Wir müssen uns verändern
Seit dem 1. Januar 2024 hat sich unsere Partei in Thüringen stark verändert. Allein in Thüringen sind in diesen anderthalb Jahren über 1.700 neue Mitglieder eingetreten (von insgesamt 4400 Mitgliedern) – viele davon jung, digital vernetzt und politisiert durch aktuelle Kämpfe um Klima, soziale Gerechtigkeit, Feminismus und Antifaschismus. In der Mitgliederbefragung unseres Landesverbandes in Rahmen der Zukunftswerkstatt 2025 gaben rund 36 Prozent der Befragten an, unter 35 Jahre alt zu sein, 46 Prozent sind seit weniger als einem Jahr Parteimitglied – ein Bruch mit der früher stark überalterten Mitgliedsstruktur. Die Entwicklung zeigt eindeutig: Die Partei wird jünger, beweglicher, herausgefordert. Aber auch unerfahrener. Sowohl speziell in der Partei als auch generell bei formierter Politik.
Diese neue Generation bringt nicht nur andere Themen, sondern auch andere Erwartungen an die Parteiarbeit mit: weniger Sitzungsmarathon, mehr Wirkung; weniger Gremientreue, mehr Alltagspraxis; weniger Top-down-Kommunikation, mehr horizontale Vernetzung.
Damit verschiebt sich der Charakter der Partei – vom „Apparat mit Gliederung“ hin zur bewegungsnahen Struktur mit politischen Angeboten. Gleichzeitig müssen aber formale Abgrenzungen von Parteien, zum Beispiel zu Vereinen oder Initiativen, bestehen bleiben. Das ist der momentan negative Teil des Parteienprivilegs.
Die richtigen Formate für Neumitglieder
Neumitglieder wünschen sich politische Bildung, aber nicht als Frontalunterricht, sondern als Werkzeugkasten. Zwei Drittel gehören zum Typ der bildungsorientierten Aktiven: Sie wollen Workshops zu Moderation, Social Media, Antifa, Kampagnenplanung. Sie fragen nicht zuerst nach Theorien, sondern nach Handlungskompetenz – und wollen trotzdem wissen, wofür wir stehen. Sie fordern ein Gleichgewicht aus Skills und Haltung. Miteinander um sich „kennenzulernen“ wie zum Beispiel beim herkömmlichen Generationenaustausch oder gar der Konsens bei Streitfragen – in unserer Partei der gute alte „Formelkompromiss“ mit dem alle unzufrieden sind – lehnen sie ab. Grundlagenseminare die über ganze Wochenenden gehen sprechen nur eine kleine Minderheit an.
Diese Bildungsansprüche brauchen neue und andere Formate:
- Einstiegsangebote: Begrüßungstreffen mit Buddy-System, kurze Online-Einführungen, niedrigschwellige Möglichkeiten zum Mitmachen.
- Politische Trainings: Moderation, Versammlungsleitung, Antragsstellung, Pressearbeit – aufbereitet für Einsteiger:innen.
- Thematische Werkstätten: Feminismus, Queerpolitik, Mietenkampf, Klima, Mobilität etc – konkret, bewegungsnah, praxisorientiert.
- Hybride Formate: Veranstaltungen, die digital und vor Ort stattfinden können – inklusive Kalender und Zugang für alle.
- Soziale Orte: Kochtreffen, Lesegruppen, Spaziergänge – Orte für politische Beziehung, nicht nur Austausch von Meinungen.
- Gleichzeitig gibt es andere organisatorische Anforderungen an Bildungsformate: zeitlich begrenzt, nicht länger als paar Stunden und mindestens hybrid.
Diese Anforderungen gelten übrigens auch für den Kosmos um die Partei wie z.B. Fraktionen oder die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wie unsere Neumitglieder ticken kann in der gemeinsamen Befragung unseres Landesverbandes mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen nachgelesen werden.
