Gespräch

Verhandlungen statt Panzer

Jan: Wir wollen über die Leopard-Panzer, die Waffenlieferungen und den Russland-Ukraine-Krieg sprechen. Daphne, du hast ja letzte Woche einen Tweet abgesetzt, dass du gegen die Leopard-Lieferungen an die Ukraine bist. Ich fand das sehr gut, aber du hast veritable Shitstorms geerntet. Mal warst du Putins Freundin, mal warst du Nato-Knechtin. Darüber wollen wir heute ein bisschen reden. Die erste Frage an dich ist: Warum bist du denn gegen die Waffenlieferungen? Aber eines wollen wir beide vorwegschicken: Der Ausgangspunkt für uns beide ist, dass wir natürlich mit den Menschen in der Ukraine solidarisch sind. Wir sind Linke. Wir sind immer solidarisch mit den Geknechteten, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Und natürlich sieht unsere Lösung nicht so auch, dass die Ukraine sich einfach unterwerfen soll. Es braucht andere Wege, aber eben auch andere Wege als das Militärische. Also Daphne: Warum hast du das getweetet? Warum bist du gegen Leopard-Lieferungen?

Daphne: Ja, Twitter ist da ein bisschen problematisch. Man hat nur knapp 270 Zeichen. In der Kürze kann man natürlich schwer argumentieren. Und das Debattenklima ist oft so– alle, die sich auf diesem Kanal einmischen, kennen es –, dass es schnell eskalieren kann und Debatten häufig die Nachdenklichkeit fehlt. Genau das können wir jetzt auch beobachten. Irgendwie ist es dann wie in einem Videospiel. Man feuert eine Mannschaft an etwa „Friday“ oder „Leopards“. Das ist mir sehr fremd und ich würde mir auch von unseren regierenden Politikern mehr Nachdenklichkeit wünschen, denn ich weiß, dass die Situation sehr komplex ist.

Aber warum bin ich gegen Waffenlieferungen? Zum einen würde ich sagen, Waffenlieferungen beinhalteten in diesem Setting eine Eskalationsgefahr. Wir müssen uns verdeutlichen, dass Deutschland innerhalb eines Jahres mit der Lieferung von 5.000 Helmen startete und mittlerweile sind wir bei der Lieferung von Leopard-Panzer. Davor haben wir über den Gepard geredet, dann über den Marder.

Für mich ist die Frage, was kommt als Nächstes? Kommen jetzt Kampfflugzeuge, Flugverbotszonen, Atomwaffen? Also bei welchem Waffensystem enden unsere Lieferungen? Wo entwickelt sich das Ganze hin und wie kann man es verhindern, dass dieser Krieg sich nicht über die Ukraine hinaus ausweitet? Im Moment haben wir einen Stellungskrieg, einen Abnutzungskrieg. Einmal hat der eine die Oberhand. Einmal hat der andere die Oberhand. Das schaukelt sich so hoch. Aber es ist einfach kein Ende in Sicht. Und die Eskalationsgefahr steigt einfach enorm statt, dass sie heruntergeschraubt wird. Ich weiß nicht, ob das gesehen wird.

Es gibt die Doomsday Clock. Damit verdeutlichen Wissenschaftler schon seit einigen Jahrzehnten, wie nah die Menschheit am Abgrund steht. In die Analyse werden auch Klimawandelaspekte mit einbezogen. Die Wissenschaftler haben die Uhr jetzt auf 90 Sekunden vor 12 gestellt. Soweit war die Menschheit nicht mal während der Kubakrise. Ich finde, das verdeutlicht, dass man eigentlich was machen muss. Im Moment fehlen aber diplomatische Bemühungen der politischen Ebenen komplett, also auch eine abgestimmte Diplomatie der europäischen Länder. Und es fehlt natürlich eine Perspektive für die Ukraine. Wo soll es denn hingehen? Sollen die Ukrainer:innen quasi kämpfen, bis niemand mehr übrig ist.

