Die AfD im ländlichen Raum
Noch immer gewinnt die AfD Stimmen von allen anderen Parteien, auch von der Linken. Zudem dominiert sie zunehmend den ländlichen Raum, auch im Westen. Wie können wir uns die Erfolge der extrem Rechten aus marxistischer Sicht erklären? Was sind linke Gegenstrategien? Thorben Peters, Landesvorsitzender Die Linke Niedersachsen analysiert die Ursachen an Beispielen aus Niedersachsen und macht einige Vorschläge.
Wahlergebnisse der AfD bei der Bundestagswahl 2025 in Niedersachsen
Bei der Bundestagswahl 2025 konnte die AfD in Niedersachsen ihr Ergebnis im Vergleich zu 2021 deutlich steigern. Besonders stark schnitt sie in mehreren ländlich geprägten Wahlkreisen ab, wo sie ihre Ergebnisse mehr als verdoppeln konnte, wie z.B.:
WK 24 – Aurich–Emden: Zweitstimmen 21 %, Zuwachs +12,8 % im Vergleich zu 2021. In der Gemeinde Großheide erreichte die AfD knapp 28 % und wurde damit stärkste Kraft.
WK 32 – Cloppenburg–Vechta: Zweitstimmenanteil 20,6 %, Zuwachs +12,8 %. Besonderheit: In der Gemeinde Barßel wurde die AfD in sieben von 13 Wahlbezirken stärkste Kraft, mit Spitzenwerten von bis zu 39,9 % in Lohe.
WK 25 – Unterems: Zweitstimmenanteil 20,9 %, Zuwachs +12,7 %. Die AfD erzielte in mehreren Gemeinden des Wahlkreises überdurchschnittliche Ergebnisse.
WK 51 – Helmstedt–Wolfsburg: Zweitstimmenanteil 22 %, Zuwachs +12,5 %. Geringste Wahlbeteiligung in Niedersachsen. Hier erreichte die AfD ihr bestes Ergebnis im Land.
Gründe für das starke Abschneiden der AfD im ländlichen Raum
Nach gängigen Erklärungen lässt sich der Wahlerfolg der AfD sich auf eine Mischung aus sozioökonomischen, kulturellen und politischen Faktoren zurückführen. Diese führen zu einem verbreiteten Gefühl der Abgehängtheit, Ohnmacht und politischen Unsichtbarkeit, welches die AfD geschickt nutzt.
In ländlichen Räumen, insbesondere angesichts unterfinanzierter Kommunen erleben wir seit langem einen Rückzug der öffentlichen Daseinsvorsorge. Schulschließungen, Wegfall von Arztpraxen, schlechter Nahverkehr oder das Zusammenlegen von Kliniken sind hier nur einige Beispiele. In strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringen Einkommen verfängt die Rhetorik der AfD besonders gut.
Viele Menschen fühlen sich von den etablierten Parteien daher im Stich gelassen. Die AfD präsentiert sich als Protestpartei gegen „die da oben“. In homogeneren Regionen lösen Themen wie Migration, Klimapolitik oder Genderdebatten Verzichtsängste aus, die die AfD gezielt anspricht. Die Lokalpresse ist häufig schwach, soziale Medien dominieren. Vor Ort mangelt es häufig an linker, sozialdemokratischer oder grüner Infrastruktur – was der AfD Raum lässt.
So richtig diese Punkte auch sind, so sehr gehen sie am Kern der Klassenverhältnisse allerdings vorbei. Denn die Entwicklungen im ländlichen Raum sind nicht einfach Ausdruck einer verfehlten Politik, sondern typischer Bestandteil des Spätkapitalismus.
