DIE LINKE und das Regieren

Eine Frage der Taktik – aber keine unbedeutende

Harald Wolf, gegenwärtig Bundesschatzmeister der Partei DIE LINKE, bringt aus seiner Biographie einiges mit, dass ihn prädestiniert, ein Buch über Regierungsbeteiligungen linker Parteien zu schreiben: In seiner politischen Jugend war er – zusammen mit dem Autor dieser Rezension – Mitglied einer politischen Organisation, die sich zwar nicht selbst als „trotzkistisch“ bezeichnete, aber die von anderen politischen Kräften derart tituliert wurde. Im Gegensatz zum gerne kolportierten Vorurteil steht der „Trotzkismus“ nicht für ewiges Spalten der linken Kräfte, sondern für das Gegenteil. Keine politische Strömung in der Geschichte der Linken hat sich so intensiv mit den Fragen des „subjektiven Faktors“ der sozialistischen Bewegung und des Kampfes gegen den Kapitalismus beschäftigt wie die linke Opposition, die sowohl die reformistische Sozialdemokratie als auch den bürokratischen Stalinismus kritisierte.

Leider ist es historische Tatsache, dass die Arbeiter:innenbewegung real gespalten ist, an strategischen wie taktischen Fragen. Ebenso ist es Fakt, dass der gesellschaftliche Transformationsprozess nicht als Daueroffensive der sozialistischen Revolution abläuft, sondern als Prozess, in dessen Zentrum die politische Bewusstwerdung von Millionen Angehörigen der vom Kapitalismus als Verlierer:innenklasse verurteilten Menschen steht. Dieser Prozess durchläuft Phasen spektakulärer Kämpfe und Herausbildung neuer radikaler Kräfte, wie auch solche der Langsamkeit, sogar des Rückgangs, in denen das Einrichten in relativ stabile politische Verhältnisse und der tägliche Kampf um kleine Machteroberungen wichtiger sind als die große Machteroberung. Dieser Prozess wird ebenso von vielen Fragen der umfassenden Emanzipation der Menschen von Unterdrückung und Unwissen beeinflusst, die mehr sind als der nackte ökonomische Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Wichtige Fragen der Strategie, die sich immer darum drehen, wie all die verschiedenen Kämpfe in einen zentralen Machtkampf gegen die Herrschaft des Kapitals zusammenzuführen sind, und wie die Unabhängigkeit der linken, sozialistischen Partei der Arbeiter:innenbewegung zu verteidigen ist, und noch mehr Fragen der Taktik sind in der realen Geschichte immer wieder aufgeworfen worden und werden immer neu diskutiert. Eine dauerhafte Beantwortung wird es nicht geben. Solche Fragen der Taktik beziehen sich auf den Kampf um die Mehrheit innerhalb der Arbeiter:innenbewegung; die Eroberung der gesellschaftlichen Hegemonie auch in der sozialen Auseinandersetzung mit der herrschenden Klasse; Bündnisfragen wie die Einheitsfront der linken Organisationen; Umgang mit Meinungsvielfalt innerhalt der linken Parteien, Minderheits- und Strömungsrechte und -pflichten; Verhinderung der Bürokratisierung der linken Partei und Umgang mit partiellen Errungenschaften, die immer wieder auch zu Bremsfaktoren der weiteren Entwicklung umschlagen können. All das hat die Geschichte der letzten 150 Jahre bestimmt und auf Seite der Linken zur Etablierung eines „Marxismus des subjektiven Faktors“ geführt. Keine politische Strömung hat sich um diesen „Marxismus des subjektiven Faktors“ mehr verdient gemacht als der „Trotzkismus“.