Jan: Du hast auf die Eskalation verwiesen. Der Gegeneinwurf zu diesem Verweis ist immer: „Na ja, angefangen hat doch den Krieg Russland“, was ohne Zweifel richtig ist. Die Eskalation geht eben auch von Russland aus. Ich würde dir trotzdem zustimmen. Und ich muss ehrlich sagen: Seit dieser Leopard-Entscheidung fange ich an, mir wieder Sorgen zu machen. Ich habe ja viele Veranstaltungen zur Ukraine gemacht. In diesen habe ich immer gesagt, ich mache mir keine Sorgen, die Nato will nicht in den Krieg einsteigen. Aber sie wird in den Krieg einsteigen.

Bis jetzt sind schon so viele scheinbar unverrückbare Positionen gefallen. Vor einem halben Jahr war es unmöglich, überhaupt über die Lieferung von Leopard-Panzern zu diskutieren. Wir haben alle darüber gelacht und jetzt werden sie geliefert. Es gibt jetzt nicht mehr viele Grenzen bis zu einem Krieg, in den dann auch die Nato verwickelt ist. Das hätte natürlich nochmal ganz andere fatale Folgen für die halbe Welt. Als Nächstes diskutieren wir über die Lieferung von Kampfflugzeugen und dann sind wir schon bei Flugverbotszonen und das bedeutet Einstieg in den Krieg. Also, ich teile die Sorge. Aber ich habe noch einen weiteren Grund, warum ich gegen Waffenlieferungen bin, denn sie verhindern Friedensgespräche. Das hast du gerade ja auch gesagt. Mal gewinnt die eine Seite. Mal gewinnt die andere Seite. Beide Seiten denken jeweils natürlich anders über die Gewinnsituation. Solange wir nur militärisch schauen, kommen wir – glaube ich – überhaupt nicht in den nächsten 2, 3, 4, 5 Jahren zu ernsthaften Friedensgesprächen.

Daphne: Jan, wie reagierst du denn dann auf den Einwurf, dass wir mit dieser Haltung die Ukraine nicht unterstützen wollen? Also wie wollen wir denn den Aggressor, der in diesem Fall Russland heißt, stoppen? Was gibt es für Möglichkeiten außer mehr und mehr Waffen zu liefern?

Aus der Militärlogik Aussteigen 

Jan: Dieser Vorwurf ist ja erstmal ein bisschen perfide. Ich war acht Jahre im Bundestag und habe da viele Reden gegen den Afghanistan-Krieg gehalten. Damals hat vor allem die CDU, aber auch die anderen Parteien bis hin zu den Grünen, uns immer vorgehalten: „Ja wollt ihr denn die afghanischen Mädchen alleine lassen?“ Diese Gegenüberstellung, entweder ihr stimmt militärischer Unterstützung zu oder ihr lasst die Menschen alleine, diese Gegenüberstellung dürfen wir gar nicht erst zulassen, denn sie ist falsch, sie ist immer falsch. Natürlich gibt es in jeder Kriegssituation noch andere Mittel, als Waffenlieferungen, um den Konflikt zu beenden. Vielleicht gibt es einige Extremsituationen, wo am Ende nichts mehr übrigbleibt als militärische Mittel. Ich will das überhaupt nicht prinzipiell oder dogmatisch ausschließen. Der Hitler-Faschismus, der Zweite Weltkrieg, das wäre wahrscheinlich ein Punkt, wo ich gesagt hätte, das geht nur militärisch. Aber alles, was ich in den letzten 30 Jahren gesehen habe und was ich für die Zukunft sehe, da gibt es sehr, sehr viele Mittel dazwischen. Und wenn jemand anfängt, du lässt jetzt die Menschen in der Ukraine alleine, dann bin ich eigentlich draußen aus der Diskussion. Denn, natürlich lasse ich sie nicht alleine. Sondern ich überlege mir zuerst – und das ist mein Pazifismus –welche zivilen, welche nichtmilitärische Mittel gibt es zur Unterstützung? Aber diese Debatte wird oft gar nicht geführt. Hat irgendjemand in Deutschland in den letzten neun Monaten über Diplomatie geredet? Nein! Wenn ich Diplomatie sage, dann lachen alle immer nur und sagen: „Ja, willst du dich mit Putin an den langen Tisch setzen?“

