Wie die AfD die Gemeinderäte kapern will

Mehr als 300 Menschen folgten dem Aufruf des Bündnisses "Höri, Gemeinsam für Demokratie" und demonstrierten vor dem Rathaus Öhningen gegen Rechtsextreme. Die Linke - Kreisverband Konstanz unterstützte die Aktion.

Öhningen, mit knapp 4.000 Bewohner*innen, ist eine kleine Gemeinde im Landkreis Konstanz. Das vom Zwiebelturm eines mächtigen alten Klostergebäudes überragte Dorf liegt am Bodensee. Genauer gesagt, auf der idyllischen Halbinsel Höri am Untersee, wo der Rhein aus dem Bodensee herausfließt und einst Kulturgrößen wie Otto Dix im „Exil“ Frieden vor den Zumutungen der Nazi-Diktatur fanden. Ein Grenzdorf. Die Schweizer Stadt Stein am Rhein ist nur ein Steinwurf entfernt. Ein touristisches Juwel.

Doch mit der beschaulichen Ruhe könnte es nun vorbei sein. Eine für diese Verhältnisse große politische Demonstration mit rund 350 Teilnehmenden - laut Angaben der örtlichen Polizei zum ersten Mal seit 1945 – erhitzt nun die lokale Wahlbevölkerung. Drei Bundestagsabgeordnete, eine Landtagsabgeordnete, zwei Geistliche und drei Bürgermeister hielten sich mit ihren klaren Botschaften auf dem Klosterplatz direkt vor dem Rathaus Öhningen nicht zurück: Die AfD ist eine demokratiefeindliche Partei. Eine Zusammenarbeit mit ihr ist undemokratisch.

Anlass zur vom Bündnis „Höri, Gemeinsam für Demokratie“ organisierten Kundgebung ist die Befürchtung, dass die AfD die für 9. Juni anstehenden Gemeinderatswahlen mit Listen sogenannter Windkraftgegner*innen kapert, um endlich auch bei der dörflichen Demokratie mitreden zu können. In vielen Gemeinden, nicht nur in den östlichen Bundesländern, sondern längst auch in den ländlicheren Teilen Baden-Württembergs, versucht die AfD nun Fuß zu fassen.

Bürgerinitiativen als „trojanische“ Pferde

Ihr Vorgehen ist dabei alles andere als offen. Vielmehr inszeniert und befeuert sie Bürgerinitiativen rund um lokale Streitthemen und Unzufriedenheiten und nutzt schließlich deren Glaubwürdigkeitsbonus als Basisdemokratische Initiativen. Nur wer genauer hinschaut, erkennt Hinweise auf eine dezente Steuerung durch die „Alternative“.

So auch in den Höri-Gemeinden Öhningen und Moos. Rund um den Höri-Hausberg „Schienerberg“, auf dessen Kuppe von Land und Gemeinde mehrere Windkrafträder und Solarparks geplant werden, formiert sich aufrichtiger Umweltschutz und dubiose Gegnerschaft. Die Gemeinde Öhningen selbst ist nur für ein einziges Windrad verantwortlich, welches vom Land finanziell gefördert werden soll.

Eine lokale Bürgerinitiative, „Freunde der Höri“ gibt sich aufklärerisch, doch es fällt auf, wie sehr die Kritik und Gegenargumente zur Windkraft (Atomkraft ist die Lösung etc.) aus der Mottenkiste des AfD-Grundsatzprogramms entlehnt wurden. Fakten bezieht die Initiative von Vernunftkraft – der Bundesinitiative für vernünftige Energiepolitik. Diese gilt allerdings als der führende Windkraftgegner-Lobbyverband und fungiert als Dachverband von ungefähr 920 Bürgerinitiativen. Der 1. Vorsitzende Nikolai Ziegler ist, laut Greenpeace, ein Zweifler am wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel.

So stehen die Vorgänge in Öhningen beispielhaft für ein strategisch geplantes Vorgehen der AfD. Es entsteht der Eindruck, dass den rechtsextremen Aktivist*innen jedes Thema recht ist, Hauptsache es spaltet und entzweit die lokalen Gemeinschaften.  

Eine AfD-inszenierte „parteiunabhängige“ Kandidatenliste

Alles fing mit einem Waldspaziergang im Oktober 2023 an. Zu dem hatte der AfD-Aktivist Thorsten Otterbach eingeladen. Während des Spaziergangs zum geplanten Standort eines der Windräder wurde über die vermeintlichen Gefahren aufgeklärt, die von Windkraftanlagen ausgehen sollen. Otterbach, der im Jahr 2021 im Landkreis Konstanz erfolglos für den Landtag kandidierte, wurde unterstütz von einem selbsternannten Experten: Walter Schwäbsch, ein Diplom-Geograf, Unternehmensberater, seit 35 Jahren Reserveoffizier und Beisitzer im Kreisvorstand der AfD in Konstanz. Angeblich sei beim Spaziergang spontan die Idee entstanden, eine Liste für die Gemeinderatswahlen zusammen zu stellen.

