Im Kampf gegen sexualisierte Gewalt

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist die barbarischste Form geschlechtsspezifischer Ungleichheiten und war lange Zeit verborgen. Besonders deutlich wurde dies in Fällen sexualisierter Gewalt, bei denen die Überlebenden nicht geschützt und unterstützt wurden, sondern im Gegenteil für die erlittenen Übergriffe verantwortlich gemacht und stigmatisiert wurden.

Wir verfügen immer noch über unzureichende Daten, um das Ausmaß sexualisierter  Gewalt zu ermessen, aber die Schätzungen sind erschreckend, auch wenn wir wissen, dass sie nur die Spitze des Eisbergs zeigen: Nach der bisher einzigen Makroerhebung der Agentur für Grundrechte aus dem Jahr 2014 haben rund 62 Millionen Frauen in der Europäischen Union, also jede dritte, seit ihrem 15. Lebensjahr physische und/oder sexualisierte Gewalt erfahren[1]. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen schätzte 2019 die Kosten der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen in der EU auf mehr als 290 Milliarden Euro. Eine Zahl, die sich nur auf die wirtschaftlichen Auswirkungen bezieht und nicht berücksichtigt, dass sich die Gewalt gegen Frauen und Mädchen während der COVID-19-Pandemie erhöht hat. Tatsächlich wurde festgestellt, dass "eine Zunahme der Prävalenz und des Ausmaßes geschlechtsspezifischer Gewalt gemeldet wurde, insbesondere bei sexualisierter Gewalt und Gewalt in Partnerschaften" sowie bei digitalen Formen der Gewalt gegen Frauen*, einschließlich Online-Belästigung, bildbasiertem sexuellem Missbrauch und Cybermobbing[2].

Abgesehen von den Zahlen ist es von entscheidender Bedeutung, den körperlichen, sexuellen, psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Schaden und vor allem das Leid, das Überlebende sexualisierter Gewalt erfahren, zu benennen und zu beheben. In diesem Sinne müssen wir die Stimmen von Frauen*, Jugendlichen und Mädchen* wertschätzen und Denjenigen dankbar sein, die in den letzten Jahren den Mut hatten, ihre Stimme zu erheben, sich öffentlich zu äußern und über die sexuellen Übergriffe zu berichten, denen sie ausgesetzt waren.

Die "Me Too"-Bewegung war in dieser Hinsicht ein Katalysator, der einen sozialen und rechtlichen Wandel fördert, der auf dem Bewusstsein der globalen und massiven Realität sexualisierter Gewalt beruht. Im Kontext der Europäischen Union kann man feststellen, dass in den letzten Jahren rechtliche und politische Fortschritte erzielt wurden.

Hervorzuheben sind die wiederholten Aufforderungen des Europäischen Parlaments, den Ratifizierungsprozess des wichtigsten, umfassendsten und rechtsverbindlichen  Vertrags zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen abzuschließen: die Istanbul-Konvention. Wie in der jüngsten Entschließung vom 15. Februar 2023[3] festgestellt wurde, hat die Weigerung einiger Mitgliedstaaten im EU-Rat den Beitritt der EU zu diesem Übereinkommen verzögert, das als notwendiger Mindeststandard zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt verstanden werden sollte. Allerdings scheint es so, dass bald eine Einigung erzielt werden könnte.

Außerdem wird dazu aufgerufen, zusätzliche legislative und nichtlegislative Maßnahmen zu fördern. Von besonderer Bedeutung ist der Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, der im März 2022 von der Kommission angenommen wurde und derzeit vom Europäischen Parlament erörtert wird[4].

Wir sollten auch nicht die Arbeit vergessen, die seit einiger Zeit im Europäischen Parlament in Auseinandersetzung mit MeToo und Belästigung geleistet wird.

Sowohl in diesen Normen als auch in den Entschließungen, Berichten und Fachsitzungen, die im Europäischen Parlament und insbesondere im Rahmen der Arbeiten des Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter[5] gefördert wurden, besteht ein Konsens über die nachfolgenden Punkte:

  • Sexualisierte Gewalt ist meistens Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* und stellt eine schwerwiegende Verletzung ihrer Rechte dar.
  • Trotz der Bemühungen der "Me Too"-Bewegung ist das Engagement der Europäischen Union zur Beseitigung der sexualisierten Gewalt gegen Frauen und Mädchen nach wie vor unzureichend.
  • Die Lücken bei der Erhebung statistischer Daten müssen geschlossen werden, und wir müssen sicherstellen, dass die Informationen über alle Erscheinungsformen von Gewalt vergleichbar und nach Geschlecht aufgeschlüsselt sind und zur Verbesserung der politischen und rechtlichen Maßnahmen beitragen.
  • Die Gewährleistung der Rechte und des Wohlergehens von Gewaltüberlebenden muss eine Priorität sein, auch durch Maßnahmen zum Schutz, zur Unterstützung und zur Wiedergutmachung von Opfern, die auf ihre besonderen Bedürfnisse eingehen.
  • Die Verhinderung aller Formen von Gewalt und die Verfolgung und Bestrafung der Verantwortlichen ist von entscheidender Bedeutung, um endlich diese Verbrechen auszurotten.

Es bleibt noch viel zu tun, und das Parlament muss hier eine Schlüsselrolle spielen. Es liegen schwierige Zeiten vor uns und es besteht eindeutig die Gefahr eines Backflashs. Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.

[1] https://fra.europa.eu/en/publication/2014/violence-against-women-eu-wide-survey-main-results-report

[2] https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2022

[3] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2023-0047_EN.html#ref_1_33

[4] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:52022PC0105

[5] https://www.europarl.europa.eu/committees/en/femm/home/highlights