 Millionen Stimmen geholt. Im zweiten Zyklus waren es nur noch rund 722.000. Mehr als ein Drittel der Stimmen ging verloren. Rechnet man den Leuchtturm Thüringen heraus, wo die regierende Linke zwischen 2014 und 2019 als einziger Ostverband dazugewinnen konnte, wird das Problem noch deutlicher. Ohne Thüringen holten wir im ersten Zyklus 853.298 Stimmen, im zweiten aber nur noch 378.342. Unsere Wählerschaft wurde also mehr als halbiert.

Ein „Erneuerung Ost“ hat es aber auch seither nicht gegeben. Das mag verständlich wirken angesichts auch innerparteilicher Besserwisserei, aber doch ist es am Ende zerstörerisch. Aufforderungen zu einer Debatte darüber, wie die erodierende Basis in den ostdeutschen Hochburgen erneuert werden könnte, wurden mit (richtigen) Hinweisen auf die nicht gerade vorbildlichen Zustände im Westen abgewehrt. An etlichen Orten wird nachgedacht, und sicherlich nicht nur in den zuständigen Landesvorständen. Die Krise unserer Partei ist auch eine Krise unserer Partei im Osten, weil wir hier immer noch mehr zu verlieren haben, als wir im Westen gewonnen haben.

Die Beschwörung einer Ostkompetenz oder Ostidentität löst leider nicht das Problem, dass unsere Partei eben auch im Osten neu von unten in der Gesellschaft wachsen muss, weil alte Fundamente sich aufgelöst haben und wir uns im – noch nicht freien – Fall befinden. Das zeigt auch ein Blick (siehe nächste Abbildung) auf die Mitgliederentwicklung. Mitglieder sind Multiplikator*innen, die um Köpfe und Herzen von Familienangehörigen, Kolleg*innen, Leuten im Sportverein, in der Schule oder in der Nachbarschaft kämpfen. Es ist eine eigentlich alte Einsicht in unseren Reihen, dass die Altersstruktur in den ostdeutschen Landesverbänden einen Druck zum Mitgliederverlust erzeugt und deshalb aktiv an der Neu-Verankerung vor Ort gearbeitet werden müsste.

Abbildung 2 Entwicklung Mitgliederzahlen (absolut) Ost-Landesverbände 2007-2023

Es gibt viele regionale Geschichten, auch Norddeutschland erlebte eine Deindustrialisierung. Die ostdeutsche Frage ist aber besonders, weil die kapitalistische Landnahme nach 1990 Massenleid verursachte; weil die ostdeutschen Bundesländer zum Teil zur Niedriglohnperipherie für westdeutsche Konzerne wurden; weil westdeutsche Eliten in den Osten wanderten und die dortigen zum Teil verdrängt haben; weil die Bevölkerung geschrumpft und stark gealtert ist; weil in den Betrieben über lange Zeit viel hingenommen wurde, um überhaupt Arbeit zu behalten; weil es eine stärkere rechte Jugendpolitisierung in den 1990er und frühen 2000ern gab, sodass Menschen, die durch sie geprägt wurden, und heute in ihren Zwanzigern bis Vierzigern stecken, in der Zivilgesellschaft (z.B. in Vereinen, in Elternkreisen etc.) stärker präsent sind als im Westen – auch das prägt, was sagbar ist und was nicht. Die ostdeutsche Frage braucht in diesem Sinne eine ostdeutsche Antwort – durch eine Partei, die wir nur als gesamtdeutsche aufbauen können.

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Dass die Krise unserer Partei im Osten eine Krise unserer gesamten Partei ist, liegt an unserer Schwäche im Westen. Hier ist es uns nicht gelungen, reformhungrige Teile der Arbeiter*innen und der Mittelklasse auf Dauer für uns zu gewinnen. Das ist ein wichtiger Grund für die Krise unserer Partei. Allerdings haben wir es in den westdeutschen Bundesländern (ohne Berlin) mit einer anderen Entwicklung zu tun als in den ostdeutschen (ohne Berlin).

