Hinters Licht geführt

"Wir sind das Volk", hieß es im Herbst 89.

Im kollektiven Gedächtnis hat sich eine Erzählung der Wende von 89/90 durchgesetzt, die so nicht stimmt. Denn anders als heute behauptet, wollten die DDR-Bürger anfangs keinen schnellen Anschluss an die BRD. Die Publizistin und Mitbegründerin des "Demokratischen Aufbruchs", Daniela Dahn, hat die Archive durchforstet, um zu belegen, wie die DDR-Bevölkerung damals manipuliert wurde, um die Stimmung zu kippen. Der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld zeigt als Ko-Autor die Realität hinter der Rhetorik in einer kapitalistischen Demokratie. "Links bewegt" veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Daniela Dahn hier Auszüge aus dem Buch. 

Die ganz große Pauke

Was dann folgt, lässt nur die Erklärung zu, dass man sich in der CDU-Führungsspitze zwei Wochen vor der Wahl darauf verständigt hat, dass das Ruder nur noch herumgerissen werden kann, wenn man auf die ganz große Pauke haut. Bei einem Hintergrundgespräch im Bundespresseamt am 9. Februar beschwört Kohls engster Berater im Kanzleramt, Horst Teltschik, das drohende Chaos in der DDR. Die Presse-Leute wollen wissen, »was eigentlich die dramatischen Ereignisse in der DDR seinen«, dokumentiert er in seinem Erinnerungsbuch: 329 Tage. Innenansichten der Einigung.

Obwohl sich die Journalisten seit Wochen zu Tausenden im Land umsehen, scheint ihnen die totale Anarchie entgangen zu sein. Teltschik hilft gern nach: »Ich nenne drei Punkte: Erstens den drastischen Verfall jeder staatlichen Autorität in der DDR; Entscheidungen der Modrow-Regierung würden immer seltener exekutiert. Zweitens den drohenden wirtschaftlichen Kollaps; es zeichne sich ab, dass die DDR in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sein und erhebliche Stabilitätshilfen benötigen werde. Drittens die Übersiedlerzahlen, die im Februar erneut höher sein würden als im Januar […]. Es ist, als ob ich in ein Wespennest gestochen hätte.« (S. 136)

Dieser Stich kam nachträglich betrachtet der Volksverhetzung schon recht nahe. Die ersten beiden Punkte waren maßlos übertrieben, der dritte korrekt, aber natürlich beeinflusst durch permanente maßlose Übertreibung. »Wir sind uns darüber im Klaren«, schrieb Teltschik, dass erst »nach der Wahl Übersiedler so behandelt werden müssen wie Bundesbürger, die ihren Wohnsitz wechseln«. Also ohne staatliche Hilfen. Privilegien für Ausreisende zwecks Destabilisierung der DDR ganz klar als Mittel zur Wahlbeeinflussung.

Dass es einen Autoritätsverfall gab, steht außer Frage, aber weder war er drastisch noch betraf er jede Autorität. Der auf Initiative des Runden Tisches verabschiedete sogenannte Modrow-Erlass zum Beispiel, der es zum ersten Mal ermöglichte, zu Wohn- und Gewerbezwecken volkseigenen Grund und Boden zu kaufen, wird zum Ärger des Kanzleramtes mit zunehmender Begeisterung von einer halben Million DDR-Bürger »exekutiert«. Und in Berlin findet jetzt ohne Kultur-Kollaps wie immer das Festival des politischen Liedes statt, mit Gästen aus achtzehn Ländern, darunter Chile, Israel, Nikaragua, der Sowjetunion und den USA.

Entscheidend war die Bombenwirkung des Gerüchtes von der völligen Zahlungsunfähigkeit in wenigen Tagen. Pöhl bezeichnete mir gegenüber diese Behauptung Teltschiks als Chuzpe (Dreistigkeit, Unverschämtheit). Einer, der es auch besser wusste, nämlich der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Banken und Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Dr. Wolfgang Röller, gab sofort eine Gegen-Pressekonferenz, auf der er sich von Teltschiks Aussage distanzierte. Er sprach von »durchsichtigen Bankrottgerüchten«. Doch für die betroffenen Bürger war dies nicht durchsichtig, denn dieses Dementi fand in den Medien keine Beachtung. Dagegen in der Bild am 10. Februar: »DDR vor dem Zusammenbruch – Die Lage in der DDR hat sich seit gestern [der Pressekonferenz von Teltschik] dramatisch zugespitzt. In Eilmeldungen jagten die großen Presseagenturen die Nachricht um die Welt: Die DDR steht vor der Zahlungsunfähigkeit, vor dem totalen Zusammenbruch. Nach ›vertraulichen Informationen aus Bonn‹ [Aha!] laufen immer größere Scharen davon. Ministerpräsident Modrow entgleitet die Macht.«

In dem Kommentar »DDR am Tropf« verbildlicht Bild die Botschaft von Teltschik: »Die Wirtschaft der DDR liegt auf der Intensivstation. Sie braucht die Transfusion der D-Mark. Das ist lebensentscheidend, garantiert aber die Gesundung noch nicht. Die DDR-Wirtschaft muss Aufbaugymnastik betreiben, sprich: die Planwirtschaft endgültig abräumen.«

Schöner kann sich Kohls engster Berater Teltschik nach seiner Panik-Pressekonferenz die Schlagzeilen nicht wünschen. Kohl solle heute bei Gorbatschow retten, was noch zu retten sei, fügt Bild am 10. Februar hinzu. Was blieb Lothar Späth noch, um auf sich aufmerksam zu machen? Ihm fiel nichts Besseres ein, als am 11. Februar, während Kohl in Moskau war, die »bedingungslose wirtschaftliche Kapitulation der DDR« zu fordern.