DaphneHäufig wird auch gesagt, es rufen ja Leute bei Putin an und sagen, dass der Krieg scheiße ist. Aber ich glaube, es gibt ein Missverständnis. Ich denke nicht, dass ein Anruf bei Putin als diplomatische Bemühung reicht. Sondern man muss auch tragfähige Vorschläge für den Ausstieg aus der Eskalation machen. Als LINKE-Parteivorstand schlagen wir vor, die UN solle Gespräche der beiden Seiten initiieren. Und dann könnte man Stück für Stück vorgehen, eine für alle akzeptable Perspektive zu entwickeln. Wenn Russland seine Truppen abzieht, dann kann man auch einen Teil der Sanktionen wieder aufheben. Im Verhandlungsprozess muss man sich wirklich Stück für Stück vorarbeiten. Und dass bereits verhandelt wird, sehen wir ja an den erfolgreichen Ansätzen wie dem Getreideabkommen oder dem Gefangenenaustausch. Es gibt quasi kleine Kerne, wo schon verhandelt wird. Das auszuweiten, fände ich eigentlich einen produktiven Gedanken. Du hast jetzt vorgeschlagen, dass man China in so eine Verhandlungslösung mit einbeziehen sollte. Was verstehst du darunter?

Jan: Ich finde, wenn gesagt wird, Scholz soll mal bei Putin anrufen, dass die Welt größer ist als Russland und die Nato. Das können sie machen. Dann reden die Protagonisten zwar auch, aber es passiert ja nicht viel mehr. Sondern du musst dir natürlich überlegen, was gibt es überhaupt für Einflusssphären? Wer hat überhaupt Einfluss auf den Kreml? Natürlich gibt es viele in Russland, die Putin in den Rücken fallen. Das ist gar keine Frage. Aber China hat sehr großen Einfluss im Kreml und die chinesische Regierung hat diesen Krieg von Anfang an verurteilt. Für China ist dieser Krieg eine Bedrohung und für ihre Außenpolitik der letzten Jahrzehnte ist der Krieg ein Desaster. Deswegen hat China sich als neutral erklärt und die chinesische Regierung hält sich bislang an diese Position. Richtig wäre jetzt um wenigstens ein Gesprächsformat hinzubekommen, 2, 3, 4 Schritte auf China zuzugehen, es einzubinden und zu sagen: „Lasst uns ein gemeinsames Gesprächsformat versuchen, denn wir als EU haben einen gewissen Einfluss in der Ukraine, ihr habt einen gewissen Einfluss im Kreml“.

Ich erinnere mich, dass am Anfang des Krieges – März, April, Mai 2022 – Selenskyj eigentlich jeden Tag gesagt hat, er möchte direkt mit Putin verhandeln. Putin hat das verweigert. Ich glaube, mit der Einbindung von China wäre das über Nacht natürlich zustande gekommen. Diesen Einfluss hat China. Ob eine tragfähige Friedenslösung verhandelt werden kann, die auch gerecht für die Ukraine wäre, ist eine ganz andere Frage. Aber man muss doch erstmal solche Formate ausprobieren. Dies unterlassen zu haben ist meiner Meinung nach der ganz große Fehler der Bundesregierung, aber auch insgesamt der Europäischen Union. Beide haben sich aktuell in diesem Krieg eindeutig ganz alleine fest an die Seite der USA gestellt. Und da die USA in einem dauerhaften Konflikt mit China ist, gibt es keinen einzigen positiven Schritt der Bundesregierung auf China zu, um sie hier positiv einzubinden. Das würde ja was kosten. Man müsste China z. B. diplomatisch aufwerten. Das ist etwas, das ist nicht gewollt, weil man lieber an der Seite der USA steht. Ich halte das für einen fatalen Fehler.

Daphne: Ok, jetzt muss ich da auch mal bei dir einhaken: Wieso jetzt die USA? Du hast jetzt gerade von China gesprochen, von der Europäischen Union, von Russland und dann warst du plötzlich bei dem Gedanken, die Europäische Union stellt sich an die Seite der USA. Könntest du dazu ein paar Worte verlieren, weil ich glaube, dass das nicht so ganz eingängig ist, weil das einfach nicht in den Debatten diskutiert wird?

