Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen

Grundsätzlich für alles offen

Den Öko-Umbau predigen, aber Autobahnen bauen: Nicht alle Widersprüche können die Grünen wegmoderieren.

Die Grünen haben zu ihrem 40. Jubiläum ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet. Die 45. Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) unter dem Motto „Jede Zeit hat ihre Farbe“ sollte eigentlich am Gründungsort von Bündnis 90/Die Grünen in Karlsruhe stattfinden und wurde aufgrund von Corona frühzeitig in einen digitalen Parteitag umgewandelt. Die Umsetzung gelang beinahe reibungslos, wie man es von den Grünen mittlerweile gewohnt ist. Mehr als 800 Delegierte beteiligten sich. Die Parteitagsregie war sichtbar bemüht, es nicht eintönig werden zu lassen. Gelungen ist das nicht immer, und das lag nicht nur am Format. In der Eröffnungsdebatte zu Grundwerten am Freitagabend reihte sich ein höflicher, stets konstruktiver und manchmal belangloser Redebeitrag an den nächsten. Die Grünen offenbarten sich hier als Funktionärspartei mit tadellosen Umgangsformen, deren innerparteiliche Risse schon länger gekittet und deren Konzepte nach mehr als zwei Jahren Baerbock und Habeck so neu auch nicht mehr sind. Auch bei dieser BDK konnte sich der Bundesvorstand in fast allen Punkten durchsetzen.

Wachstumskritik ja oder nein? Sanktionsfreie Garantiesicherung oder bedingungsloses Grundeinkommen? Globale Erwärmung auf möglichst 1,5 Grad begrenzen oder mindestens 1,5 Grad? Um wenig ging es nicht bei dieser BDK. Vor allem am Sonntag kam Bewegung in die Debatten. Die wohl größten Auseinandersetzungen: Gegen den Antrag des Bundesvorstands wurde die Leitidee des bedingungslosen Grundeinkommens im Programm verankert. Nicht ins Programm geschafft haben es Volksentscheide als Instrument direkter Demokratie, obwohl sich auch Bundesgeschäftsführer Michael Kellner dafür einsetzte. Viele Änderungsanträge aus der Mitgliedschaft, die das Programm konkretisiert oder nach links verschoben hätten, wurden nicht angenommen. Eine Ausnahme ist der kostenlose Zugang zu Kitas und Schulen.

Die Basis trägt den Regierungskurs mit

Die Parteivorsitzenden und ihre Unterstützer*innen können sich weitgehend auf Mehrheiten verlassen, ihr Regierungskurs wird mitgetragen. Der linke Flügel ist geschrumpft und kann schon seit Jahren keine Entscheidungen mehr für sich gewinnen – durchsetzen können sich linke Forderungen nur, wenn sie von der Parteiführung eingebunden werden oder in Ausnahmen eine Mehrheit in der Basis finden. Insgesamt ist es den Grünen bei dieser BDK gelungen, ihre Rolle als Bündnispartei und Garantin einer ökologischen Modernisierung weiter zu entwickeln. Sie stellen sich zumindest rhetorisch sozialpolitisch stärker auf und wollen mit einer sanktionsfreien Garantiesicherung Hartz IV überwinden. Dazu ist es gelungen, beim 1,5-Grad-Ziel einen Kompromiss zu finden. Damit wurde eine Kampfabstimmung vorerst verhindert, doch das Thema wird die Grünen so schnell nicht loslassen. Die Reden der beiden Vorsitzenden waren diesmal eher kurz und beinhalteten nicht viele neue Aspekte.

Das neue Grundsatzprogramm ist nach 1980, 1193 und 2002 das vierte der Grünen. Der Bundesvorstand hat einen Entwurf vorgelegt, der mit breiter Beteiligung seit 2018 erarbeitet wurde. Er trägt den Titel „…zu achten und zu schützen: Veränderung schafft Halt“ und ist eine Aktualisierung des Parteiprogramms im Sinne des realpolitischen Kurses der Parteispitze. Sie skizzieren den Weg in die „ökologische Moderne“. Das beinhaltet einen neuen Wohlstandsbegriff, der sich auch an Lebensqualität und Klimaschutz misst. Sie fordern ein neues Arbeitsrecht mit fairen Löhnen und besserem Arbeitsschutz. Existenzsichernde Sozialleistungen sollen Schritt für Schritt zusammengeführt werden. Eine Garantie soll für alle gelten, deren eigenes Vermögen und Einkommen nicht ausreicht – aber „eigenes Tätigwerden muss sich immer lohnen und honoriert werden.“ Das Programm beinhaltet auch die Idee einer Republik Europa. An vielen Stellen bleibt es schwammig. Oft wurde auf der BDK damit argumentiert, dass konkrete Forderungen ihren Platz nicht hier, sondern im noch folgenden Wahlprogramm hätten.