Vergleicht man auch hier die Landtagswahlzyklen 2011-2013 und 2016-2019, zeigt sich ein genereller Aufschwung in der Wähler*innengunst. Im ersten Zyklus haben wir 1,32 Millionen Stimmen geholt, im zweiten 1,96 Millionen – eine Steigerung um fast 50 Prozent. Es liegt also durchaus nahe, dass die politische Marschrichtung, die 2012 (nach dem erschütternden Krisenparteitag in Göttingen) eingeschlagen wurde, im Westen durchaus zunächst erfolgreich war. In NRW etwa, wo fast 18 Millionen Menschen leben (in ganz Ostdeutschland, ohne Berlin, lebten 2022 rund 12,5 Millionen), wählten 2012 194.428 Menschen Die Linke, 2017 waren es 415.936 (immerhin mehr als eine Verdopplung der Unterstützung) – und wir scheiterten relativ knapp am Wiedereinzug in den Landtag. In Niedersachsen stimmten 2013 112.212 Menschen für uns, 2017 waren es 177.118 – auch hier scheiterten wir nur mit 0,4 Prozentpunkten am Wiedereinzug.

Eine ähnliche positive Entwicklung zeigt der Blick auf die Mitgliederzahlen. Nach einem Auf bis 2009/10 haben uns in den folgenden Jahren insbesondere bis 2012/13 etliche Menschen wieder verlassen – ab 2012/13 beginnt in den westlichen Landesverbänden eine zarte Trendwende (außer im Saarland, in dem ein tiefer Streit zwischen den Oskar Lafontaine und seinem früheren politischen Ziehsohn den Landesverband lähmte). Zwischen 2012 und 2021 steigt die Zahl der Mitglieder im Landesverband Niedersachsen um 14 Prozent, in NRW um 26, in Bayern um 56 und in Baden-Württemberg um 59 Prozent. Es liegt also nahe, den Grund für unsere Krise in dem zu suchen, was nach 2018/19 passierte.

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Abbildung 3 Entwicklung Mitgliederzahlen (absolut) West-Landesverbände 2007-2023

Es lohnt sich, die Geschichte unserer Zerstrittenheit zumindest in aller Kürze zu rekapitulieren. Derartiges darf sich nie mehr wiederholen. 2012 stand unsere Partei fast vor der Spaltung, weil sich Westlinke und Ostreformer, so die Vereinfachung, fast hasserfüllt gegenüberstanden. Wir erlebten ein Umfragetief, ähnlich wie heute. Die neue Parteiführung um Katja Kipping und Bernd Riexinger begann damit, Gräben zu schließen, eine gemeinsame Perspektive auszuarbeiten und Organisationsreformen auf den Weg zu bringen. Unter anderem sollte sich die Partei stärker gesellschaftlich verankern. Darum wurde mit neuen Formen der Kampagnenarbeit und auch mit Methoden wie Organizing experimentiert.

Bereits Ende 2015, Anfang 2016 begann der Streit in unserer Partei über die richtige Haltung zu Flucht und Migration. Anlass waren Herausforderungen, die mit der Aufnahme von Geflüchteten im Sommer der Migration entstanden, und Äußerungen der damaligen Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Sahra Wagenknecht, straffällige Geflüchtete sollten nicht wie Einheimische behandelt werden, sondern abgeschoben werden (eleganter: „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt!“) – eine Position, die von der Mehrheit der Partei und ihren Vorständen nicht geteilt wurde.

Eine hitzige Auseinandersetzung begann, die im Kern darauf hinauslief, Wagenknecht solle nicht ihre eigenen, sondern als Fraktionsvorsitzende die Positionen der Partei vertreten – eine Selbstverständlichkeit, die von ihrer innerparteilichen Basis als autoritäre Anmaßung bewertet wurde. Am Wahlabend 2017 setzte Wagenknecht die Auseinandersetzung fort, indem sie in die Fernsehkameras sprach, die Migrationspolitik der Linken sei falsch und müsse korrigiert werden. In Gremien oder auf Parteitagen stellte sie ihre Vorstellungen dagegen meines Wissens nicht einmal zur Debatte oder gar Abstimmung, nutzte ihre Position in der Fraktion aber, die ihr ein Bündnis, das von Dietmar Bartsch bis Diether Dehm reichte, um die Partei fortan öffentlich zu kritisieren.