Jan: Es gibt die Nato, es gibt die transatlantische Freundschaft. Das heißt, die ganz enge Anbindung Deutschlands – früher Westdeutschlands – und Westeuropas an die USA ist erstmal da. Aber es gab auch eine längere Zeit, in der sich Europa ein Stück weit freigeschwommen hatte, als z.B. der Irak-Krieg 2003 nicht mitgemacht wurde und als sich viele westeuropäische Länder gegen das Ansinnen der USA stellten, Georgien und die Ukraine in die Nato reinzuholen. Da fing Westeuropa an sich ein Stück freizuschwimmen, sozusagen eine eigenständigere Politik zu machen. Ich finde das den richtigen Weg, denn wenn wir in die weitere Zukunft denken, dann ist natürlich eine Weltordnung nur dann stabil, wenn sie auf möglichst vielen Füßen steht, also eine multipolare Weltordnung ist. Diese Entwicklung ist jetzt komplett zurückgefahren. Annalena Baerbock hat ganz klar gesagt, es gibt eine unzerbrechliche Freundschaft mit den USA. Und das heißt jetzt wieder zwei Fronten: auf der einen Seite China und Russland, auf der anderen Seite Europa und die USA, wie im kalten Krieg. Die stehen gegeneinander, da geht nichts miteinander. Damit vergibt man sich tausend Chancen zur Lösung solcher Kriege wie jetzt in der Ukraine auch mal andere Länder mit einzubeziehen.

Daphne: Ich stimme dir zu. Gleichzeitig finde ich es aber auch wichtig zu betonen, dass es in diesem Krieg eine Stellvertreterebene gibt. Es spielen viele Interessen mit – die USA haben Interessen, ebenso die Europäische Union und Deutschland. Und es gibt natürlich die Ukraine, die sagt: „Nein, wir wollen uns nicht besetzen lassen.“ Ich finde es wichtig, dass wir auch als LINKE sagen: Es gibt mehrere Ebenen in diesem Krieg, diese aber nicht vermischen, also der Ukraine beispielsweise nicht ihr Recht auf Eigenständigkeit absprechen. In einem Verhandlungsprozess für Frieden in der Ukraine muss dies klar sein.

Jan: Das ist ein Missverständnis. Ich meine nicht, dass Europa mit China redet, sondern dass Europa und China quasi Kiew und Moskau einladen. Und diese Beiden müssen natürlich die Gespräche führen. Ich fände es völlig fatal, was auch offenbar ein Wunsch des Kremls ist, dass es am Ende Verhandlungen zwischen Moskau und Washington gibt. Das ist der falsche Weg. Du hast vollkommen recht. Natürlich müssen Kiew und Moskau da zusammensitzen.

Daphne: Meine Frage von vorhin „Warum keine Waffenlieferungen?“ Auch, weil eine Perspektive fehlt? Wo ist das Ganze zu Ende? Wann setzt man sich wieder an den Tisch? Es wird oft gesagt: Putin will nicht verhandeln und deshalb müssen mehr Waffen geliefert werden. Auf der einen Seite, damit die Ukraine sich verteidigen kann und auf der anderen Seite eben auch Gelände zurückerobert. Was schätzt du als langjähriger Experte, wie lang wird dieser Krieg noch dauern? Also kann es sein, dass wir 2, 3, 4, 5 Jahre noch Krieg haben, bis dann so viel kaputt ist, dass sich die Parteien an den Verhandlungstisch setzen?

