Schweden und Finnland wollen in die NATO

Denkt man an schwedische Außenpolitik, so  kommen einem wohl am ehesten die Begriffe Neutralität und Bündnisfreiheit sowie die Persönlichkeit von Olof Palme in den Sinn – Palme hatte sich als Ministerpräsident eben dieser Bündnisfreiheit bedient, um international vermittelnd tätig zu sein: sei es im Krieg zwischen dem Irak und dem Iran oder in der Abrüstungspolitik.  Mit dem Konzept der Neutralität fuhr das Land seit den napoleonischen Kriegen[1] gut – man leistete sich dabei zwar auch einige Widersprüche, wie eine große und exportfreudige Waffenindustrie oder auch die Tatsache, dass Eisenerz an Nazi-Deutschland geliefert wurde , wobei die Regierung dies mit der Aufnahme von Flüchtlingen zu „neutralisieren“ versuchte- doch das Ergebnis bleibt: Schweden erfreut sich einer sehr langen Periode des Friedens und es gibt nicht wenige im Land, die das der Neutralität zuschreiben [2]    

Einen ersten Einschnitt in dieses Konzept stellt der Beitritt Schwedens zur EU 1995 und die Mitwirkung an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik dar – formal konnte man Schweden  nach 2005 kein neutrales Land mehr nennen: man beteiligte sich ab dann an europäischen militärischen Strukturen und Einsätzen. Umso mehr  Bedeutung  lastete damit auf der zweiten Säule des außenpolitischen Selbstverständnis: der Bündnisfreiheit. Bis vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine lag die Ablehnung einer NATO-Mitgliedschaft recht stabil bei 75%. Dies hat sich verändert, zwar nicht so dramatisch, wie in Finnland, aber deutlich: zwischen 50 und 60% der Schwedinnen und Schweden unterstützen eine Mitgliedschaft. Unsere Schwesterpartei, die Vänsterpartiet, hatte sich für einen Volksentscheid zum Thema stark gemacht, konnte sich aber nicht durchsetzen. Stattdessen schaute Schweden gebannt auf die Entscheidung der regierenden Sozialdemokratie, die traditionell ein klarer Vertreter der  Bündnisfreiheit war: mit klarer Mehrheit befürworteten die Partei das Beitrittsgesuch Schwedens an die NATO – die Zeiten hätten sich geändert, Schweden sei durch Russland bedroht und diese Bedrohung würde durch einen Beitritt   geringer. Dann ging alles ganz schnell: am darauffolgenden Tag billigte der Reichstag nach emotionaler Debatte mit sehr deutlicher Mehrheit das Beitrittsgesuch. Die Vänsterpartiet argumentierte bis zuletzt, dass die Bündnisfreiheit und die sicherheitspolitische Abstimmung mit den Nachbarländern weiterhin die bessere Option seien – sie sah die Selbstbestimmung in Gefahr und wies auf die Gefahr der Stationierung von Atomwaffen in Schweden hin. Außerdem sah sie die Schnelligkeit der Entscheidung sehr kritisch – vor dem Hintergrund eines nicht ganz klaren Meinungsbildes in der Bevölkerung. Diese sicher sehr stichhaltigen Argumente fanden keine Mehrheit: in der Außenpolitik hat sich Schweden in ein neues Zeitalter aufgemacht.

Auch Finnland segelt neuen Ufern entgegen: Regierung, Sicherheitsrat und Staatspräsident, dem verfassungsgemäß in der Außenpolitik eine wichtige Rolle zukommt, haben sich auf das Beitrittsgesuch verständigt – die Zustimmung des Parlaments gilt als Formsache. Für die Linke ist die Situation noch komplizierter als für die Vänsterpartiet in Schweden: während Vänster eine konsistente Position aus der Opposition heraus vortragen konnte, die sich auf hohe Unterstützungswerte in der Bevölkerung und die eigene Programmatik stützt, stand die EL-Mitgliedspartei Linksbund vor einer anderen Situation:

deutlich mehr als 75% der Finninen und Finnen sprechen sich für den Beitritt des Landes zur NATO aus – obwohl die Zustimmungswerte zur Bündnisfreiheit vor dem Krieg ganz ähnlich wie in Schweden aussahen. Es handelt sich also um einen schnellen und vor allem sehr deutlichen Meinungsumschwung, der stark mit der Geschichte des Landes zu tun hat: Finnland und Russland teilen eine über 1300 Kilometer lange Grenze, die Geschichte beider Länder ist eng miteinander verzahnt. Finnland ist erst seit 1918 ein unabhängiger Staat und war zuvor Teil des russischen Zarenreiches. Die Oktoberrevolution machte die Sezession und die Staatenwerdung möglich – die Sowjetunion erkannte Finnland als unabhängigen Staat an. Mit dem Überfall Stalins auf Finnland 1939 (Winterkrieg) begann ein für Finnland traumatisches Kapitel. Die blutigen Kämpfe in Karelien und die erzwungene Abtretung von Staatsgebiet haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben: der Winterkrieg spielt in Finnland erinnerungspolitisch eine so wichtige Rolle wie der 1. Weltkrieg  Großbritannien. Die Lehre daraus war – ein bisschen vereinfacht gesagt: traue Deinen großen Nachbarn nicht, bereite Dich vor, aber reize ihn auch nicht.  Daraus entstand die finnische Bündnisfreiheit, die durch ein starkes nationales Militär und enge wirtschaftliche Kontakte mit dem großen Nachbarn im Osten und den westlichen Partnern ermöglicht wurde.