Partei im Alltag
Was oft vergessen wird: Viele Neumitglieder erleben Partei nicht zuerst im Kreisverband oder auf dem Parteitag – sondern in kleinen, alltäglichen Situationen. Beim Kaffeetreffen, auf einer Demo, beim Plakatieren oder auf Discord. Partei im Alltag ist oft unprotokolliert, aber politisch wirksam: Dort wird Solidarität erlebt, dort werden Beziehungen geknüpft, dort entsteht Bindung.
Das hat strukturelle Folgen:
- Es braucht Raum für informelle Gruppen, thematisch oder projektbasiert. Nicht alles muss eine Gliederung haben, um Wirkung zu entfalten.
- Es braucht Kleinstförderung: für Material, Snacks, Fahrtkosten, spontane Aktionen. Langwierige Antragsprozedere sind ein Engagement-Killer.
- Es braucht digitale Infrastruktur, die Kommunikation einfach, transparent und verbindlich macht.
- Und es braucht die Anerkennung dieser Ebene als Teil echter Parteiarbeit – nicht als Nebenschauplatz. Es ist die tägliche Realität unserer Partei. Und diese Realität wird jeden Tag stärker.
Entsprechend müssen wir grundsätzlich unsere Satzungen und unsere Ordnungen kritisch überprüfen und verändern. Augenmerk muss auf der Stärkung der Interessenfindung und -durchsetzung der Mitglieder sein. Die neue Losung wird lauten: machen statt verwalten.
Verantwortung ist mehr als Meinung
Doch mit dieser Öffnung steigt auch der Druck auf die Partei, Verantwortung neu zu vermitteln. Es reicht nicht, politisch klar zu sein oder sich gut auszudrücken – Partei heißt auch: Prozesse einhalten, Rechtssicherheit gewährleisten, Gleichbehandlung organisieren.
Wer eine Gesamtmitgliederversammlung leitet, trägt Verantwortung für Einladungsfristen, Tagesordnungen, Mandatsprüfung, Protokolle. Wer Listen zur Kommunalwahl aufstellt, muss wissen, wie Wählbarkeitsbescheinigungen beantragt und verwaltet werden, wie ein Wahlzettel aufgebaut ist, wie geheim abgestimmt wird. Fehler in diesen Fragen können katastrophale Folgen haben: Ungültige Wahlen, verlorene Mandate, Ausschluss ganzer Listen. Hier gibt es keine zweite Chance – und keine Abkürzungen.
Deshalb braucht es:
- Schulungen für Aktive und Funktionsträger:innen für den rechtssicheren Umgang von Formalien
- Verpflichtende Schulungen vor sensiblen Aufgaben (Versammlungsleitung, Listenaufstellungen etc.)
- Mentoring-Programme, die Erfahrungswissen weitergeben – nicht belehrend, sondern solidarisch
- Kultur der Fehlervermeidung statt Fehlerbestrafung – durch klare Vorlagen, Checklisten, Unterstützung.
Das Problem des fehlenden mittleren Alters
Neben dem Zuwachs junger Mitglieder zeigt sich ein deutliches strukturelles Defizit in unserem Landesverband: Das mittlere Alter fehlt. Menschen zwischen 35 und 60 – also jene, die oft in der Gesellschaft tragende Rollen übernehmen – sind in der Partei unterrepräsentiert. Ihre Erfahrung fehlt. Gründe sind bekannt: Care-Arbeit, berufliche Überlastung, frühere Enttäuschung, fehlende Zugänge. Doch die Folgen sind dramatisch: Posten bleiben unbesetzt, Aufgaben unerledigt. Lasten verteilen sich ungleich, junge bzw. neuere Mitglieder übernehmen komplexe Aufgaben ohne ausreichende Begleitung und Fähigkeiten. Besonders gravierend wird das Problem bei der Vermittlung zwischen parlamentarischem Alltag (übrigens auf allen Ebenen) und der parteipolitischen Gewissheit. Oft können Verfahren, Hintergründe, aber auch die Umsetzung politischer Forderungen, dadurch nur schwer erklärt werden. Ein in der Wirklichkeit gar nicht existierender Widerspruch zwischen Fraktion(en) und Partei wird angenommen, obwohl er gar nicht existiert, aus purer Unkenntnis, Unwissenheit und der fehlenden Erklärung. Diese Gesellschaft, in der wir uns als demokratische Sozialist:innen bewegen, ist nun mal komplexer als manchmal angenommen.