Jan: Also wenn es weiter nur um Waffen geht und eine Lösung weiter nur militärisch betrachtet wird, dann dauert es noch viele Jahre. Da bin ich mir ganz sicher. Es braucht andere Impulse, um den Kreml zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen, denn aus der reinen militärischen Logik wird der Krieg nicht beendet. Denken wir an den Afghanistan-Krieg zurück: 1979 überfällt die Sowjetunion Afghanistan. Der Westen beliefert die Afghanen mit Waffen ohne Ende, jahrelang, jahrelang. Erst nach zehn Jahren zieht die Sowjetunion wieder ab. Das Gleiche sehen wir in Syrien. Nach zwei Jahren Bürgerkrieg hat Assad angeboten: Ich trete bis 2014 zurück. Da hat der Westen gesagt: Nein, nichts da, wir gewinnen gerade, wir pusten dich gleich weg. Zwei Jahre später – 2014 – war dann Assad in der Offensive. Da hat der Westen dann gefragt, warum er nicht verhandelt. Assad sagte: „Nein, ich bin gerade in der Offensive“. Genau das geschieht auch gerade in der Ukraine. Ich glaube, im November wäre eine Situation gewesen, in der der Kreml sehr viel verhandlungsbereiter gewesen wäre, denn da war die Ukraine gerade in der Offensive. Aber auch da hat die Ukraine gesagt: "Nein, wir sind gerade in der Offensive. Wir verhandeln nicht.“ Das heißt, wenn du nur militärisch guckst, dauert es Jahre, bis beide Seiten ziemlich weitgehend ausgeblutet sind. Und das kann ja wohl nicht unsere Perspektive sein. Deswegen müssen wir endlich über andere Dinge reden, über Diplomatie und effektive Sanktionen. Das verhindern aber diese ganzen Waffendebatten. Ich habe keine Debatte gesehen dazu gesehen, welche diplomatischen Formate es geben könnte. Stattdessen sehe ich nur eine Million Debatten über Leopardpanzer.

Daphne: Ja, das stimmt. In den Debatten wird aus meiner Sicht ebenfalls nicht beachtet, dass Russland immer noch eine Eskalationsdominanz hat, also mehr Menschen hat, die potenziell in diesem Krieg als Soldaten verheizt werden können und eine Atommacht ist. Man muss doch mit den Gegebenheiten umgehen und kann nicht einfach – du nennst Waffenlieferungen manchmal Ersatzpolitik – quasi Waffen in die Ukraine schicken und – jetzt mal ganz salopp gesagt –, diese dann dort ihrem Schicksal überlassen, ohne als Europäische Union Initiativen für Verhandlungen oder Diplomatie zu entwickeln. Du hast vorhin die militärische Logik angesprochen, aus der du gerne aussteigen würdest. Berechtigterweise wird entgegnet, dass Putin nicht viel Interesse gezeigt hat an den Verhandlungstisch zurückzukehren?

Jan: Neben dem mangelnden Interesse des Kremls an Verhandlungen höre ich genauso oft auf Veranstaltungen, dass Kiew nicht verhandeln will. Daneben sind auch noch Legenden im Umlauf, z. B., dass es angeblich ein Gesetz in der Ukraine gäbe, das Verhandlungen verbietet. Dies ist nachweislich falsch. Das ist eine Legende. Genauso gibt es die Legende, Boris Johnson hätte im April den 10-Punkte-Plan von Istanbul verboten. Auch das ist eine Legende. Das lässt sich alles nachlesen. Das heißt, beide Seiten werfen einander vor, nicht verhandeln zu wollen. In gewisser Weise ist das auch normal. Im Krieg kann man oft gar nichts mehr glauben, weil alle Seiten lügen. Deswegen dürfen wir uns – glaube ich – nicht von solchen angeblichen Wahrheiten beeinträchtigen lassen. Natürlich haben beide Seiten ein Interesse an Verhandlungen. Natürlich wollen Beide für sich das Größtmögliche herausholen. Und wenn sie nicht sehen, dass sie das Größtmögliche kriegen, verhandeln sie erstmal nicht. Aber ein Interesse ist trotzdem da, denn Krieg ist immer teurer als kein Krieg. Jede Seite will halt gewinnen.

Deswegen ist jetzt die Frage: Was können wir denn tun, um den Druck auf den Kreml so weit aufzubauen, dass Verhandlungen wahrscheinlicher werden und auch ein für alle Seite akzeptables Verhandlungsergebnis wahrscheinlicher wird. Diplomatie ist das Allererste und ich finde es ein größtmögliches Versagen der Bundesregierung und des Westens insgesamt, dies einfach komplett auszublenden. Das Zweite sind natürlich Sanktionen, und zwar Sanktionen, die dem Kreml wehtun, der Machtbasis des Kremls wehtun, um dadurch möglicherweise Bewegung in die Verhandlungsverweigerung zu kriegen.