Eine ausweglose Situation herbeireden

Am selben Tag dementiert auf einer Wahlveranstaltung der CDU am Berliner Alexanderplatz deren Vorsitzender de Maizière die Behauptung westlicher Politiker und der Bild-Zeitung, er habe erklärt, die DDR stünde kurz vor dem Kollaps und die Zahlungsbilanz wäre nicht mehr gewährleistet. Er habe in einem Telefongespräch mit der Zeitung eindeutig gesagt, dass ihm solche Dinge nicht bekannt seien. Er wisse auch nicht, woher man in Bonn diese Information habe. Eine kleine Meldung über das Dementi erscheint in der Neuen Zeit, auch im Neuen Deutschland.

Hier kommt auch die »Vereinigte Linke« zu Wort, die ebenfalls Gerüchten widerspricht, die DDR stehe vor dem Zusammenbruch. Das Szenarium werde immer klarer. Aus Bestrebungen zur Vereinigung seien die zu einem Anschluss geworden. »Der Versuch, in der DDR eine ausweglose Situation herbeizureden«, gefährde die Stabilität in beiden Staaten.

Die Zeitung berichtet auch von der ersten gemeinsamen Tagung des Stockholmer- und des DDR-Friedensforschungsinstitutes der DDR. Egon Bahr lässt dort keinen Zweifel, dass die zunehmende Krise in der DDR »nicht nur von innen« kommt. Bärbel Bohley vom »Neuen Forum« wird direkter: Die Art und Weise, wie der bundesdeutsche Wahlkampf in die Orientierungslosigkeit der DDR-Bevölkerung stoße, sei »geistige Besetzung«. Außenminister Genscher versucht auf der Tagung mit dem üblichen Placebo zu beruhigen: Die NATO könne einen Beitrag zur Stabilität leisten, wenn sie erkläre: »Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion, wird es nicht geben.« Diese startet am selben Tag das bemannte Raumschiff »Sojus TM-9«.

Am 12. Februar beschreibt Der Spiegel die mediale Panikmache trefflich:

»Beim Versuch, die Lage in der DDR darzustellen, gerieten der Bundeskanzler und seine Minister am Mittwoch an ihre sprachlichen Grenzen. Kein Katastrophenbegriff aus Medizin und Technik wurde ausgespart, die deutsch-deutsche Wirklichkeit im Februar 1990 zu beschreiben. Das Lebenslicht der DDR, da waren sich alle einig, kann täglich erlöschen […]. Alle politischen Vorbehalte, alle ökonomischen Bedenken sind weggewischt. Die Wiedervereinigung wird über die starke Deutsche Mark bewerkstelligt.«

Gleichzeitig beteiligt sich Der Spiegel im selben Artikel in nicht zu überbietender Weise am Katastrophenszenario. Woher hat er die wörtlichen Zitate vom Vieraugengespräch zwischen Kohl und Modrow am Rande des Weltwirtschaftstreffens in Davos am 3. Februar? Dem DDR-Ministerpräsidenten wird in den Mund gelegt, es gäbe »einen dramatischen Verfall der Staatlichkeit «, die Nationale Volksarmee »zerbrösele«, vor allem aber sei sein Land »wirtschaftlich am Ende«. Die Produktion sacke ab und mit ihr die Kreditwürdigkeit der DDR, Zahlungsunfähigkeit drohe. »Bei uns ist es aus«, erklärte der DDR-Premier dem Bonner Kanzler. »Wir sind am Ende. Unser Geld reicht noch bis Mitte des Jahres.« So also die Berichterstattung gut vier Wochen vor der Wahl. So ist es in die Geschichtsschreibung eingegangen – Modrow selbst habe kapituliert, dem Kanzler blieb keine andere Wahl, als das Heft in die Hand zu nehmen.

Auf Anfrage sagt Hans Modrow heute, er habe kein Wort davon gesagt. Schon allein, weil diese Schilderung der DDR-Realität keinesfalls entsprochen hätte. Er verweist auf ein interessantes Detail. Das vermeintliche Vieraugengespräch in Davos war in Wahrheit ein Achtaugengespräch. Modrow hatte seinen wissenschaftlichen Mitarbeiter Dr. Karl-Heinz Arnold dabei. Und der Kanzler den seinen – selbstredend Horst Teltschik. Noch 1990 erschien Arnolds Buch: Hans Modrow – Die ersten hundert Tage. Darin findet sich eine ausführliche Schilderung des Treffens, von der Modrow sagt, sie werde dem Inhalt und Charakter der Begegnung gerecht.

Daniela Dahn, Rainer Mausfeld:
Tamtam und Tabu
Die Einheit: Drei Jahrzehnte ohne Bewährung
Westendverlag
18,00 Euro
ISBN: 3864892295