Harald Wolfs weiteres politisches Leben hat ihn von solchen radikalen Ausgangspunkten zu deutlich mehr Mäßigung und Gemütlichkeit geführt. Er gehörte in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zum linken Flügel der Grünen, der sich intensiv mit den oben beschriebenen Fragen der Taktik beschäftigte. Die Debatte um das parlamentarische Spielbein und das außerparlamentarische Standbein, die Frage einer Regierungsbeteiligung mit der SPD, auch die Diskussion, eine SPD-Regierung als Minderheitsregierung zu tolerieren, hat Harald Wolf aktiv mitgeführt. Rückblickend ist zu sagen, dass diese Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen leider nur taktische Diskussionen waren. Die strategische Frage der Unabhängigkeit der politischen Mobilisierung der Arbeiter:innenklasse gegen die Herrschaft des Kapitals haben die Grünen nicht mehr gestellt. Die berühmte Formel von Karl Marx und der sozialistischen Internationale „Klasse gegen Klasse“ spielte bei den Grünen leider keine Rolle, deshalb konnten auch ihr „linker Flügel“ und ihre Debatten keinen wirklich bleibenden Beitrag zum „Marxismus des subjektiven Faktors“ liefern. Es waren taktische Streitereien, mehr nicht.

Danach wurde es für Harald Wolf so gemäßigt, dass es ungemütlich wurde. Er wechselte 1991 zur PDS und wurde Abgeordneter in Berlin. Er war als Berliner Fraktionsvorsitzender einer der wichtigsten Strippenzieher im parlamentarischen Leben der PDS und ihrer zügigen Orientierung auf Teilnahme am Regierungsgeschäft. 2002 bis 2011 war er Senator in der gemeinsamen Regierung mit der SPD und verantwortlich für den furchtbaren Ausverkauf der Berliner Wohnungen und anderer Eigentümer der Stadt, um die Verschuldung abzubauen. Nach dem Ende der Regierung 2011 blieb er bis 2020 Mitglied im Abgeordnetenhaus und war an der Etablierung der Regierung aus SPD, Grünen und LINKE beteiligt.

Die PDS und nach 2007 mit der Vereinigung mit der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG)“ die neue Partei DIE LINKE haben die Verhältnisse gegenüber den Grünen etwas umgekehrt. Zwar existiert tief im Grunde noch ein Verständnis einer unabhängigen linken Klassenpartei, deutlich mehr als bei den Grünen, aber die taktischen Entscheidungen, am System mitzumachen, im Westen anzukommen und anerkannt zu werden, haben sich längst verselbständigt. Der ganze Jammer der heutigen LINKEN lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die Partei ist nicht bereit, die wichtigen Ergebnisse der langen Debatte über einen „Marxismus des subjektiven Faktors“ zur Kenntnis zu nehmen, unterdrückt eine nötige regelmäßige Aktualisierung dieser Diskussion und meint sich die Attitüde leisten zu können, sie wäre immun gegen all die negativen Effekte eines Marsches in die Institutionen der bürgerlichen Herrschaft.

Wenn Harald Wolf jetzt ein zusammenfassendes Buch über die alten – und immer wieder neuen – Debatten zur Regierungsfrage vorlegt, dann ist das vielleicht auch ein kleiner Weg zurück in seiner politischen Biographie. Seine Darstellung der Einheitsfrontdebatte nach der kurzen Revolutionsphase 1917-19, die Skizze der damals aufkommenden Frage einer „Arbeiterregierung“ aus allen Parteien der Arbeiter:innenbewegung sind überzeugend. Ebenso seine kritische Bilanz der Diskussionen bei den Grünen Anfang der 80er Jahre, der Regierungserfahrungen der Linken in Frankreich 1981-1983, in Griechenland unter der Regierung von Syriza 2015, Portugal in den letzten Jahren.

Aber schon bei den beiden zuletzt genannten Kapiteln drängt sich eine dann den ganzen Rest des Buches, der sich mit den Regierungserfahrungen der PDS und der LINKEN beschäftigt, durchziehende Selbstverpflichtung des Autors auf: DIE LINKE muss sich an der

Regierung beteiligen, ein Nein steht nicht zur Debatte. Das kollidiert mit der grundsätzlichen Position einer Klassenunabhängigkeit und wird dann faktisch mit der alten Hippieparole „Wir haben keine Chance, aber wir müssen sie nutzen“ aufgelöst.