Scharfe interne Auseinandersetzungen folgten, die jahrelang in der Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Kompromisse gab es durchaus, etwa formulierten die Bundesvorsitzenden ein gemeinsames migrationspolitisches Kompromisspapier mit Wagenknecht – das diese aber nicht davon abhielt, ihren Kurs fortzusetzen. Um ihre Person kristallisierte sich, auch infolge der scharfen Form, in der ihre Gegner die Auseinandersetzung führten, eine eigene politische Fraktion. Alte Arbeitszusammenhänge wurden aufgesprengt, allen voran die einst einflussreiche parteilinke Strömung Sozialistische Linke, die immer mehr Leute verließen, die sich aber dennoch immer mehr um Wagenknecht scharte.

Im Laufe der Zeit verbanden sich migrationsskeptische Haltungen mit der Ablehnung der Parteilinie, auch stärker eigene Antworten auf die Klimakrise und die Herausforderungen des ökologischen Umbaus zu geben, der von oben begonnen wurde. In NRW wurde Wagenknecht von einer Mehrheit schließlich Anfang 2021 auf Platz 1 der Landesliste für die Bundestagswahl gewählt – eine Entscheidung, die den Landesverband vollkommen polarisierte und lähmte. Kurze Zeit später veröffentlichte Wagenknecht rechtzeitig zum beginnenden Bundestagswahlkampf ihr Buch „Die Selbstgerechten“, eine Abrechnung nicht zuletzt mit der eigenen Partei, mit der sie die folgenden Monate im Anti-Linke-Modus durch die Talkshows tingelte.

Inhaltliche Meinungsverschiedenheiten in einer demokratischen Partei gehören nicht nur dazu, sie müssen zwingend sein. Sonst kann es kein Lernen geben. Aber Stärke gibt es nur durch Einheit, die aus gemeinsamem Lernen folgt. Will man die lebendige Debatte, kann es Einheit aber nur geben, wenn man aufhört, nach außen zu streiten, wenn Mehrheiten entschieden haben. Ist das nicht möglich, wird das zur politischen Gefahr für jede Partei, für eine linke ganz besonders. Denn Linke müssen gegen den Strom des Normalen und Selbstverständlichen ankämpfen.

Der zersetzende Streit und die Diffamierung der Linken durch ihre eigenen Abgeordneten und Funktionäre, die heute eine konservativ-soziale und autoritäre Top-Down-Partei aufbauen, hat uns an den Rand der Existenz geführt. Dass diesem Treiben nicht früher Einhalt geboten wurde; dass Funktionäre und Abgeordnete auch dann noch die Augen vor einer Abspaltung verschlossen, als sie längst vor aller Augen organisiert und angekündigt wurde – das wirkte wie eine Brandbombe für die tiefe Krise unserer Partei. Es wird länger dauern, bis wir wieder aufgebaut haben, was zerstört wurde.

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Wir haben Etliches versäumt, auch organisationspolitisch. Die Streitigkeiten innerhalb der Linken konnten auch deshalb so zerstörerisch sein, weil inhaltliche Meinungsverschiedenheiten von der Mehrheit einer sich politisch verselbständigenden Bundestagsfraktion als offener Streit gegen die eigene Partei ausgelebt wurden. Die tiefere Ursache liegt im Berufspolitikertum, in den parlamentarischen Privilegien, die den Führungsanspruch derer nähren, die Arm der Partei sein sollten. Hierin wurzelt die Krise unserer Partei nicht, aber der parlamentarische Bürokratismus war ein starker Ermöglicher und Verstärker.

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Es ist uns nicht gelungen, als Partei auf gesellschaftliche Veränderungen und politische Verschiebungen angemessen und zugleich einig zu reagieren. Sie haben das Feld der politischen Auseinandersetzungen nach 2010 im Vergleich zur Entstehungszeit unserer Partei stark verändert. Dazu gehört: Die langsame Gewöhnung der Menschen an die Folgen der Sozialabbaupolitik unter Rot-Grün, der Rückgang der Erwerbslosigkeit (2003 Ost: 20,1 Prozent, West: 9,3 Prozent; 2023 Ost: 7,8  Prozent, West: 5,8  Prozent), moderate Korrekturen an der neoliberalen Agenda (zum Beispiel der Mindestlohn, das Ende der harten Angriffe auf die Gewerkschaften, die Einbindung der Gewerkschaften in die Krisenbewältigung etc.), die Wiederannäherung zwischen Gewerkschaften und SPD, der moderate Wiederanstieg der Reallöhne und der Lohnquote.