Prekäre Klassenlage und ökonomischer Entwurzelung
Der ländliche Raum ist oft geprägt von prekären Arbeitsverhältnissen. Saisonarbeit, Leiharbeit, Einzelhandel und unterbezahlte Pflege- sowie Landwirtschaftsarbeit. Kleine Betriebe oder größere Industriegebiete sind dagegen kaum vorhanden. Hinzu kommt eine geringere Tarifbindung aufgrund weniger gewerkschaftlichem Einfluss. In Zahlen ausgedrückt verdient man in der VW-Stadt Wolfsburg fast 7.000 Euro pro Kopf/Jahr mehr als zum Beispiel im ländlichen Lüchow-Dannenberg. Nicht zu vergessen: die große ökonomische Abhängigkeit von Agrarkonzernen, Subventionen oder Zulieferindustrie. Alles zusammen erzeugt das Gefühl von sozialer Unsicherheit, Abstiegsängsten und Kontrollverlust, weil der/die Einzelne keinen Einfluss auf die ökonomischen Bedingungen hat. Menschen im ländlichen Raum sind also von wesentlichen Aspekten ihres Lebens stärker entfremdet als im urbanen Raum.
Der Rückzug des Staates aus der Fläche – also Schließung von Schulen, Kliniken, Poststellen – ist dabei kein „Versagen“, sondern eine Folge der kapitalistischen Verwertungslogik, deren sich eine neoliberale Politik unterwirft. Dienstleistungen werden dort konzentriert, wo Profit zu holen ist – also in Städten. Ländliche Räume verlieren an Bedeutung, weil sie nicht mehr ausreichend Rendite abwerfen. Kommunen leiden so unter Unterfinanzierung, politische Handlungsspielräume werden so eingeschränkt und der Staat zieht sich aus wesentlichen Aufgaben zurück. Die Menschen erleben das als sozialen Abstieg und politischen Verrat – was sie anfällig macht für „anti-elitäre“ Mobilisierung. Die AfD kanalisiert diesen Frust nicht gegen das kapitalistische System, sondern gegen Migrant*innen, Umweltauflagen oder „die da oben“.
Die AfD hat eine systemstabilisierende Funktion, auch wenn sie systemkritisch auftritt. Sie ist zudem ein Symptom, nicht die Ursache tieferliegender Probleme. Menschen spüren, dass sie weniger Kontrolle über ihr Leben haben, dass sie überflüssig gemacht werden in einer kapitalistischen Verwertungslogik. Die AfD bietet keine Lösung, sondern lenkt diese Klassenwut auf kulturelle Nebenschauplätze: Migration, Geschlechterpolitik, Nationalstolz. In marxistischen Begriffen: Das „Klassenbewusstsein“ im ländlichen Raum ist „verstellt“ durch ein „falsches Bewusstsein“ (Marx/Engels). Anstatt zu erkennen, dass Reiche und Konzerne ihre Lebensgrundlagen zerstören, werden „die Ausländer“, „die da oben in Berlin“ oder „linke Eliten“ verantwortlich gemacht.
Hegemonie im dörflichen Alltag
Nach Antonio Gramsci stellt sich die Frage, wer kulturelle Hegemonie im Alltag ausübt – also wer die Deutungshoheit über „die Realität“ besitzt. Dabei spielen Traditionen eine starke Rolle, die aus bestimmten gesellschaftlichen Zuständen und Praktiken erwachsen sind. Hierzu zählen im ländlichen Raum kirchliche Rituale, Pflichten gegenüber Vorfahren, patriarchale Geschlechterrollen oder privateigentumsbasierte Eigentumsnormen. Diese Traditionen sind nicht nur repressiv, manche enthalten auch kollektive, solidarische Elemente, die emanzipatorisch wirken können wie z.B. gemeinschaftliche Arbeit, nachbarschaftliche Hilfe oder Bräuche, die Gleichheit betonen. Die AfD übernimmt dort hegemoniale Positionen, inszeniert sich als Kümmerer und lenkt die Wut über real erfahrene Missstände auf Minderheiten um.