Immer wieder sind es die „Sachzwänge“, die die linke Regierungsbeteiligung verzerren: Kapitalflucht, Weltmarkt, politische Diktate der EU-Bürokratie, allgemeine Verschuldung. Aber solche Sachzwänge sind immer nur „Argumente“ der realen Kräfteverhältnisse der Klassen in der Gesellschaft. Sie werden nicht durch Regierungshandeln verändert, sondern Regierungshandeln kann durch reale Massenkämpfe erzeugten neuen Kräfteverhältnisse nur festigen. Die Absicherung einer linken Regierung geschieht durch Mobilisierungen in der wirklichen Gesellschaft, durch den Aufbau bleibender Strukturen gesellschaftlicher Gegenmacht.

Ein Kurs, solche „Gegenmacht“ zu entwickeln, macht dann schnell deutlich, dass eine wirkliche linke Regierung, die den Kapitalismus überwinden will, zu Formen der „Diktatur des Proletariats“ schreiten muss: Kapitalflucht (wie in Griechenland und Frankreich) wird nur durch Kapitalverkehrskontrollen, Bankenübernahme und Aufhebung des Bankgeheimnisses zu bekämpfen sein; der Sachzwang Weltmarkt wird nur durch protektionistische Maßnahmen ausgehebelt und die Verschuldungsfalle wird nur dadurch geknackt, dass die moralische und rechtliche Legitimität der Schulden bestritten und der Schuldendienst ausgesetzt wird.

Harald Wolf zeigt diese Zwänge auf, aber die offenkundigen Auswege will er nicht ziehen. Der Grund dafür liegt darin, dass die heutigen Regierungsbeteiligungen der LINKEN allesamt keine linken Regierungen begründen. Sie sind gemeinsame Regierungsgeschäfte, an denen DIE LINKE beteiligt ist. Aber weder in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern noch Berlin, und leider auch nicht in Thüringen mit der LINKEN als Mehrheitspartei ist das Regierungsziel die Überwindung des Kapitalismus. Ein neues gesellschaftliches System soll nicht aufgebaut, sondern nur die Krümel der alten Produktionsweise gerechter verteilt werden.

Keine der heutigen Regierungen mit Beteiligung der LINKEN ist eine „Arbeiterregierung“. Sie betreiben auch keine – um das moderne Wort zu benutzen – verbindende Klassenpolitik, um die Gesamtheit der Interessen der Arbeiter:innenklasse zusammenzuführen. Stattdessen machen sie das, was Rosa Luxemburg schon 1899 erkannt hat: Eine Politik der Verbindung gegensätzlicher Klassen. Die Sozialistische Partei schlüpft in das Bett der bürgerlichen Parteien und ordnet sich deren Auftrag, die politischen Geschäfte der herrschenden Klasse zu erledigen, unter.

Aber immerhin wird deutlich, dass aus der Biographie von Harald Wolf eine alte Position wiederbelebt wird: Er favorisiert eine Konstruktion, in der DIE LINKE aus unabhängiger Position eine Regierung aus SPD und Grünen als Minderheitsregierung toleriert. Das ist in Portugal, in skandinavischen Ländern passiert – und die Bilanzen sind deutlich besser als bei voller Einbindung in das Regierungsgeschehen und voller Haftung für die Gesamtheit aller Regierungsmaßnahmen.

Mit dieser Position lässt es sich anfreunden. Es müssten nach meinem Geschmack acht Bedingungen eingehalten werden. Sie tauchen bis auf Punkt 8 im Buch von Harald Wolf durchaus auf, er bündelt sie leider nicht zu einem linken Regierungsprogramm:

1. Ein starker Ausbau und Trennung der Regierungspartei von der Nicht-Regierungspartei. Eine lebendige Praxis und Kultur der Partei auf Basis des Gesamtprogramms und aktivistisch in so viel gesellschaftlichen Bereichen wie möglich, die alle Aspekte abdecken, auch die, die in der Regierung nicht vorkommen.