Gleichzeitig wurde das Parteiensystem durch den Aufstieg der AfD stark verändert, die unter anderem auf den Sommer der Migration, damit verbundene Geflüchtetensolidarität in der Gesellschaft und das Auftauchen einer neuen Umweltbewegung klare reaktionäre Antworten gab. Es geht an dieser Stelle nicht um eine vollständige Auflistung. Der Punkt ist: Auch gesamtgesellschaftlich veränderte sich die Ausgangssituation, unter der die Partei zuerst Erfolg hatte. Vieles haben wir nicht angemessen nachvollzogen, um uns neu zu positionieren. Man könnte auch von einer kollektiven Lernblockade sprechen. Das ist ein weiterer Grund für die Krise unserer Partei.

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Der Kapitalismus, der unser Leben bedroht, wird seit Jahren durch mehrere Krisen durchzogen: Wirtschaftliche Krisenpotenziale häufen sich an, eine schleichende soziale Krise entfaltet sich, die ökologische Krise spitzt sich zu und die Krise der liberalen Demokratie wird vielen schmerzhaft bewusst. So wie es uns nicht gelungen ist gesellschaftliche Veränderungen seit 2009/10 angemessen zu verarbeiten, haben wir es nicht geschafft ein geteiltes gemeinsames Bewusstsein über diese Krisenzusammenhänge in unserer Partei zu schaffen, daher die konservativ anmutenden Diskussionen der vergangenen Jahre über Markenkerne oder Wählermärkte, die von Milieus bevölkert werden – ganz so als wären wir keine Gemeinschaft derer, die für konkrete Befreiung und sozialen Fortschritt streiten, sondern eine Gemeinschaft von Politikunternehmern.

Das Konzept der „verbindenden Klassenpolitik“ war der Versuch, Verbindungen zu schaffen, also Antworten auf verschiedene Krisen zu geben. Dieser Versuch führte zu Gegenwehr und schließlich zur Abspaltung von der Linken. Die Schwäche der verbindenden Klassenpolitik blieb, dass ihr praktisch nicht gelungen ist, eine integrative Perspektive zu öffnen, in der wir als Partei beispielsweise eine proletarische Klimapolitik oder eine proletarische Migrationspolitik von unten entwickelt hätten. Zum Teil zumindest wurzelt auch darin die Krise unserer Partei.

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Die Linke hat versucht, eine gemeinsame Politik zu entwickeln, indem sie aneinanderreihte, anstatt wirklich zu verbinden. Dabei gerieten wir trotz anderslautender Willensbekundungen zusehends in eine Logik des aussitzenden Kompromisses. Das Gemeinsame waren dabei fortwährend Forderungen nach Umverteilung und besserer Sozialpolitik. Mietendeckel, Reform des Pflegesektors, Steuerreform, Mindestrente, Mindestlohn, – lauter wunderbare Forderungen, für die man gerne auf die Straße geht. Keine Landtagswahl, keine Bundestagswahl seit Bestehen unserer Partei, in der Verteilungs- und Sozialpolitik nicht im Vordergrund standen.

Eine kluge sozialistische Politisierung der Klimakrise ist uns dagegen nicht gelungen, trotz der verdienstvollen inhaltlichen Arbeit vieler in der Partei. Beim Bundestagswahlkampf 2021 („Klimawahl“) gab es nicht einmal ein eigenes Flugblatt dazu. Dass auch Linke etwas zur Jahrtausendfrage Klimakrise zu sagen hätten, wussten die Leute also nicht. Ebenso wenig ist es uns gelungen, das Zerbrechen der liberalen Demokratie und das Gefühl der Menschen, von den etablierten Parteien verlassen worden zu sein, aufzugreifen. Hierin liegt ein wesentlicher Grund für die Krise unserer Partei.