 Aus dem Krieg gegen die Ukraine und die Drohungen des Kremls gegen Finnland ziehen viele Bürgerinnen und Bürger den Schluss, dass diese Gleichung nicht mehr gilt – Russland handelt ohne Rationalität, die Grundidee funktionierender Außenpolitik – der Interessensausgleich – wurde zu Gunsten imperialer Machtansprüche    aufgegeben. Finnland habe keinen speziellen Zugang  zu Russland mehr, werde vielmehr konkret bedroht, weswegen auch die Bündnisfreiheit obsolet sei -diese Sicht hat sich gesellschaftlich durchgesetzt.

Dies muss der Linksbund als Teil der Regierung zur Kenntnis nehmen – obschon ihre Programmatik in Bezug auf die NATO ganz ähnlich der unserer Partei ist. So war eine mögliche NATO-Mitgliedschaft vor der Regierungsbeteiligung von den Gremien als rote Linie benannt worden. Was hat der Linksbund nun in dieser schwierigen Situation getan?   Zunächst entschieden die gleichen Gremien mit großer Mehrheit, dass sich die Situation so sehr verändert habe, dass ein Beitrittsgesuch nicht automatisch zu einem Rückzug aus der Regierung führen müsse und dass auf dem Parteitag im Juni intensiv über das Thema diskutiert werden soll: dazu soll ausdrücklich die Entwicklung von sicherheitspolitischen Alternativen gehören aber auch eine Analyse der Fehleinschätzungen der Partei gegenüber Russland. Ferner wurde damit gerechnet, dass die Abstimmung im Parlament freigegeben wird und dass beim Linksbund keine einheitliche Abstimmung geben wird:  die Parteivorsitzende Li Andersson warb in einem Tweet ausdrücklich darum, dass Linke in Finnland sowohl für als auch gegen die NATO sein können und fasst somit sehr gut die durch die russische Aggression veränderte Situation zusammen. Entsprechend fiel auch die Abstimmung im Parlament aus: neun Abgeordnete des Linksbunds stimmten am 17. Mai für den Beitrittsgesuch, sechs dagegen (insgesamt: 188 ja, 8 nein)

Übrigens hat das angekündigte Veto der Türkei zum Beitritt Finnlands und Schwedens  ausschließlich den Zweck, den Handlungsspielraum Erdogans für sein gewaltsames Vorgehen gegen die Kurdinnen und Kurden und anderer Minderheiten innerhalb und außerhalb des türkischen Staatsgebiets noch zu erweitern. Hierauf muss genau geschaut werden, besonders weil die Kritiklosigkeit der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten gegenüber den völkerrechtswidrigen Angriffen im Nordirak uns ganz deutlich macht, warum prinzipielle und fundamentale Kritik an der NATO weiterhin notwendig ist. Sie ist eben kein Werte – sondern ein Interessen geleitetes Militärbündnis.

Die Kritik an der NATO in die Öffentlichkeit zu bringen reichte aber schon nicht in der Vergangenheit  und ganz besonders heute nicht: die Botschaft muss an die Realitäten angepasst werden und das bedeutet in diesem Fall ganz besonders, die Leerstellen zu füllen: wie kann denn Sicherheit außerhalb der NATO garantiert werden? Welche Rolle sollten die UNO und die EU spielen? Wie kann Abrüstungspolitik wieder populär gemacht werden? Wir müssen viel stärker und vor allem zügig nach vorne denken: in der Partei DIE LINKE, in der Partei der Europäischen Linken (EL), zusammen mit unseren Schwesterparteien, weiteren progressiven Kräften und der Wissenschaft. Machen wir uns auf, es gilt keine Zeit zu verlieren.

 

[1] Der Gedanke der Neutralität hielt Schweden aber nicht davon ab, eigene imperiale Kriege in der Zeit Napoleons zu führen, so gegen Norwegen und Dänemark 

[2] Neutralität bedeutet völkerrechtlich, dass eine Nation keiner kriegsführenden Partei oder keinem militärischen Bündnis angehört