Dokumentation

Die Geschichte läuft nicht von selbst in die richtige Richtung

Rede der langjährigen Leiterin des Karl-Liebknecht-Haus, Claudia Gohde, zum Abschied

Vor einigen Wochen hat Daphne Weber (Mitglied des Parteivorstandes und etwas jünger als ich es war, als ich zur Partei kam) bei Facebook die Frage gestellt, ob die Linke in den 80er Jahre weiter war. Sie hat in Archiven gestöbert und gefunden, dass Frieden und Feminismus, Ökologie und Klassenfragen, Wirtschaft und Diversität schonmal mehr zusammen gedacht wurden, weniger als unvereinbar angesehen wurden.

Nach etwa 30 Jahren hauptamtlicher Tätigkeit in der Politik stelle ich mir auch die Frage, ob wir heute weiter sind oder nicht.

Ich finde JA, auch wenn es gerade ganz schön schwer ist.

Es waren in den 80ern einzelne Bewegungsgruppen, die aufeinander zugegangen sind. Wir haben das in Göttingen, wo ich das erste Viertel meines politischen Lebens zugebracht habe, auch probiert. Meinen AStA-Vorsitz Anfang der 80er verdanke ich einer „Linken Bündnisliste“ aus örtlicher Anti-AKW-Bewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Lesben-- und Schwulenbewegung, Antifas und -Antireps, Häuserkämpfer*innen und Internationalist*innen. Das war durchaus erfolgreich. Die Bewegungen waren relativ stark und es fand nicht umsonst parallel der Parteibildungsprozesse der Grünen statt, der von einigen Bewegungsleuten auch unter dem Motto „jetzt wählen wir uns selbst“ geführt wurde und der vom linken Flügel auch als bunter und nicht nur grüner Prozess angesehen wurde.

Es wurde dann doch „nur“ grün, warum, ist ein eigenes Thema. Aus der gesellschaftlichen Linken machte ein Teil mit, ein anderer Teil blieb enttäuscht zurück und hatte noch mehr Skepsis gegenüber dem parlamentarischen Weg, und besann sich wieder auf die eigenen Bewegungsanliegen. Es gab weder eine gemeinsame Organisation noch eine gemeinsame Theorie. Und die ganze Vielfalt der Bewegungen ließ ein Thema außen vor oder behandelte es nur theoretisch: die Klassenfrage. Die Gewerkschaften waren nur sehr begrenzt Teil des 80er-Jahre-Prozesses. Sie waren fest bei der SPD verankert, zahlreiche Linke waren in den Gewerkschaften an deren Vasallentreue zur Helmut-Schmidt-SPD der 70er Jahre gescheitert.

Als sich Anfang der 90er Jahre die PDS anbot, war das eine schier unmögliche Situation: Die Grünen auf dem Parteiweg, die Linken in der Defensive, Parlaments-skeptisch und / oder auf Nie-wieder-Deutschland-Kurs. Fassungslosigkeit gegenüber den Problemen der PDS. Und umgekehrt. Das noch mal auszumalen, sprengt den Rahmen.

Jedenfalls ist es ein Wunder und ein Glück, dass die PDS sich gerade so bis zur Fusion mit der WASG in das bundesrepublikanische Politikgeschäft geboxt hat und dann endlich ein Schub im Westen kam. Ich war von 1991 bis 1997 als Mitglied im Parteivorstand für die Westentwicklung zuständig. Das waren sechs Jahre, in denen im Westen nichts voranging, jahrelang nahmen wir jährlich das 3.000ste Mitglied auf. Und ich gab am Ende entnervt auf. Zum Glück stabilisierte sich die PDS im Osten und entwickelte – entgegen ihrem schlechten Image – über sehr intensive und schmerzhafte Debatten und insbesondere über ihre Bundestagsfraktion eine respektable linke Linie.

Ich überspringe die Fusion. In den 15 Jahren seit der Gründung der LINKEN haben wir – um auf Daphne zurückzukommen – eine Organisation, in der all die oben genannten Bewegungen und die Gewerkschaften einen programmatisch verankerten Platz haben, die ein gemeinsames Handeln und mit der verbindenden Klassenpolitik ein gemeinsames theoretisches Verständnis entwickelt hat. Und diese Organisation ist in diversen Parlamenten vertreten. Linke Positionen kommen in Nachrichten, Berichten und Talkshows vor. Stellt euch vor, dass das alles wegfällt und Facebook, Twitter und Telegram auch, in die Nachrichten kommt, man nur, wenn es Krawalle gibt. Leute, wir sind zum Glück um Meilen weiter als in den 80ern. Mehr Organisation, mehr Theorie, mehr Öffentlichkeit!

Danke, Daphne, dass du mich angeregt hast, das auszusprechen.

Apropos Dank

  • an die vielen bekannten und unbekannten Mitglieder dieser Partei, die für die linke Idee ackern, auf die Straße und an die Haustüren gehen und in den Parlamenten sind, und die ihre Beiträge zahlen,
  • an die verschiedenen Chefs und Cheffinnen, die mir vertraut, die mir die Partei anvertraut und die mich geachtet haben,
  • an Freundinnen und Freunde, mit denen ich über Jahre in unterschiedlichen Konstellationen über die Wege der Partei diskutiert und gestritten habe,
  • an Arbeitspartner*innen für die Unterstützung und vor allem die viele Geduld, die unsere manchmal rumpeligen und langwierigen Entscheidungswege erforderten,
  • an die früheren und jetzigen Kolleginnen und Kollegen für die solidarische und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich bitte um Entschuldigung für Verletzungen und Ungeschicklichkeiten. Besonderen Dank spreche ich an die Betriebsrätinnen und Betriebsräte aus, mit denen ich manche Betriebsvereinbarungen ausgehandelt habe und manche Kuh übers Eis und wieder runtergeschoben habe. Ich danke den Bereichsleiter*innen, die das wichtigste Kollektiv für die Geschicke des Hauses sind und für die ich mir Achtung und Respekt seitens der Vorstände wünsche.

Nun zum Schluss.

Genossinnen und Genossen, unsere Lage ist gerade beschissen. Manche meinen, so schlimm war es noch nie. Dem widerspreche, ist allerdings. Mein erster Wahlkampf für die PDS endete am 2. Dezember 1990 mit einem Ergebnis von 0,3 Prozent im Westen. Es war eigentlich irrational, dann in den Parteivorstand zu gehen und die Linke im Westen aufbauen zu wollen. Aber die PDS kämpfte, veränderte sich, stabilisierte sich. Das Jahr 2002 war die nächste schwere Klatsche. Aber 2005 gab es uns – zum Glück. Und es entstand die WASG – zum Glück. Und die Verantwortlichen waren so klug, die Gunst der Stunde zu nutzen. Der Wahlkampf 2005 war die tollste Zeit. In den vergangene 15 Jahren haben wir so viel gelernt, entwickelt, erkämpft. Das habe ich im ersten Teil beschrieben.

Wir sind viel klüger und erfahrener geworden, wir sind professioneller.

Aber wir sind auch angeschlagen.

Die Geschichte läuft nicht von selbst in die richtige Richtung und schon gar nicht linear. Jede Geschichte, jede Entwicklungsstufe muss selbst gemacht werden.

Diese Aufgabe muss ich nun euch in diesem Haus hinterlassen. Es fällt mir schwer, gerade in diesem Moment loszulassen, nicht mehr direkt teilzunehmen, aber so, wie sich andere vor mir auf die kommende Generation verlassen konnten, lege ich die Aufgaben jetzt gerne in eure Hände. Macht das Beste daraus!