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Nötig wäre eine linkspopulistisch zuspitzende Politik. Sie würde den Kampf gegen die Konzerne und für soziale Gleichheit mit dem Streit für ein Überleben auf dieser Erde und für die Verteidigung demokratischer Rechte gegen die Macht des großen Geldes verbinden. Es ginge darum, diesen Kampf als Sache der Arbeiter*innen, Angestellten, der Erwerbslosen und Selbständigen, ob hetero-, homo- oder transsexuell, ob hier geboren oder eingewandert, zu führen – gegen die Abgehobenen in den Konzernzentralen und die ihnen zuarbeitenden Politiker*innen. Dass eine solche linkspopulistische Politik uns nicht gelungen ist, ist ein Grund für die Krise unserer Partei.

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In den vergangenen Jahren haben kritische Wissenschaftler*innen für den Post-2010-Zeitraum eine Vielzahl von Studien vorgelegt, die uns Einblicke darin geben, wie Beschäftigte über ihre Arbeit, über Politik und den Staat, über Einwanderung, Ungleichheit oder Klimawandel nachdenken. Zugespitzt: Es gibt eine kritische größere Minderheit, die ein großes Unbehagen an zu großer sozialer Ungleichheit und an der großen politischen Macht von Reichen und Unternehmen empfindet. Das verbindet verschiedene Beschäftigtengruppen.

Spaltend wirken dagegen fremdenfeindliche Haltungen. Mit Blick auf den Klimawandel kann man sagen, dass über die Einkommens- und Bildungsgrenzen hinweg eine Art ökologisches Klimabewusstsein entstanden ist, aber gerade bei denen, die in den unteren Etagen der Klassengesellschaft leben, Sorgen und Ängste eine große Rolle spielen. Hier spielen auch vielschichtige Klassenerfahrungen eine Rolle, die den Eindruck nähren, dass weder Konzernchefs, noch den etablierten Parteien zuzutrauen ist, den ökologischen Umbau auf eine Weise zu organisieren, bei der man selbst nicht auf der Strecke bleiben könnte. Warum auch vertrauen, wenn man mehrfach übersehen wurde?

Uns ist es als Partei nicht gelungen, eine zuspitzende und zugleich Hoffnung stiftende – notwendigerweise linkspopulistische – Ansprache und Kampagnenpolitik zu entwickeln, um an diese Bewusstseinsformen anzuschließen. Linker Populismus ist eine sozialistische Strategie, die darauf zielt, aus einer Vielfalt von Menschen ein Bündnis, ein gemeinsames Wir zu mobilisieren, um grundlegende Reformen und eine neue Ordnung durchzusetzen.

Eine linkspopulistische Partei muss in diesem Sinne die härteste Opposition sein, sie muss aber auch konfliktbereite Regierung im Wartestand (wie Jean-Luc Mélenchon es sagt) sein. Teil einer solchen Strategie ist es, in einer Arbeit der Zuspitzung gemeinsam mit Menschen an Reformalternativen zu basteln, für die Mehrheiten brennen. Unsere Politik muss Lust auf Veränderung machen und auch zeigen, dass und wie es gehen kann. Das ist uns nicht gelungen, wir werden als Linke entweder als Anti-Partei oder als kaum von den Establishment-Parteien unterscheidbare Kraft wahrgenommen. Auch darin liegt die Krise unserer Partei begründet.

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Auf das Zerbrechen der liberalen Demokratie zu reagieren, heißt nicht nur, sich für ein Parlament einzusetzen, in dem die Anliegen der breiten Bevölkerung wirklich vertreten werden. Oder gegen die Rechtsradikalen zu kämpfen. Es heißt, für mehr Demokratie einzutreten. Eine neue Demokratie, die offen ist für die Alltagsexperten aus Betrieben, Schulen und Stadtteilen, und direkte Beteiligung ermöglicht. Es ist aber auch wichtig, eine alte Erkenntnis in Erinnerung zu rufen: Demokratie ohne die Gleichheit und Gleichwürdigkeit der Menschen kann es nicht geben.

Die Verteidigung und Ausweitung der Demokratie wird uns misslingen, wenn wir uns nicht auch für Menschenrechte und die Gleichwürdigkeit aller Menschen einsetzen. In diesem Sinne kann es gar keine sozialistische Partei geben, die nicht auch Menschen- und Bürgerrechtspartei ist. Die Krise unserer Partei wurzelt auch darin, dass wir teilweise auseinandergerissen haben, was zwingend zusammengehört.

