USA: Blaues Auge statt roter Welle

Die USA haben gewählt. Bei den "Midterm Elections", den Zwischenwahlen, am 8. November wurden das gesamte Repräsentantenhaus für eine zweijährige Wahlperiode und ein Drittel des Senats für eine sechsjährige Wahlperiode gewählt. Außerdem stand die Mehrheit der Gouverneure (vergleichbar mit Ministerpräsident*innen der deutschen Bundesländer), viele Parlamente der Bundesstaaten und eine Reihe von Anliegen bei Referenden zur Abstimmung.

Traditionell wird die Partei des US-Präsidenten bei diesen Wahlen abgestraft. Die Zustimmungswerte für den Demokraten Joe Biden waren gering, die Benzinpreise hoch und so frohlockten viele in der "Grand Old Party" (GOP), den Republikanern, und freuten sich schon auf eine »rote Welle«, manche sprachen sogar von einem Tsunami, der die Demokraten hinwegfegen würde. (Rot, das ist für Linke im Rest der Welt etwas verwirrend, ist in den USA die Farbe der Konservativen. Die Farbe der  Demokraten ist blau.) Der Fraktionsvorsitzende der Republikaner, Kevin McCarthy, hatte seine Siegesrede bereits für 23 Uhr des Wahlabends angekündigt und der ehemalige Präsident Donald Trump freute sich schon darauf, mit diesem Rückenwind seine Kandidatur für 2024 anzukündigen.

Aber es kam anders. Eine Woche lang wurde gezählt, bis am Mittwochabend - eine Woche nach der Wahl - endlich eine knappe Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus verkündet werden konnte. Schon am Samstag nach der Wahl war hingegen klar, dass der wichtige Senat in der Hand der Demokraten bleibt. Zudem konnten die Demokraten auf der Ebene der US-Bundesstaaten viele wichtige Erfolge erringen. "Wir hatten die besten Ergebnisse bei Midterm Elections für Gouverneure seit 1986", sagte Präsident Joe Biden am Tag nach der Wahl.

Aus der »roten Welle« wurde ein laues Plätschern. Die Demokraten sind mit einem blauen Auge davon gekommen. Aber ist nun alles gut?

Leider ist das Land weit davon entfernt. Aber die letzte Woche gibt wieder Hoffnung.

Einerseits sind die Republikaner weiterhin alles andere als "normale" Konservative. Sie haben sich in ihrer Mehrheit in eine rechtsradikale Trump-Sekte verwandelt. Politikerinnen und Politiker, die den Sturm auf das Parlament am 6. Januar 2021 untersuchen wollen, werden in dieser Partei entmachtet. "QAnon"-Verschwörungserzähler und Kandidatinnen und Kandidaten, die die Wahlergebnisse von 2020 anzweifeln, werden hingegen nominiert. Letztere haben im neuen Kongress so viel Einfluss wie nie zuvor. Das hat zwei Gründe: Zwar haben in den umkämpften Wahlkreisen am 8. November viele "Trumpisten" eine Niederlage erlitten. Aber die große Mehrheit der Wahlkreise ist in den USA so zugeschnitten, dass schon lange vor den Wahlen klar ist, wer hier gewinnt. In diesen sicheren Wahlkreisen kommt es auf die Vorwahlen innerhalb der Partei an. Die rechtsradikalen Kräfte haben sich hier bei den Nominierungen in großer Zahl durchgesetzt. Und zum zweiten ist die Mehrheit der Republikaner so knapp, dass deren Fraktionsführung bei allem, was sie tun, auf diese Leute angewiesen ist. So eine Partei kontrolliert jetzt das Repräsentantenhaus. Und selbst im Senat können die Republikaner massiven Einfluss ausüben, da es eine antiquierte Regel (Filibuster) gibt, die bei den meisten Entscheidungen keine einfache Mehrheit, sondern eine 60-prozentige fordert. Für Joe Biden und die Demokraten wird es somit deutlich schwerer, ihre politischen Vorhaben umzusetzen. Und auch Donald Trump ist noch da und hat eine erneute Kandidatur als Präsident angekündigt. Die Demokratie ist hier weiter in ernster Gefahr. 

