Bürokratieabbau für wen?
Die neoliberale Offensive unter neuem Deckmantel
Die Ernennung von Karsten Wildberger zum Minister für Digitales und Staatsmodernisierung kam überraschend. Wildberger war vorher Manager der MediaMarkt-Saturn Gruppe, aber vermutlich war dies nicht der ausschlaggebende Faktor für seine Ernennung. Denn er soll nicht nur die Faxgeräte in der Verwaltung abschaffen, sondern auch Personal kürzen. Dafür ist er durch die Massenentlassungen von tausenden Beschäftigten, die er bei MediaMarkt-Saturn verantwortet hat, bestens qualifiziert.
Kurz nach der Bundestagswahl hat die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ einen Zwischenbericht vorgelegt, mit Dutzenden Vorschlägen zur „Staatsmodernisierung“.[1] Hinter dieser Initiative versteckt sich ein elitäres Netzwerk, u. a. mit Ex-Bundesverfassungsrichter Andreas Voßkuhle, Ex-Bundesminister Thomas de Maizière, Ex-SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Managerin Julia Jäkel. Viele Empfehlungen aus dem Bericht sind direkt im Koalitionsvertrag gelandet: Erleichterung von Investitionen durch den Staat und ein „Vertrauensvorschuss“ für Unternehmen und Bürger*innen und die Einrichtung eines Ministeriums für Digitalisierung und Verwaltung. Das Framing hinter alledem: „Bürokratieabbau“.
Bürokratieabbau ist ein zentrales Projekt der neuen Koalition.
Mit Bürokratieabbau will die neue Regierung zweierlei. Erstens sollen Unternehmen von Regeln befreit werden: „Vertrauensvorschuss für Unternehmen“ und damit weniger Kontrollen bei Mindestlohn, Tariftreue, Arbeitsschutz. Das Lieferkettengesetz wird abgeschafft. Den Unternehmen wird damit Tür und Tor geöffnet, um Regeln, die uns alle schützen sollen, zu unterlaufen.
Zweitens Entbürokratisierung als Staatsabbau („Staatsmodernisierung“). Die Regierung plant Personal zu kürzen: in Bundesbehörden um 8 Prozent außer in Polizei und Geheimdienst. Es soll „Öffnungsklauseln“ für Gesetze geben, damit Kommunen und Länder davon abweichen können, wenn Personal und Geld nicht reichen. Faktisch heißt das: Die Standards werden gesenkt. Bürgerbeteiligung und Umweltprüfungen bei Infrastrukturprojekten sowie das Verbandsklagerecht werden eingeschränkt. Wenn der Staat weniger eigenes Personal hat, müssen Dienstleistungen ausgeschrieben werden – die Personalkürzungen fördern Privatisierungen.
Mit dem Bürokratieabbau legt die neue Regierung die Kettensäge an den Staat an: pauschaler Stellenabbau, Leistungskürzungen und weniger Regeln für Unternehmen. Die Anklänge von Elon Musks DOGE und Javier Mileis Staatsabbau sind unverkennbar – wenn auch auf niedrigerem Niveau. Die neue Regierung nutzt das Framing des Bürokratieabbaus, statt offen den Staat anzugreifen.
Das Deckwort Bürokratieabbau wirkt[1]
Befragt, ob es zu viel Bürokratie gibt, antwortet die große Mehrheit (96 Prozent) mit ja – auch die Mehrheit der Linke-Anhänger*innen. Dass die Befragten wahrscheinlich an Unterschiedliches dabei denken, macht den Begriff für neoliberale Politik umso nützlicher. Auch in den 1990 und 00er Jahren ist unter dem Kampfbegriff des Bürokratieabbaus Privatisierung und Sozialabbau vorangetrieben worden. Dann kam es zu einem Stimmungsumschwung: Viele merkten, dass „privat“ nicht „effizienter“ im Sinne der Bedarfe der Bevölkerung ist. Zunehmend erlebten die Menschen, dass „der Staat“ nicht mehr funktioniert, lange Wartezeiten bei Ämtern, viele Anträge, weniger Leistungen. An dieses Empfinden will die neue Offensive des „Bürokratieabbaus“ anknüpfen.