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Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich, wie die Wolke den Regen (Leon Blum). Unsere Partei ist lange Zeit glaubhafte Friedenskraft gewesen, weil sie hart die imperialistischen Kriege der USA und ihrer Verbündeten kritisierte und vernünftig die Militarisierung der deutschen Außenpolitik bekämpfte. Dieser Antiimperialismus war allerdings einäugig, zumindest relevante Teile der Partei kritisierten die USA, nicht aber andere Länder, die Angriffskriege führ(t)en. Oder Regime, in denen Bürger- und Menschenrechte gebrochen werden. Das hat uns den Ruf eingebracht, Diktaturen nahezustehen.

Außerdem fehlt uns eine positive Vision davon, wie eine linke Sicherheits- und Verteidigungspolitik aussehen würde, die Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung ernst nimmt, aber gleichzeitig Auslandseinsätze und Angriffskriege unmöglich machen würde. Teilweise verhalten sich unsere Forderungen auch nicht logisch zueinander. Wir sind (zurecht) gegen den zu großen Einfluss der USA in Europa, der aber nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die Vereinigten Staaten eine Art militärischen Schutzschild über die EU ausbreiten. Das sagen wir auch, weil uns nicht entgeht, dass die zwischenimperialistischen Spannungen wachsen, die USA versuchen China schwächer zu halten, China aber versucht geopolitisch stärker zu werden. Handelskriege gibt es bereits.

Will man weniger Einfluss der USA, wird man sagen müssen, wie deren Schutz ersetzt werden soll. Wir wissen aus repräsentativen Befragungen, dass einer der häufigsten Gründe, Die Linke nicht zu wählen, unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist. Eine ehrliche strategische Debatte zu diesen Fragen gibt es nicht, stattdessen bekämpfen sich die innerparteilichen Kontrahenten aus der Distanz. Auch hierin liegt die Krise unserer Partei begründet.

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Wir haben seit spätestens 2015 verstärkte Einwanderung erlebt. Grundsätzlich ist die deutsche Grenzpolitik von zwei Tendenzen gekennzeichnet. Einerseits wird an den europäischen Außengrenzen die Abschottung mitorganisiert, durch die ausgeschlossen werden soll, wer in Deutschland und Europa für Unternehmen („den Arbeitsmarkt“) nicht verwertbar ist. Andererseits versucht die Bundesregierung aber, die Unternehmen mit migrantischen Arbeiter*innen zu versorgen, da sie nach Arbeitskräften verlangen. Es gibt eine Festung Europa, aber sie hat Zugangswege für die, die für diejenigen, die in der Festung kommandieren, von Nutzen sind. Fast 30 Prozent unserer Bevölkerung hat deshalb mittlerweile einen Migrationshintergrund. Dazu gehören Geflüchtete, EU-Bürger*innen, aber es werden auch diejenigen dazu gezählt, die Deutsche sind, aber auf eine Einwanderungsgeschichte blicken können. Einwanderungs- und Asylpolitik wird uns in den nächsten Jahren weiter beschäftigen, vermutlich sogar mehr.

Uns ist es als Partei bisher nicht gelungen, über Migration aus einer Klassenperspektive in der Öffentlichkeit zu reden, also z.B. die hier arbeitenden Geflüchteten oder Pol*innen als wichtigen Teil unserer Arbeiter*innenklasse sichtbar zu machen und gleichzeitig die Herausforderungen (z.B. nötige Sprachkurse, Herausbildung benachteiligter Nachbarschaften) anzusprechen, um sie zu bewältigen. Es ist uns auch nicht gelungen, jenseits unseres Eintretens für die Bewegungsfreiheit von Menschen, durch ein eigenes linkes Einwanderungsgesetz einen Vorschlag zu machen, wie wir unter den gegebenen Kräfteverhältnissen mehr sichere Wege in die Festung Europa schaffen wollen. Und es ist uns nicht gelungen, uns den Teilen der deutschen Arbeiter*innenklasse zuzuwenden, die einen Migrationshintergrund haben, und für sie nützlich zu sein. Wir haben die Spaltung zwischen Innen und Außen, die in der Öffentlichkeit stark gemacht wird, nicht durch eine Spaltung zwischen Oben und Unten ersetzen können, in der das Unten eben auch aus Menschen besteht, die Serdar, Anda, Bojan oder Bahira heißen. All das hat zur Krise unserer Partei beigetragen.