In ländlichen Räumen fehlen dagegen oft linke Milieus wie Gewerkschaften und kritische Bildungseinrichtungen. Stattdessen prägen traditionelle Milieus wie Feuerwehr, Schützenverein oder Kirchengemeinde oft das gesamte Sozialleben. Wer sich dort für Geflüchtete einsetzt, queere Themen anspricht oder Kritik an der Polizei äußert, riskiert soziale Isolation. Rechte Narrative („Früher war alles besser“, „Wir dürfen ja nichts mehr sagen“, „Gender-Wahnsinn“) werden nicht hinterfragt, sondern beiläufig reproduziert – beim Bäcker, im Sportverein, am Gartenzaun. Ideologie wirkt hier nicht vor allem durch Argumente, sondern durch Gewohnheit, was die AfD gezielt nutzt. Die „anti-elitäre“ Mobilisierung gelingt auf den Feldern besonders gut, wo zu einer ökonomischen Schlechterstellung eine kulturelle Abwertung kommt. Das Auto ist deswegen für eine kulturkämpferische Aufladung besonders geeignet, da es in urbanen Räumen eher Störfaktor und in ländlichen Räumen Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und Hilfsmittel im Alltag ist, um ein besonders prägnantes Beispiel zu nennen.
In vielen Dörfern sind lokale Facebook- oder WhatsApp-Gruppen die zentrale Informationsquelle. Dort verbreiten sich schnell rechte Narrative über „Ausländerkriminalität“, „Genderideologie“ oder „links-grüne Verbote“, oft ohne journalistische Einordnung. Regionale Medien werden als „linksgrün“ verdächtigt, öffentlich-rechtliche Quellen gelten als „Staatsfunk“. Die AfD besetzt den medialen Raum, weil linke Stimmen nicht oder nur marginal vorkommen. Lokale Printmedien stehen wirtschaftlich unter Druck und berichten „ausgewogen“, was in der Praxis oft heißt, sie übernehmen AfD-Positionen unter dem Deckmantel der Neutralität, sofern sie nicht den Optimierungskriterien der Onlinemedien folgend gezielt auf emotionalisierende oder polarisierende Themen setzen. Gleichzeitig führen Konsolidierungen auf dem Zeitungsmarkt dazu, dass die Vielfalt in der publizierten Meinung abnimmt. Leserbriefspalten, Kommentarbereiche oder Regionalfernsehen werden von rechten Stimmen dominiert – was eine Schieflage der öffentlichen Meinung erzeugt. Wer widerspricht, wirkt „ideologisch“, während Rechte sich als „Volk“ inszenieren.
Politische Bildung wird oft nur formal vermittelt, z. B. in Form von Bundeszentrale-Materialien im Unterricht, die auswendig gelernt, aber nicht diskutiert werden. Lehrer*innen im ländlichen Raum vermeiden kontroverse Themen wie Rassismus, Klassismus oder queere Rechte, um Ärger mit Eltern oder Schulleitung zu vermeiden. Wenn Schüler*innen die AfD gut finden oder verschwörungsideologisch argumentieren, fehlt oft eine strukturierte Gegenrede. Progressive Lehrkräfte sind oft nur einzeln zu finden und aufgrund mangelnder Organisation oft hilflos. Die Schule wird nicht als Ort der Emanzipation, sondern als Reproduktionsstätte bestehender Verhältnisse erlebt.
Linke Gegenstrategien für den Aufbau von Gegenmacht
Die AfD profitiert davon, dass der ländliche Raum von sozialem Rückzug, ökonomischer Unsicherheit und kulturellem Konservatismus geprägt ist. Linke Strategien müssen deshalb nicht nur informieren oder kritisieren, sondern Alternativen leben, Räume schaffen und Bündnisse aufbauen. Ziel muss es sein, Klasseninteressen sichtbar zu machen, reaktionäre Meinungen damit zu hinterfragen und Menschen zu organisieren.
Kämpfe um konkrete soziale Interessen führen: Die Probleme in ländlichen Raum sind zahlreich und verdienen konkrete Antworten und erlebbares Engagement. Linke Politik beginnt da, wo der Alltag schmerzt. Kein Bus fährt mehr? Nahverkehr ausbauen! Ärzte wandern ab? Landärzte gezielt fördern! Schulen schließen? Kampf um Infrastruktur führen! Menschen auf dem Land haben oft ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Die Linke kann hier ansetzen mit z.B. Bürgerbus-Initiativen, Genossenschaftsmodelle für Nahversorgung, Ehrenamt stärken, Räume für Teilhabe schaffen, Betriebsräte gründen, Proteste und solidarische Nachbarschaftsarbeit. Klassenbewusstsein kann sich nur aus kollektiver Erfahrung bilden.
