Analyse

Bolivien: Linker Wahlsieger vor großen Problemen

MAS-Kandidat Luis Arce (mitte) jubelt in der Wahlnacht

Boliviens Linke jubelt: Der Wahlsieg der Sozialisten fällt deutlicher aus, als in den Prognosen vorhergesagt. So deutlich, dass selbst die Rechte den Wahlsieg der "Bewegung für den Sozialismus" (MAS) von Ex-Präsident Evo Morales anerkennt. Demnach erreicht der linke Präsidentschaftskandidat Luis Arce 52 bis 53 Prozent der Stimmen. Sein Gegenkandidat Carlos Mesa liegt rund 20 Prozentpunkte dahinter. Die Zahlen beruhen auf Nachwahlbefragungen. Mittlerweile haben auch die erzkonservative Übergangspräsidentin Jeanine Áñez und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den Sieg der MAS bestätigt. Besonders bemerkenswert waren die Glückwünsche von OAS-Generalsekretär Luis Almagro. Hatten er und die OAS nach der Wahl im Oktober 2019 mit ihren Vorwürfen des Wahlbetrugs doch den Weg bereitet für den Sturz von Präsident Morales. Die Vorwürfe hatten sich später als haltlos erwiesen. Eine von US-Wissenschaftler*innen veröffentlichte Studie stellte fest, dass die OAS falsche Daten verwendet hatte. Nun aber ist der Wahlsieg der MAS nicht mehr zu leugnen.

Ein tief gespaltenes Land

Bleibt abzuwarten, ob die bereits mehrfach verschobenen Wahlen das tief gespaltene Land halbwegs einigen können. Nach dem Putsch gegen Evo Morales und der undemokratischen Machtübernahme durch Jeanine Añez, steuerten die Eliten das Land in allen Bereichen nach rechts. Zudem ist das Bolivien hart von Corona getroffen. So gab es nur wenige Betten mit Beatmungsgeräten und das Gesundheitswesen kollabierte. Vor den Wahlen eskalierten außerdem gewalttätige Auseinandersetzungen.  Insofern wäre Luis Arce der richtige Kandidat. Er war Wirtschaftsminister von Morales und gilt als der Architekt der pragmatischen, makroökomisch erfolgreichen Wirtschaftspolitik der Regierung Morales.

Mit Arce will die MAS zudem verlorene Unterstützung in den Großstädten und der nicht-indigenen Bevölkerung zurückgewinnen. Sein Vizekandidat ist David Choquehuanca, er war Außenminister unter Morales. Er symbolisiert eine gewisse Rückkehr zu dem stärker indigen geprägten Diskurs der frühen MAS-Regierungszeit. Als indigener Intellektueller und langjähriger Aymara-Aktivist ist Choquehuanca insbesondere in der indigenen Bevölkerung des bolivianischen Hochlandes gut vernetzt und angesehen. Er wurde in der Vergangenheit von Morales als eine Gefahr für seine Kandidatur betrachtet.

Gegenkandidat Carlos Mesa trat für die Bürgergemeinschaft (Comunidad Ciudadana) an. Er Journalist und Geschichtswissenschaftler und war lange der wichtigste neoliberale Ideengeber Boliviens und wurde 2002 Vizepräsident. Mesa präsentierte sich, wie bereits im Wahlkampf 2019, als moderat-sozialliberaler Kandidat, der programmatisch zwischen der MAS und den konservativ-neoliberalen Kräften um Áñez und Camacho steht.

Erfolge und Fehler der MAS

Evo Morales übernahm 2006 ein Land in desolatem Zustand. In seinen 13 Regierungsjahren erreichte Bolivien viele bedeutende soziale Erfolge, etwa in der Armutsbekämpfung und der Verbesserung des Bildungswesens. Am Ende war die Regierung aber auf Grund von internen Konflikten und politischen Fehler geschwächt. Der ausgeprägte Machtwille Morales, der unbedingt Präsident bleiben wollte, die Vernachlässigung der Städte und Bevorzugung der ländlichen Regionen (so genannte „campesinismo“), die Korruptionsskandale und die Bürokratisierung ließen den Rückhalt für die MAS schwinden.