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Um uns aus der Krise herauszuarbeiten, müssen wir eine realistische Einschätzung der Situation gewinnen, in der wir uns gesellschaftlich und politisch befinden. Wer sich Illusionen macht, kann nur scheitern. Die wichtigste Einsicht ist: Wir leben in einer Periode der Instabilität und der Umbrüche, weil sich mehrere Krisen miteinander verschränken und die politische Situation prägen, in der wir uns befinden.

Gleichzeitig mutet Deutschland, vergleicht man die Lage bei uns mit der etwa in Griechenland oder den USA, noch wie eine Insel des Wohlstands und der Ruhe an. Und in der Tat gibt es bei uns viele Reformmöglichkeiten, für die es sich zu streiten lohnen würde – allerdings werden uns wertvolle Reformen, die als eine Art von Wendepunkten das Leben von Millionen verbessern würden, nicht geschenkt. Wir werden sie hart erkämpfen müssen. Wenn wir die Dialektik von Instabilität und Reformmöglichkeiten nicht bedenken, zugleich also Politik mit einem weiten revolutionären Horizont denken und gleichzeitig kreativer Reformmotor werden, werden wir unsere Partei nicht erneuern können.

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Die Klimakrise droht zur Klimakatastrophe zu werden, wenn alles genau so weitergeht wie bisher. Und danach sieht es im Moment aus. Die Folgen werden unser Leben radikal verändern, nicht erst in 30 Jahren. Dürren, Hungersnöte, Wasserengpässe, steigende Nahrungsmittelpreise führen schon heute dazu, dass zunehmend mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Das wird den Druck auf die Festung Europa erhöhen. Europa droht in den nächsten 20 bis 30 Jahren teilweise zur Wüste zu werden, imperiale Konflikte um Wasser, Nahrung und Rohstoffe werden zunehmen. Rüstung und militärische Sicherheitsstrategien preisen all das bereits ein.

Jede Partei, die die Interessen der arbeitenden Klassen und der Ärmsten in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt, muss darum alles daran setzen, zum einen möglichst viel Klimaschutz durchzusetzen, um das Schlimmste zu verhindern, und zum anderen aber den notwendigen wirtschaftlichen Umbau (z.B. Rückbau der Industrie, Ausbau des Nahverkehrs etc.) und die gesellschaftlichen Anpassungsmaßnahmen (z.B. flächiger Ausbau von Kältehallen, Programme, um Wohnungen hitzefest zu machen, Deichbauprogramme) sozial zu gestalten. Ohne ökosozialistische Perspektive werden wir unsere Partei nicht erneuern können.

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Eine sozialistische Partei für unsere Zeit muss links sein, ohne Komplexe zu haben. Und sie muss eine Partei sein, die dabei hilft, denen in unserer Gesellschaft eine Stimme zu geben und Macht aufzubauen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. In diesem Sinne sollte die Linke daran arbeiten, Arbeiter*innenpartei zu werden, - wohlgemerkt eine, die unterschiedliche Schichten (z.B. Niedriglohnbeschäftige und tariflich gut abgesicherte Beschäftigte, einfach- und hochqualifizierte) und Fraktionen (z.B. Beschäftigte der Gesundheitswirtschaft und Beschäftigte der Maschinenbauindustrie) ansprechen, unterstützen und organisieren will.

Dafür braucht es natürlich eine entsprechende Reformpolitik und Öffentlichkeitsarbeit. Aber ohne Politik der Solidarität werden wir keine Arbeiter*innenpartei werden. Eine Politik der Solidarität hat drei Standbeine: Erstens, organisierende Arbeit, ob nun im Versuch Mieter*innen zu organisieren oder – wie etwa in der Kampagne „Wir fahren zusammen“ – konkrete gewerkschaftliche Auseinandersetzungen zu unterstützen. Zweitens, Linke-hilft-Strukturen, also z.B. Sozialberatung oder Nebenkosteninformationsstunden, die auch darauf zielen, die Leute miteinander ins Gespräch zu bringen. Drittens, eine neue politische Praxis in unserer Partei, die darauf hinausläuft, der Berufspolitiker*innen- und der damit verbundenen Karrierekultur auch bei uns entgegenzuwirken.