Bei diesem Stimmungsbild wäre eine Gegenerzählung unter dem Motto „Mehr Bürokratie wagen“ eine Lachnummer –gerade das macht diese neuerliche Offensive des Neoliberalismus gefährlich.
Bürokratieabbau als neoliberale Offensive benennen
Umso wichtiger ist es, der neuen Regierung ihr Framing nicht zu überlassen. Gesetzliche Regulierung bedeutet auch, dass die Gesellschaft bzw. der Gesetzgeber dem wirtschaftlichen Handeln Grenzen auferlegt, etwa indem mit der Entsenderichtlinie Mindestanforderungen in Arbeitsverhältnissen formuliert werden. Diese müssen durchgesetzt werden. Wer etwas anderes sagt, spricht im Interesse der Unternehmen.
Die Menschen haben berechtigterweise den Anspruch, dass die Bürokratie für sie arbeiten sollte und nicht gegen sie. Wenn sie in der Behörde abgewiegelt werden, hat das oft mit Stress und Personalmangel zu tun – und mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen, für die die Regierung politisch verantwortlich ist. Was wirklich helfen würde, wäre eine ausreichende Finanzierung und mehr Personal, mehr Mitbestimmung, weniger Hierarchien, mehr Bürgernähe und das Fördern von Verantwortungsübernahme, sodass die Verwaltung ein attraktiver Ort zum Arbeiten wird.
Bürokratieabbau für wen? Für die Vielen und nicht für die Reichen und Unternehmen!
Die Leistungen des Staates sind eine Klassenfrage. Gleiches gilt für den Abbau von Leistungen. Bürgergeld-Empfänger*innen werden gegängelt und sanktioniert, angeblich um Kosten zu sparen – in Wirklichkeit zur Disziplinierung und um die Lohnkosten nach unten zu drücken. Der BAföG-Antrag hat schnell zwanzig Seiten, die es nicht bräuchte, wenn durch ein elternunabhängiges BAföG alle während der Ausbildung unterstützt werden würden. Gleichzeitig entgehen dem Staat jedes Jahr hundert Milliarden an Steuern, weil Superreiche und Konzerne Steuern hinterziehen.
Es gibt unzählige Steuererleichterungen für Vermieter, diese können sogar Zinsen für neue Immobilienprojekte und Maklerkosten von der Steuer absetzen. Eine ganze Armada von Steuerfachleuten und Immobilienagenten ist darauf spezialisiert, Immobilien so zu verwalten, dass das Immobilienkapital keine Steuern zahlen muss. Mieter*innen müssen dagegen irgendwo bei den Werbungskosten suchen und ihre Homeoffice-Tage zählen, um vielleicht ein paar Euro von der Steuer absetzen zu können.
Der Zweck und die Ausgestaltung von Regeln sind gesellschaftlich umkämpft. Während bei Missachtung von Hygiene und Arbeitsschutz in den großen Schlachthallen von Tönnies und Co. systematisch weggeschaut wird, kommt das Hygieneamt in kleinen Imbissen regelmäßig vorbei – letztes Jahr haben die rassistischen Kontrollen bei Crunchy Kebab in Kassel für Aufsehen erregt: In dreizehn Monaten gab es elf Kontrollen durch das Gesundheitsamt.[2]
Das Gegenstück dazu ist das Gewerbeamt in Brandenburg. Die Tesla Gigafactory in Grünheide verstößt systematisch gegen Arbeitsschutz und Umweltstandards. Ein normales Gewerbe hätte schon längst geschlossen werden müssen. Woran liegt es? Die Verwaltung funktioniert nicht. Das Gewerbeamt Brandenburg hat nur ein Dutzend Beschäftigte, wie soll man so Verstöße gegen Auflagen in einem Großbetrieb mit Tausenden Beschäftigten kontrollieren? Wenn die Regierung Unternehmen wie Tesla jetzt einen Vertrauensvorschuss gewähren will, ist das eine Farce.
[1]https://www.ghst.de/fileadmin/images/01_Bilddatenbank_Website/Demokratie_staerken/Initiative_für_einen_handlungsfähigen_Staat/20250311_Zwischenbericht_interaktiv.pdf
[2] https://www.hna.de/kassel-live/gegen-ordnungsamt-rassismusvorwuerfe-92757384.html