Auch externe Faktoren spielten eine zentrale Rolle: Neben den schwierigen ökonomischen Bedingungen in der Region, war der Abscheu der weißen bolivianischen Eliten gegenüber Evo Morales und seiner meist indigenen MAS-Anhänger*innen eine Konstante in der politischen Gemengelage Boliviens. „Anti-masista“ zu sein, wurde zum Statussymbol. Die Ablehnung basiert auch auf rassistischen Elementen, die seit der Kolonialzeit tief in den sozialen Strukturen verwurzelt sind. Letztlich ging es den Eliten um die Bewahrung ihrer Privilegien und um die Ablehnung der von der MAS betriebenen Umverteilungspolitik.

Staatsstreich und Exil

Das 2016 verlorene Referendum, mit dem Morales die Amtszeitbeschränkung für Präsidenten aufheben wollte und das die MAS durch einen Gerichtsbeschluss aufheben ließ, war das erste einer Reihe von Ereignissen, die Bolivien in die politische Krise geführt haben. Schon vor den Wahltag am 20. Oktober 2019 war die Stimmung im Land sehr angespannt, zum Teil weil viele Morales Kandidatur als illegitim betrachteten, zum anderen auch weil die Oppositionskandidaten (darunter Carlos Mesa) vor einen möglichen Wahlbetrug warnten.

Am Wahlabend kam es zu einer Unterbrechung im Prozess der digitalen Stimmenübermittlung. Als 84 Prozent der Stimmen ausgezählt waren, deutete alles darauf hin, dass der geringe Vorsprung von Morales (47,5) vor Carlos Mesa (37,8) eine Stichwahl notwendig machen würde. Am nächsten Abend, als die Stimmenübermittlung wieder aufgenommen wurde, war der Abstand zwischen Morales und Mesa knapp über den notwendigen 10 Prozent, was für Morales einen Sieg in erster Runde bedeutete. Carlos Mesa und die Opposition riefen zur Mobilisierung gegen einen „skandalösen Betrug“. Darüber zeigte sich die OAS-Wahlbeobachtungsmission in „tiefer Sorge und Verwunderung“ angesichts des „drastischen und schwer zu rechtfertigenden Trendwechsels“. Nach Empfehlung der OAS willigte Morales in Neuwahlen ein, welche schließlich nicht stattfinden durften. Vom Oberbefehlshaber der bolivianischen Streitkräfte wurde Morales aufgefordert, sein Amt niederzulegen und das Land zu verlassen.

Die bis zu diesem Zeitpunkt relativ unbekannte Senatorin Jeanine Añez wurde in einem höchst undemokratischen Verfahren zur Übergangspräsidentin ernannt. Ihre Ernennung heizte die Konflikte an (diesmal mit MAS-Anhänger*innen auf der Straße), was letztendlich zu einer großen Eskalation von Polizeigewalt mit 18 Toten führte. Nach der Einigung zwischen Übergangsregierung und MAS wurden Neuwahlen angekündigt und, aufgrund der Corona-Pandemie, von Mai 2020 auf den 18. Oktober verschoben.

Die MAS steht vor großen Problemen

Die rechten Kandidat*innen hatten viele identische politische Ziele: u.a. weniger Staat in der Wirtschaft, weniger Einfluss für soziale Bewegungen, Austritt Boliviens aus dem Netzwerk internationaler Beziehungen, die Evo Morales geknüpft hatte, sowie Ausbau der Beziehungen zu den USA. Bolivien befindet sich in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Die MAS fordert eine zweijährige Aussetzung von Zins- und Auslandsschulden, um die Wirtschaft wieder reaktivieren zu können. Darüber hinaus fordert die MAS eine neue Reichensteuer, die nur Vermögen von über 10 Millionen Dollar (0,01% der bolivianischen Bevölkerung) treffen würde. Einen starken Fokus setzt die MAS auf Naturressourcen: Luis Arces versprach, dass sowohl Lithium als auch Erdgas und andere Mineralen unter seiner Regierung nicht privatisiert werden. Eine seiner größten Herausforderungen wird sein, den begonnenen Prozess der (Neo-)Liberalisierung zu stoppen und das Land zu befrieden. Außerdem hatte die MAS kaum Zeit und Raum, ihre Fehler und Konflikte intern zu bearbeiten. Die Opposition aus bolivianischen Sicherheitskräften, wirtschaftlichen Eliten, hegemonialen Medien und der Mittelschicht wird ihre vor einem Jahr erlangte Macht nicht so leicht wieder abgeben wollen und es ist nicht auszuschließen, dass sie bereit sind, sich diese auch mit undemokratischen Mitteln zurück zu holen.