Es ist völlig richtig, dass Abgeordnete von ihren Diäten abgeben und bereits spenden. Eine transparente und verbindliche Regelung für alle Landtags- und Bundestagsabgeordnete für höhere Diätenabgaben, die in kollektive Solidaritätsfonds fließen können, und die Begrenzung der Mandatszeiten würden dazugehören. Ohne diese Politiken der Solidarität, ohne unsere Nützlichkeit und unsere Andersartigkeit praktisch zu beweisen, werden wir unsere Partei nicht erneuern können.

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Im Moment kommen wir in der Öffentlichkeit kaum vor. Nötig ist ein organisationspolitischer Kassensturz, um zu erfassen, in welchen Kommunen, Städten und Regionen wir eine handlungsfähige Basis haben, wo wir sie ausbauen und stärken können. Dafür brauchen wir einen strategischen Aufbauplan, der den verschiedenen Basen auch Handlungsvorschläge macht, um gemeinsame Erfahrungen zu machen und neue Stärke aufzubauen.

Wir müssen uns aber – innerhalb eines ökosozialistischen Rahmens – auch auf einige Hauptaufgaben und Kernreformen konzentrieren, für die wir geschlossen kämpfen und die wir in den nächsten Jahren in den Vordergrund rücken. Es muss darum gehen, unsere Partei mit wenigen Schwerpunkten und einigen wichtigen Reformen, die Menschen begeistern, im öffentlichen Bewusstsein zu verbinden. Wenn in drei Jahren von unserer Partei die Rede ist, muss es heißen „Das ist doch die XXX-Partei, die für XXX“ steht.

Mit Blick auf die Hauptaufgaben könnte das heißen, für eine ökologische Wirtschaft, die dem Gemeinwohl dient einzutreten; einen Klimasozialstaat zu fordern, der gleichzeitig die grundlegende Daseinsvorsorge sichert, die in vielen Regionen nicht mehr funktioniert (Einkaufen, Gesundheitsversorgung, Nahverkehr etc.), als auch Beschäftigung und Jobübergänge sozial absichert, und so den nötigen Klimaschutz überhaupt erst erreichbar macht; für eine solidarische Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik eintreten, die Arbeitszeiten verkürzt, auf dieser Basis die Arbeit umverteilt, soziale Sicherheit fördert und Gewerkschaftsmacht stärkt.

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Aus der Krise wird es unsere Partei nur schaffen, wenn es uns gelingt, Probleme zu beseitigen, politische Streitfragen zu klären und gleichzeitig absolut einig nach außen aufzutreten. Eine zerstrittene Partei macht niemandem Hoffnung. Und das müssen wir. Es ist richtig, wir müssen immer von der Dringlichkeit von Problemen und Krisen sprechen, wir wollen ja Dinge verändern. Aber wir müssen auch Hoffnung stiften, dass sich etwas ändern lässt. Einigkeit ist eine Voraussetzung.

Dafür brauchen wir allerdings auch glaubwürdige Gesichter, die wiedererkannt werden können. Das bedeutet ganz pragmatisch, Menschen bekannt zu machen. Das linke Bilderverbot (zum Beispiel sehr viel Text auf Plakate, wenige Gesichter) muss weg, wir müssen Köpfe bekannt machen, um Herzen zu erreichen. Aber es bedeutet auch ganz grundsätzlich zu versuchen, Menschen aus der Arbeiter*innenklasse zu gewinnen, politisch zu unterstützen und auszubilden, um sie zu politisch führenden und für uns sprechende Kräfte zu machen: Pfleger*innen genauso wie Busfahrer*innen, Amazonbeschäftigte oder Anlagenelektroniker aus der Industrie. Ohne diese doppelte Personalisierung werden wir unsere Partei nicht erfolgreich erneuern können.