Wirksame Sanktionen

Daphne: Es gibt eine Vielzahl von Sanktionen, die beschlossen wurden, über 10.000 Maßnahmen, die ganz diffus sind und bei denen man auch nicht genau messen kann, welche Auswirkungen diese Sanktionen tatsächlich haben. Einige Sanktionen wirken sich z. B. auf die Automobilbranche in Russland aus. Aber kann man eigentlich sagen, wie die verhängten Sanktionen den militärisch-industriellen Komplex, also die Fähigkeit zur Kriegsführung, beeinflussen? Was wäre aus deiner Sicht denn eine gezielte Sanktion? Ich weiß, dass du dich monatelang damit befasst hast. Welche Sanktion könnte man als Linker mittragen und würde wirklich was bringen?

Jan: Ich glaube, dass die bisherigen Sanktionen nichts gebracht haben. Die wirtschaftlichen Kennzahlen sind das eine. Da hat es hier und da Einbrüche gegeben. Du hast die Autoindustrie genannt und in den nächsten Monaten wird sich dies auch in Arbeitslosenzahlen niederschlagen. Aber das Ziel ist ja nicht ein wirtschaftlicher Einbruch. Das Ziel ist ja eine politische Veränderung. Und ich glaube, dafür sind die bisherigen Sanktionen denkbar ungeeignet, weil sie es sich selbst auch gar nicht zum Ziel gesetzt haben.

Wenn man sich die EU-Dokumente anguckt, sind die einzigen Ziele, die darin formuliert werden, die Bestrafung der russischen Eliten und die Finanzierung des Krieges erschweren. Ich glaube, daran sind sie bis jetzt komplett gescheitert. Meine Überlegung ist: Du musst die Führungsriege da treffen, wo es ihr wehtut. Ich habe immer ein schönes Beispiel aus dem Jahr 2005. Da hat die Türkei ein russisches Flugzeug an der syrischen Grenze abgeschossen. Es gab sofort diplomatische Eiszeit. Daraufhin hat Russland gezielte Sanktionen gegen die Türkei erlassen und hat dann sehr geschickt agiert. Die haben z. B. den gesamten Tourismus an den türkischen Stränden sofort verboten. Es durfte kein Flieger mehr an die Strände fliegen. Alles wurde sozusagen auf Eis gelegt. Und das war deswegen so smart, weil die Führungsriege der AKP, der Regierungspartei in der Türkei, ihr Geld mit dem Tourismus verdient. Das heißt, das hat denen zentral wehgetan. Denjenigen, die direkt im Umkreis von Erdogan saßen, denen hat es richtig massiv wehgetan. Und nach drei Monaten sind Erdogan und die türkische Regierung eingeknickt. Das ist ein schönes Beispiel für ziemlich geschickt ausgewählte Sanktionen, die den Machtapparat treffen, die sehr schnell auch zu einer Verhaltensänderung geführt haben. Was könnte das in Russland sein? Da gibt es ja seit mittlerweile zehn Monaten den Vorschlag von Thomas Piketty, dem französischen Ökonomen, der gesagt hat: „Wir müssen alle diejenigen russischen Multimillionäre treffen, die über 10 Millionen Dollar besitzen. Denn die sind das Herz der russischen Wirtschaft." Das sind die mittelständischen Unternehmer. Die kann man theoretisch auch leichter treffen, denn, wenn ich dem Milliardär eine Yacht wegnehme, kauft er sich eine neue. Wenn ich aber dem Millionär seine Villa im Tessin wegnehme oder beschlagnahme, dann ist das seine einzige. Und er merkt sofort, wenn ich seine Konten im Ausland einfriere. Das heißt, auf diese Machtbasis des Kremls, diese 20.000 Multimillionäre zu zielen, das wäre ein extrem geschickter Weg. Und das ist auch eine durch und durch LINKE-Forderung, denn da geht es um Millionäre, die ihr Geld irgendwie im Ausland in Sicherheit gebracht haben. Die zu treffen, ist immer richtig.