Gezielte Beteiligung von Frauen
Trotz eines hohen Frauenanteils in der Mitgliedschaft, sinkt ihre Beteiligung in Leitungs- und Entscheidungsfunktionen deutlich ab. Vom tägliche Parteileben mal ganz zu schweigen. Die Gründe: Unvereinbarkeit mit Sorgearbeit, männerdominierte Gesprächskulturen, fehlende Rücksicht auf Belastungen, langwierige Sitzungsformate, kaum geschützter Raum für Selbstermächtigung. Auch unsere Partei reproduziert hier leider oft die Probleme, gegen die wir politisch kämpfen.
Wir brauchen:
- Verlässliche Kinderbetreuung bei Treffen
- Kürzere, planbare und hybride Sitzungsformate
- Räume für FLINTA-Vernetzung und -Empowerment jenseits von traditionellen Formaten
- aktive Einladung von Frauen zur Kandidatur – verbunden mit Unterstützung, nicht nur Erwartung
Veränderung braucht Struktur
Die neue Generation verändert die Partei. Sie bringt Aufbruch, Kritik, Tempo. Doch ohne stabile, gerechte und verlässliche Strukturen bleibt all das prekär. Es braucht kein Entweder-oder zwischen Erfahrung und Energie, zwischen Rechtsform und Bewegungsgeist, zwischen Bildungsarbeit und Alltagskampf. Es braucht beides – verbindend, lernend, auf Augenhöhe: „Lässig“ heißt nicht planlos; „offen“ heißt nicht beliebig; „neu“ heißt nicht unverbindlich, „Verlässlichkeit“ bedeutet nicht Zwang; „Verantwortung“ ist kein Hindernis, sondern der einzig gangbare Weg.
Wenn uns das gelingt, entsteht tatsächlich eine andere Partei. Eine, die nicht in alten Formen erstarrt, aber die ihre Regeln kennt. Eine, die im Alltag lebt, aber ihre Verfahren ernst nimmt. Eine Partei, die politisch auf der Straße und ernsthaft im Parlament kämpft – und gleichzeitig menschlich, demokratisch und klug organisiert ist.
Die organisatorische Herausforderung erst nehmen
Als Thüringer Landesverband versuchen wir uns seit gut dreieinhalb Jahren den strukturellen und politischen Problemen zu stellen. In einem gewillten und formierten Prozess. Immer wieder unterbrochen von jetzt gut anderthalb Jahren Dauerwahlkampf in Thüringen. Nun haben wir die erste Phase unserer „Zukunftswerkstatt“ (so heißt der Prozess inzwischen) abgeschlossen. Und eins wird klar. Es gibt die eine Lösung nicht. Auf keiner Ebene. Wir stehen vor der großen Herausforderung, etwas Neues zu schaffen, von dem wir nur die Silhouetten kennen. Gleichzeitig können wir nicht einfach das Alte abschaffen. Es droht die Katastrophe: Das Neue ist dysfunktional und das Alte bricht weg. Die Herausforderungen sind mannigfaltig und immer ein bisschen anders gelagert. Keine Schablone passt. Übrigens passt auch keine Schablone aus anderen Landesverbänden oder gar dem Bundesverband. Als Thüringer Landesverband sind wir schonmal mit dem sogenannten Thüringer Weg sehr gut gefahren. Eine eigenständige Idee, an die realen Verhältnisse vor Ort angepasst. Am Ende brauchen wir eine gemeinsame Idee und einen gemeinsamen Weg, wie wir zu unserem Ziel kommen: Eine Partei, die wir gerne sind. Und gemeinsam gestalten.