Kurz vor Weihnachten folgte der nächste Schritt: Diesmal lud Otterbach zu einer Versammlung am 11. Januar 2024 nach Öhningen-Wangen ein. Dort sollten Taten folgen. „Wir haben jetzt die Möglichkeit über eine eigene parteiunabhängige Liste in die Gemeinde- und Ortschaftsräte einzuziehen und unsere Ideen einzubringen und umzusetzen!“, jubelt Otterbach. Zielgruppe: Erklärte Windkraftgegner*innen, die mit dem von Otterbach ausgemachten „Megathema Windräder“ nun Politik machen wollen. Ach ja, um Grundsteuer, lokale Finanzen und Bushaltestellen soll es auch noch gehen. Man sei gegen den nun anstehenden „versehrtengerechten “ Ausbau der wenigen Bushaltestellen der Höri. War da was mit behinderten Menschen und der NSDAP?

Die Inszenierung der vermeintlich „parteiunabhängigen Liste“ setzt sich im März in einem kostenlosen Anzeigenblatt mit redaktionellem Teil fort. Dort präsentierten sich zwei angeblich besorgte Mitbürger auf der Suche nach Mitstreitenden gegen Windkraft. Der Name Thorsten Otterbach oder ein AfD-Bezug wird nicht genannt. Dafür aber verdrehte Fakten über die Arbeit eines angeblich Windkraft-Lobby-hörigen Öhninger Gemeinderats.

Otterbach taucht wenig später wieder auf. Diesmal als offizieller Kandidat auf Platz vier der von ihm initiierten Liste „Initiative Gegenwind“. Vor ihm auf Platz drei: Seine Teenager-Tochter, die als die jüngste Kandidatin der Höri-Gemeinde vorgestellt wird. Mit dem Ziel „Ökologie- und Naturschutzaspekten bei Windrädern mehr Gehör zu verschaffen“.

Thorsten Otterbach ist nicht nur Kandidat. Er ist im Rathaus Öhningen auch als einer der zwei Vertrauenspersonen der IGW offiziell eingetragen. Der Zweite, Ulrich Ruth, ebenfalls Kandidat der IGW, stellt sich in der Ausgabe der rechtsextremen Preußischen Allgemeinen Zeitung am 10. März 2023 in einem Leserbrief als Sohn eines „hauptamtlichen HJ-Führers für Oberschwaben“ vor und verunglimpft die von den Nazis ermordeten Geschwister Scholl als „Pöbler“.

Die Liste erregt auch deshalb Aufsehen, weil es ihr gelungen ist für den ersten Platz den Bauunternehmer Justus Wolf zu gewinnen, ein Mitglied der von Nazis verfolgten lokalen jüdischen Arzt-Familie Wolf. Auf Nachfragen des Südkuriers, gibt ein Listenmitglied, Karin Glasze-Kolitzus, an, dass sie und Justus Wolf seit 2011 „eine gute Nachbarschaft“ mit Otterbach „pflegen“. Wolfs jüdische Vorfahren starben in Konzentrationslagern, sein Großvater Nathan Wolf war in Dachau, wie im digitalen Familienarchiv belegt ist. Im Kapitel ‚Im Gegenwind‘ informieren Anne Overlack und Uli Braun zudem über die Hilfe von Justus Wolfs Vater Gert bei der Tätersuche nach der Verwüstung des jüdischen Friedhofs in Wangen im Jahr 1992. Dieser war auch der Grabstein des Großvaters zum Opfer gefallen. AfD-Mitglied Otterbach wohnt direkt hinter dem Familienhaus der Wolfs.

Demonstration der Demokrat*innen

Solch massive Geschichtsvergessenheit und das Kapern der lokalen Streitthemen wollten einige Höri-Demokratinnen und -Demokraten nicht hinnehmen. Als es bekannt wurde, dass die IGW offiziell zur Wahl stellt, formierte sich spontan ein Bündnis von Menschen, die demokratischen Parteien nahestehen, der Name „Höri, Gemeinsam für Demokratie“. Ziel: Die Wähler*innen darüber aufzuklären, dass es sich bei der IGW um eine AfD-Tarnliste handelt. Gleichzeitig sollten eventuelle Windkraftgegner auf der Liste, die jedoch keine AfD-Sympathisanten sind, gewarnt werden, dass sie die Verantwortung tragen müssten, falls die AfD durch die Hintertür in den Gemeinderat einzieht und dort über alle weiteren Themen neben Windkraft künftig mitentscheidet.

So kam es zur Kundgebung vor dem Rathaus in Öhningen am 4. Mai mit Polit-Prominenz und über 300 Teilnehmern – historisch für die kleine Gemeinde. Gesprochen haben die Bundestagsabgeordneten des Landkreises Konstanz, Andreas Jung (CDU), Lina Seitzl (SPD) und Ann-Veruschka Jurisch (FDP) sowie die Landtagsabgeordnete von Bündnis 90/Grüne, Neşe Erikli. In leidenschaftlichen Reden waren sie sich – jenseits der Tagespolitik – einig: Wehret den Anfängen! Die Brandmauer müsse stehen. Auch die Warnungen der beiden Höri-Pfarrer, ein Katholik und ein Protestant, waren deutlich. Die Vertreter des Bündnisses „Höri, Gemeinsam für Demokratie“ erinnerten die Teilnehmer daran, wieviel Mühe sich die IGW gemacht habe, nachdem Kritik gegen sie laut wurde. Sie hatten nämlich die Flyer des Bündnisses plagiarisiert, und in alle Briefkästen der Höri verteilt. Keine der 19 Kandidat*innen der IGW-Liste haben sich bisher von der AfD und deren völkischen und menschenverachtenden Positionen distanziert.