Klassenlage benennen, statt moralischer Belehrung: Viele AfD-Wähler auf dem Land sind nicht „radikal rechts“, sondern enttäuscht, wütend, unsicher. Migration ist oft Stellvertreterthema für gefühlte Abwertung und Vernachlässigung. Die Linke sollte sagen: „Nicht Geflüchtete nehmen euch die Hausärzte – sondern eine Politik, die reiche Krankenhauskonzerne belohnt.“ Wut soll nicht nach unten, sondern nach oben gehen. Dabei gilt es auch die Verbindung zwischen Stadt und Land zu schaffen, denn von einer Spaltung Stadt vs. Land profitieren nur die Rechten. Bezahlbares Wohnen, gute Versorgung und gerechte Löhne sind Interessen, von denen alle profitieren.
Verankerung in der Lebenswelt: Auch wenn es im ländlichen Raum an linken Milieus mangelt, gibt es vielerorts ein soziales Bewusstsein. Dort wo sich der Staat zurückzieht, tritt oft ehrenamtliche Arbeit in Vereinen, Freiwilligen Feuerwehren, Sport- und Sozialverbänden oder Kirche an die Stelle der Daseinsvorsorge. Hier kann linke Engagement politisieren und Bündnispartner gewinnen, um gemeinsam konkrete Probleme anzugehen. Auch können eigene Angebote geschaffen werden, wie regelmäßige Stammtische, Frühstückstreffen oder Nachbarschaftscafés mit politischem Impuls, Anlaufstellen für Mieterinnen, Leiharbeiterinnen, evtl. mobil (z. B. Sozialberatung im Bauwagen). Ziel muss hier sein, linke Politik mit Fürsorge, Präsenz und Alltagssprache zu verbinden.
Politische Bildung anbieten & kulturelle Räume öffnen: Linke Bildungs- und Kulturangebote können ein wirkungsvolles Mittel sein, dem konservativ dominierten Alltagsverstand etwas entgegenzusetzen. Auch sind sie oft ein niedrigschwelliger Anlaufpunkt für politisch Interessierte, welche ihre linkeren Ansichten in ihren sonstigen Gemeinschaften oft aus Angst vor sozialer Isolation zurückhalten. Lokale Veranstaltungsreihen in Jugendzentren, Volkshochschulen, Kneipenformate, Workshops an Schulen sind gute Möglichkeiten der politischen Bildung. Genauso kulturelle Angebote wie dörfliche Kulturinitiativen als Bühne für politische Kunst, Lesungen, Musik wie das antirassistische Festival Weser-Beatz oder aber Wanderausstellungen, Filmabende und Thementage auf Dorffesten wie das antifaschistische Pasta essen „Pastasciutta antifascista“. Die Gründung eines Rosa-Luxemburg Clubs kann hierfür ein erster Schritt sein, um solche Veranstaltungen niedrigschwellig auf den Weg zu bringen.
Gegenöffentlichkeit und lokale Medienarbeit stärken: Gerade, weil die sozialen Medien eine große Rolle im ländlichen Raum spielen, dürfen wir sie den Rechten nicht überlassen, sondern müssen eine alternative Öffentlichkeit schaffen, die nicht abgehoben, sondern lokal verankert ist. Dazu braucht es klare politische Aussagen zu sozialer Ungleichheit – visualisiert, emotional, wiedererkennbar. Hierzu können zählen: Der Aufbau eines linken Bürger*innenradios oder Podcasts („Stimme vom Land“) mit Interviews, Hintergrundanalysen, politischen Erzählungen aus der Region. Das Bedienen von Printformaten mit Leser*innenbriefe, Redaktionskooperationen, um linke Themen (Pflegenotstand, Mieten, Lohnarbeit) im Lokalen sichtbar zu machen sowie eine Strategie innerhalb der sozialen Medien mit Videos und Bildern mit Verankerung in Messenger-Gruppen.
Abschließend
Mein herzlicher Dank geht an die Genossinnen und Genossen Hilke Hochheiden, Anne-Mieke Bremer, Torben Franz und Janis Wisliceny, die bei der Entstehung dieses Artikels geholfen haben und deren Gedanken sowie Erfahrungen diesen Artikel bereichert haben.