Diskussionen um Gentechnik und Klimaziele

Mehr als 1300 Änderungsanträge wurden an den Entwurf gestellt. Die allermeisten wurden durch Verhandlungen und modifizierte Übernahmen im Vorfeld erledigt („geeint“, wie es bei den Grünen heißt). Beim Abschnitt zu Grundwerten und dem Kapitel zu Nachhaltigkeit gab es entsprechend wenig spannende Abstimmungen, obwohl dort mit der Formulierung zum 1,5-Grad-Ziel eine der strittigsten Fragen verhandelt wurde. Im Ursprungstext stand, Leitlinie der Politik sei das Klimaabkommen von Paris, „das vorsieht, die Erderhitzung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad, zu begrenzen.“ Vielen Mitgliedern war das zu wenig. Vor der Abstimmung gab es einen Kompromiss. Im Programm heißt es jetzt: „Zentrale Grundlage unserer Politik ist das Klimaabkommen von Paris sowie der Bericht des Weltklimarates zum 1,5-Grad-Limit“. Es sei daher notwendig, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen.

Bei Bildung und Forschung gab es eine Diskussion zur Genforschung. Robert Habeck warb für den Antrag des Bundesvorstands. Es ginge darum, “forschungs - und wissenschaftsfreundlich, aber kritisch in der Anwendung” zu sein. Die Grünen weichen ihre bisherige Forderung auf. Das wurde von den Delegierten mit über 70 Prozent bestätigt. Ebenfalls strittig war die Haltung zur Kooperation von Wissenschaft und militärischen Einrichtungen. Im Entwurf wird sie nicht ausgeschlossen. 60 Prozent der Delegierten stimmten gegen einen Antrag, der das ändern sollte. Auch Studiengebühren schließt der Entwurf nicht aus. Hier gab es ebenfalls den erfolglosen Versuch, das zu ändern. Bildung von wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu entkoppeln, wie ein Antrag forderte, wurde ebenfalls abgelehnt. Angenommen wurde ein Antrag der forderte, dass nicht nur Lehr – und Lernmittel, sondern auch der Zugang zu Kitas und Schulen kostenfrei sein soll.

Bedingungsloses Grundeinkommen
oder Garantiesicherung?

Die zentrale Auseinandersetzung beim sozialpolitischen Kapitel war die Frage: Fordern die Grünen ein bedingungsloses Grundeinkommen oder nicht? Im Ursprungstext war es nicht vorgesehen, dafür eine sanktionsfreie Garantiesicherung. Der u.a. von Frank Bsirske verteidigte Text wurde von den Delegierten dennoch geändert. Zwei Änderungsanträge standen zur Auswahl, die Mehrheit erhielt die Variante “Verdeckte Armut wird überwunden. Dabei orientieren wir uns an der Leitidee eines bedingungslosen Grundeinkommens”. Die vor allem von Annalena Baerbock beworbene Garantiesicherung bleibt ebenfalls im Text. Eingeführt wurde das Kapitel von der Parteilinken Ricarda Lang. Von der Überwindung von Hartz IV über bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne für systemrelevante Beschäftigte bis zur Altersarmut bei Frauen setzte sie dabei viele linke Akzente.

Die Grünen halten sich alle Koalitionsoptionen offen. Das wird auch im Wahlkampf voraussichtlich so bleiben. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner betonte auf der BDK, die Grünen wollten die CDU aus dem Kanzleramt befördern. Doch immer wieder sucht die Parteispitze den medialen Austausch mit der Union, besonders stachen dabei die Glückwünsche zum 75. Geburtstag der CDU hervor. In Richtung SPD und LINKE bleiben solche öffentlichen Kontaktaufnahmen aus. Die Anhänger*innen der Grünen sind in dieser Frage gespalten. Im Rahmen des Politbarometers von Forschungsgruppe Wahlen gaben zum Beispiel im Januar 2020 53 Prozent aller Befragten und 46 Prozent unter den Anhänger*innen der Grünen an, dass sie eine erfolgreiche Zukunft eher mit einem Kurs Richtung Mitte sehen. Nur 10 Prozent bei allen und ebenso viele der den eigenen Wähler*innen glauben, dass ein Kurs stärker nach links der erfolgreichere ist.