Daphne: Mir stellt sich doch noch die Frage, ob, wenn man die „mittelständischen Millionäre“ trifft, es tatsächlich zu einer Verhaltensänderung im Kreml käme, die diesen Krieg abbräche? Ich weiß nicht, ob Putin von den Oligarchen abhängig ist oder ob es umgekehrt ist, dass die Oligarchen von Putin abhängig sind? Ich finde es auffällig, dass Milliardäre wie z. B. Potanin, der sich mit Nickel, von dem auch die westlichen Industrieländer abhängig sind, eine goldene Nase verdient hat, eben nicht auf der Sanktionsliste auftaucht, zumindest bis letzten Monat nicht. Und daran sieht man, dass Ausnahmen bei den Sanktionen gemacht werden, die eigentlich nicht zu erklären sind, außer dass die westlichen Regierungen dem Kapital nicht wehtun möchten.

Jan: Nochmal zu den Oligarchen und dem Kreml: Der Kreml hängt nicht von den Oligarchen ab, sondern umgekehrt. Deswegen sind die Sanktionen gegen die Oligarchen wichtig, bewirken aber nicht viel. Der Vorschlag von Thomas Piketty zielt auf diese 20.000 Multimillionäre, die mittlere Ebene. Wenn die alle keinen Bock mehr haben, wenn die sich entweder gegen das Regime stellen, ins Ausland gehen, ihre Betriebe dichtmachen, was auch immer, dann bringt das natürlich die russische Wirtschaft extrem ins Schwanken. Da geht es nicht um eine einzelne Person, die irgendwie Einfluss auf den Kreml hätte. Das ist bei keinem einzigen der Wirtschaftsbosse in Russland so. Es geht um die Gesamtheit, das Herz der russischen Wirtschaft.

Aber eines ist mir auch ganz wichtig: Ich gebe niemandem eine Garantie, dass Verhandlungen plus gezielte Sanktionen auf jeden Fall in einem halben Jahr zu einer Friedenslösung führen. Ich garantiere aber, dass weitere Waffenlieferungen in einem halben Jahr auf keinen Fall zu einer Friedenslösung führen. Nach meinem Pazifismusverständnis sollten immer erstmal nichtmilitärische Druckoptionen ausprobiert werden. Wir haben ein Jahr mit Sachenlieferungen vergeudet. Was hätten wir in diesem Jahr an Diplomatie und Sanktionen ausprobieren können. Vielleicht wären wir schon lange auf dem Weg zu einer Friedenslösung.

Solidarisch mit der Ukraine

Daphne: Ja, das ist auf jeden Fall ein Punkt. Ich möchte nochmal auf die Solidarität zurückkommen. Denn die Argumentation, dass, wenn man keine Waffenlieferungen fordert oder dazu Widerspruch anmeldet, aus den Gründen, die wir genannt haben:

  • Eskalationsgefahr,
  • fehlende Perspektive für die Ukraine,
  • Waffen, die auch in 50 Jahren noch schießen. Denn sie werden ja nicht plötzlich weg sein oder nach dem Krieg zu Staub zerfallen. Im Gegenteil werden die gelieferten Waffen noch eine lange Zeit nach einem Kriegsende funktionsfähig sein und Niemand weiß, wo der ganze Krempel einmal landet.

All diese Gründe sprechen gegen Waffenlieferungen. Und trotzdem gibt es den Diskurs, der unterstellt, diejenigen, die Waffenlieferungen kritisieren wollten, dass die Ukraine überrannt und eingenommen wird, sich ergibt usw. Das hat zwar nie jemand aus der LINKEN je gesagt, aber den Kritikern von Waffenlieferungen wird jede Solidarität mit der Ukraine abgesprochen. Zum Abschluss des Gesprächs würde ich gerne darüber sprechen, wie wir unsere Solidarität zeigen können, was es für Formen der zivilen Solidarität gibt. Mir fällt dazu z. B. ein Schuldenschnitt ein, mit dem der Ukraine ihre Schulden erlassen werden, damit auch im Kriegszustand Löhne und Renten gezahlt werden können. Oder die Unterstützung der Geflüchteten, der Deserteure auf russischer und ukrainischer Seite, denn niemand soll gezwungen werden, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. Deserteure sollten wir dann auch bei uns aufnehmen, ihnen politisches Asyl gewähren. Ich finde, das sind ganz wichtige Forderungen, die überhaupt nicht mehr in der Debatte erhoben werden.