2. Die ausdrückliche Förderung auch einer regierungskritischen Praxis der Partei, statt der Entwicklung einer Kultur des "Ruhegebens" und der Ideologie des "Mehr-ist-nicht-drin".

3. Weitgehende Trennung von Amt und Mandat, um die politische Unabhängigkeit der Partei zu sichern und zu fördern.

4. Entwicklung einer sorgfältigen Kultur und Erziehung, um die Begrenztheit des Regierungshandelns aufzuzeigen. Dabei muss auch sehr gut auf die Verselbständigung des Verwaltungsapparates in den Ministerien geachtet werden. Befristung und Rotation der Ämter, um den Alltagstrott und die "Partei des kurzen Dienstweges" zu vermeiden.

5. Verhindern, dass DIE LINKE als Minderheits- und Juniorpartnerin für die Gesamtheit des Regierungshandelns in Mithaftung genommen wird. Das wird nur bei Beachtung der Punkte 1.-4. möglich sein, aber auch durch das Erlernen, auch mal Nein zu sagen und klare Grenzziehungen der gemeinsamen Projekte. Keine Akzeptanz von angeblichen „Sachzwängen“. Dann lieber die Regierung wieder verlassen.

6. Regelmäßig überprüfen, und zwar auf Ebene der Regierungshandelnden, aber besonders auch durch Kräfte außerhalb der Regierung, ob die Ergebnisse des Regierungshandelns wirklich auf das Wirken der LINKEN zurückzuführen sind oder auch durch eine harte Oppositionsarbeit gleich oder gar besser hätten erreicht werden können.

7. Vor Eintritt in die Regierung, aber auch regelmäßig danach, prüfen, ob die Duldung einer Minderheitsregierung nicht besser ist und welche Bedingungen eine solche Duldung erfüllen muss (es darf keine "Koalition ohne Minister:innen" sein, wie den 90er Jahren in Sachsen-Anhalt). Tolerierung ist nur ohne Vertrag und ohne Bedingungen sinnvoll. Auch die sogenannten „Rote-Halte-Linien“ sind wirkungslos. Es geht um Einzelfallentscheidungen zur Zustimmung oder Passierenlassen von Haushalt und Gesetzen durch Enthaltung.

8. Sehr rasch nach Regierungsbeginn müssen ein, zwei "Leuchtturmprojekte" verwirklicht werden, die ausdrücklich nur oder überwiegend mit der LINKEN verbunden werden.

Keine der bisherigen Regierungsbeteiligungen erfüllt diese Kriterien oder wollte sie erfüllen. Der Hauptgrund ist oben benannt: Es sind keine Regierungen des Systemwechsels. Aber sie könnten eventuell Regierungen werden, die bestimmte Dynamiken auslösen, die in einer Regierung des Systemwechsels münden könnten. Dafür müssten diese Bedingungen aber eingehalten werden.

Und wer es noch nicht kennt, dem empfehle ich unser Buch von 2016 zum gleichen Thema: Thies Gleiss, Inge Höger, Lucy Redler, Sascha Stanicic (Herausg.): Nach Goldschätzen graben – Regenwürmer finden. Die Linke und das Regieren. Köln 2016.

Harald Wolf: (Nicht)Regieren ist auch keine Lösung - Chancen, Risiken und Nebenwirkungen, wenn Linke sich beteiligen. 220 Seiten, VSA-Verlag, Hamburg 2021

Auf links-bewegt.de findet sich noch eine andere Meinung zu Harald Wolfs Buch und dem Thema Regierungsbeteiligung: "Nicht bloß dieses grobkörnige Entweder-oder" von Benjamin-Immanuel Hoff.[1]

 

 

 

Links:

  1. https://www.links-bewegt.de/de/article/453.nicht-bloß-dieses-grobkörnige-entweder-oder.html