Andererseits hat das Wahlergebnis gezeigt, dass mit einer hohen Wahlbeteiligung, gerade unter jungen Leuten, der drohenden Gefahr des Autoritarismus etwas entgegengesetzt werden kann. Die Wahl von John Fetterman zum Senator von Pennsylvania, Referenden, die das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in den Verfassungen von Bundesstaaten festschrieb, die Legalisierung von Marihuana, der Schutz von Mieterinnen und Mietern: Alles das waren auch Ergebnisse des Wahltages. Und besonders erfreulich ist, dass die Linke besser abgeschnitten hat als je zuvor. Als Alexandria Ocasio-Cortez aus New York City im Jahr 2018 das erste mal in das Repräsentantenhaus gewählt wurde und mit drei weiteren nicht weiße Frauen "The Squad" bildete, war das eine Sensation. 2020 kamen dann zwei weitere Abgeordnete hinzu. Am vergangenen Dienstag gratulierte der ehemalige Präsidentschaftsbewerber und Senator Bernie Sanders acht (!) weiteren linken Abgeordneten zur Wahl. Mehr als eine Verdopplung in nur vier Jahren - gerade die Linke aus Deutschland sollte so ein Ergebnis nicht gering schätzen.

Mit der Wahl vieler Abgeordneter, die sich darüber hinaus dem gemäßigt-linken progressiven Flügel anschließen dürften, wird es ab Januar die fortschrittlichste Fraktion der Demokraten im Repräsentantenhaus seit Jahrzehnten geben. Und auch auf der rechten Seite gibt es Bewegung. Die gerade begonnene Schlammschlacht darüber, ob man die Trump-Zeit beenden solle, dürfte spannend werden.

Das gibt Hoffnung und ist auch für unser Land wichtig. Im Ergebnis des russischen Krieges gegen die Ukraine wurde die Abhängigkeit von russischer Energie gegen Fracking-Gas aus den USA eingetauscht. Sicherheitspolitik für Europa und Deutschland wurde und wird immer nur im Rahmen der NATO gedacht und die wird zu 90 Prozent aus den USA finanziert und beide Länder sind wirtschaftlich eng verflochten. Kluge linke Außenpolitik sollte gegenüber den USA daher zwei Wege zugleich beschreiten. Zum einen, als Opposition in Deutschland und Europa in aller Klarheit den "worst case" beschreiben und von Berlin und Brüssel verlangen, sich darauf vorzubereiten. Hier in den USA wird seit langem offen darüber diskutiert, dass das Land den Pfad der Demokratie verlassen könnte oder gar auseinanderbricht. Eine reformierte demokratischere und sozialere Europäische Union muss daher auch eine eigenständigere Europäische Union sein, die im Ernstfall in allen Bereichen auch ohne die USA bestehen kann.

Aber zweitens kann das Abrutschen des Landes in den Autoritarismus, das haben die Midterm Elections gezeigt, noch verhindert werden. Alle progressiven Kräfte müssen von Olaf Scholz und Annalena Baerbock verlangen, dass sie ihre neutrale Position zwischen einer Partei, die Wahlergebnisse nicht mehr anerkennt und einen versuchten Putsch gegen eine gewählte Regierung schönredet, und den Demokraten, verlässt. Ja, das ist ein Risiko, weil wir noch nicht wissen, wer sich in den USA durchsetzen wird. Aber wer nur für Demokratie eintritt, wenn es nichts kostet, handelt wohlfeil. Und auch die Abgeordneten, die transatlantischen Institutionen und Medien können mehr tun. Die Brandmauer, die in Deutschland gegenüber der AfD zumindest links von CDU, CSU und FDP noch besteht, hat auch gegenüber den US-Republikanern ihre Berechtigung. Das ist keine normale Partei mehr und sie sollte daher auch nicht so beschrieben oder behandelt werden. So wie zu Recht von Delegationen in der VR China erwartet wird, die Menschenrechtsfrage anzusprechen, müssen deutsche Abgeordnete bei Kontakten mit US-Republikanern die Demokratiefrage ansprechen.

Die USA, das hat der 8. November geigt, sind alles andere als homogen, weshalb Antiamerikanismus keine sinnvolle politische Ausrichtung für die Linke weltweit sein kann. Internationale Solidarität im Kampf gegen rechts ist die bessere Alternative.