Jan: Das ist für mich ganz zentral. Und dazu kommt natürlich die praktische humanitäre Hilfe. Im Moment mangelt es in der Ukraine an allem und jede Art von Hilfe im medizinischen und in allen möglichen Bereichen wird dort dringend gebraucht. Man muss auch mal sagen, dass DIE LINKE hier extrem gute Arbeit geleistet hat. Ich weiß von sehr vielen Kreisverbänden im Osten, dass sie immer wieder entweder an die Grenze oder tatsächlich in die Ukraine gefahren sind, dort Hilfsprojekte haben, Leute hierherholen usw. Diese praktische Solidarität gibt es und die kann man gar nicht hoch genug bewerten. Was ich auch sehr wichtig finde ist, dass wir immer wieder mit den Menschen in der Ukraine und in Russland sprechen, auch mit denjenigen, die DIE LINKE, uns und mich, dafür kritisieren, dass wir gegen Waffenlieferungen sind. Aber trotzdem gibt es einen Dialog darüber, welche anderen Formen der Solidarität möglich sind. Deswegen freue ich mich auch, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung am 24. Februar, zum Jahrestag des russischen Angriffs, ein großes Fachgespräch mit Stimmen aus der Ukraine und Russland veranstaltet. Die Veranstaltung wird auch online zu sehen sein. Das Fachgespräch ist eines in einer Folge von sehr vielen Gesprächen, die wir mit den linken Genossinnen und Genossen auch in der Ukraine und Russland führen. Und ich glaube, das ist auch zentral wichtig.

Daphne: Es war ja auch eine Delegationsreise in die Ukraine geplant, an der u. a. unsere Parteivorsitzende, Janine Wissler, teilnehmen wollte, um sich mit Linken und Gewerkschaftern dort zu verständigen. Die Reise musste aber leider aus Sicherheitsgründen abgesagt werden. Die Bemühungen, den Kontakt in die Ukraine aufrecht zuhalten, bleiben aber bestehen und gleichzeitig wird auch der Kontakt zur russischen Opposition, zu Friedensaktivisten in Russland aufrechterhalten. Allerdings finde ich es ziemlich fatal, dass fast alle kulturellen Bande abgebrochen sind, auch diejenigen der Universitäten und Kultureinrichtungen. Zivilgesellschaftlicher Austausch könnte ein Einstieg in die Konfliktbearbeitung sein. Denn auch in Russland ist ja beileibe nicht jeder und jede für diesen Krieg, den Putin angezettelt hat.

Jan: Ganz sicher nicht.

Daphne: Gut, dann halten wir fest, dass wir unsere Möglichkeiten und Optionen ziviler Solidarität noch ausbauen und weiterentwickeln wollen. Die Gespräche über Diplomatie, aber auch über gezielte Sanktionen und über Verhandlungsformate müssen wir weiterführen und weiterentwickeln. Als LINKE müssen wir Antworten liefern, denn sonst wird die Antwort auf die Frage wie wird der Krieg beendet weiter lauten: „Waffen, Waffen, immer schwerere Waffen liefern!“ Das lehnen wir aus guten Gründen, die wir hier dargelegt haben, ab.

Jan: Und nochmal: Wir dürfen uns nie vor diese Dichotomie, vor diese Entscheidung stellen lassen, entweder Waffen liefern oder die Menschen alleine lassen. Dazwischen gibt es wahnsinnig viel. Und das, was hier im Moment an Druck gemacht wird, wer nicht sofort für die Lieferung des Leopard-Panzers ist, ist Putins Freund, das ist unsäglich. Das dürfen wir nicht annehmen.