30 Jahre Pogrom in Rostock-Lichtenhagen

30 Jahre Versagen in der Asylpolitik

Demo gegen rassistische Ausschreitungen in Rostock Demo gegen rassistische Ausschreitungen in Rostoc

Die Tagesschau beginnt am 22. August 1992 mit einem Bericht zur SPD. Im Ergebnis von Klausur-Beratungen sei diese nun bereit, Änderungen des Asylrechts sowie UN-Einsätze der Bundeswehr mitzutragen. Die Meldung ist ein wichtiges Signal, gerichtet an die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Seit Langem arbeitet die Bundesregierung, besonders ihre konservativen Vertreter daran, das wiedervereinte Deutschland neu auszurichten. Zu diesen Plänen gehört die harte Begrenzung der durch die Kriege auf dem Balkan steigenden Flüchtlingszahlen. Da dafür das Grundgesetz mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden muss, braucht es auch die Stimmen der SPD.

Viele Rostocker Jugendliche sitzen an diesem Samstagabend nicht vor dem Fernseher. Sie sind auf andere Weise mit dem Thema beschäftigt. Seit Stunden sammeln sie sich vor dem Sonnenblumenhaus im Stadtteil Lichtenhagen. Das „Haus“ ist eigentlich ein DDR-typischer Neubaublock, lang und gerade folgen mehrere Hauseingänge aufeinander, zwischen den Blöcken breiten sich Grünflächen aus. Das eigentliche Ziel im Gebäudekomplex ist die ZAST, die Zentrale Flüchtlingsaufnahmeeinrichtung von Mecklenburg-Vorpommern und ein Wohnheim für Vietnamesinnen und Vietnamesen.

Gegen 20 Uhr beginnen junge Männer damit, Betonplatten aus dem Gehweg zu brechen. Der aufziehende Mob braucht Wurfgeschosse. Bald fliegen die ersten Brocken gegen die Fenster der ZAST. Auch als Brandsätze folgen, schreitet niemand ein. Im Gegenteil. Was in Rostock-Lichtenhagen in den nächsten vier Tagen geschehen wird, sind die größten rassistischen Ausschreitungen der Nachwendejahre.

Allabendlich versammeln sich Gewalttäter, Einpeitscherinnen, Nachbarn und Schaulustige. Bis zu 4.000 Menschen beteiligen sich an der Zerstörung der Ausländerheime. Die großen Freiflächen im Neubaugebiet dienen über mehrere Tage und Nächte als Aufzugsort. Unter dem Gejohle des Stadtviertels wird Wohnung um Wohnung in Brand gesetzt. Die Pogrome vor dem „Sonnenblumenhaus“ entwickelten sich zu einer Art Volksfest im Stadtteil. Polizei und Politik lassen die Dinge laufen. 

Im Rückblick lässt sich kaum entscheiden, welcher Skandal der größere war: Die organisierte Verantwortungslosigkeit der Ausländerbehörden im Umgang mit täglich neu ankommenden Flüchtlingen in Lichtenhagen, die bald vor der ZAST unter offenem Himmel campierten. Die kalkulierte Ahnungslosigkeit, mit der die Verantwortlichen der Sicherheits- und Verwaltungsbehörden in ein Wochenende gehen, ohne sich auf die angekündigten Proteste vorzubereiten. Der folgende Polizeieinsatz, der nur als Kette eines tagelanges Versagens zu beschreiben ist. Die wenigen Kräfte werden zu spät eingesetzt oder zu früh abgezogen. Ein späterer Untersuchungsausschuss kann das Versagen nur bestätigen, das sich vor aller Augen abspielte.

Die Pogrome vor 30 Jahren sind gut dokumentiert. Nicht zuerst durch Tagesschau oder Behörden, sondern weil Vietnamesinnen und Vietnamesen, unterstützt durch Rostocker Antifas, die Angriffe filmten. Bis heute gibt die nach wie vor sehenswerte Dokumentation von 1993

"The Truth lies in Rostock" einen tiefen Einblick in den Abgrund menschlichen Verhaltens.

Rostock zeigte in größerem Maßstab, was vielfach ebenso passierte. Bereits im Jahr zuvor wurden im sächsischen Hoyerswerda Vertragsarbeiterinnen und Geflüchtete vertrieben. Auch hier hatten hunderte Schaulustige die Neonazis unterstützt. Zwei Wochen nach den Ereignissen in Rostock, im September 1992 wird das Flüchtlingsheim in Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) belagert. Fast eine Woche dauert auch dort die Gewalt an. In Quedlinburg findet sich eine Gruppe Aufrechter, die versucht, das Flüchtlingsheim mit einer Mahnwache zu schützen. Unter den Augen der Polizei werden auch sie durch Steinwürfe verletzt, auch der herbeigerufene Krankenwagen wird attackiert. Die Angreifer sind ihre Nachbarn, Mitschülerinnen und Kolleginnen.

Mitglieder der PDS gehören zu den wenigen Widerständigen, die Geflüchtete in Quedlinburg und andernorts schützen und unterstützen. Als die PDS die rassistischen Übergriffe parlamentarisch thematisiert, wird sie verhöhnt und beschuldigt, mit ihrem Widerstand die Übergriffe begünstigt zu haben. Auch in Rostock ist die PDS die einzige Partei im Stadtrat, die ihre Mitglieder zur antifaschistischen Demonstration wenige Tage nach den Augustpogromen aufruft.

Das eigentliche Wunder bleibt, dass es keine Toten in Rostock gibt. Dementsprechend brüstet sich der Innenminister förmlich damit, dass niemand zu Schaden gekommen sei. Nicht einmal Rauch-Vergiftungen hätte es gegeben, erklärt er später im Interview. Dabei ist das Versagen beschämend und die politische Grundierung hinter der Einsatzlogik dieser Jahre der eigentliche Skandal. Die Polizei lässt sich vorführen. Allerdings nur von rechts. Als noch während der Ausschreitungen Rostocker Antifas eine kleine Demonstration in Lichtenhagen versuchen, werden sie binnen Stunden verhaftet. Eine Woche später bietet die Polizei alles auf, was geht, denn diesmal ist eine bundesweit organisierte antirassistische Demonstration angemeldet: Autobahnsperren, Einstellung des Bahnverkehrs, Einkesselung der anreisenden Demonstrantinnen und Demonstranten, Hubschrauber und ein Großaufgebot von tausenden Einsatzkräften.

Ort für Ort ähnelten sich die Abläufe in den 1990er Jahren: Der Mob hatte freie Bahn, solange es gegen Flüchtlingsheime, gegen Ausländer und Migrantinnen geht. Viele Nachbarn applaudierten, die Behörden gaben sich gleichgültig. Die Polizei schaute weg oder griff erst ein, sobald Antifas auftauchten. Mit der Evakuierung der Flüchtlinge führten die Angriffe letztlich immer zum Erfolg, die Lernkurve war fatal. Denn die etablierte Politik erklärte die Asylsuchenden und Unterstützerinnen zum Problem und nicht die Nazis und den im Land explodierenden Rassismus.

Im Dezember 1992 ändern die Abgeordneten von Union, SPD und FDP das Grundgesetz. Mit der Schaffung der Artikels 16a wurde das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft. Der Gewalt tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wenige Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes starben fünf Menschen beim rassistischen Brandanschlag in Solingen.

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Erinnern heißt verändern!

Bundesweite Demonstration am 27. August 2022, 14 Uhr in Rostock-Lichtenhagen

https://gedenken-lichtenhagen.de[1]

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