Friedenspolitik

Das Erfurter Programm ernst nehmen

Auszug der Rede auf dem Landesparteitag der LINKEN Brandenburg

Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler spricht auf dem Landesparteitag der LINKEN Brandenburg

Wir leben ja in sehr bewegten Zeiten. Der Krieg, den es jetzt in Europa gibt, die Aggression Russlands gegen die Ukraine, die hätten sich viele von uns – ich glaube, das teilen wir sogar mit einem Großteil der Gesellschaft - nicht so ohne Weiteres vorstellen können. Auch ich gebe es offen zu: Hätte mir jemand vor einem halben Jahr gesagt, wir werden russische Truppen vor Kiew sehen, wir werden einen heißen Krieg in Europa, in der Ukraine haben, ausgelöst durch Putin, den hätte ich tatsächlich für verrückt erklärt. Das gebe ich hier offen zu. Und ich weiß nicht, wer so schlau und genial ist, das schon vorher gewusst zu haben, also der soll jetzt hier einfach mal aufstehen.

Eine Anekdote nebenbei: Wir haben mittlerweile Schwierigkeiten in Russland unser RLS-Büro zu halten. Hätte sich das jemand vor einem halben Jahr vorstellen können? Wir haben in der Ukraine das RLS-Büro abbauen müssen. Hätte sich das jemand vorstellen können? Also alle, die es schon immer gewusst haben, sollten vielleicht auch mal ein bisschen kurz innehalten, was so alles in letzter Zeit geschehen ist.

Dieser Krieg ist ein Einschnitt 

Ich weiß, dass dieser Krieg für viele von euch einen Einschnitt bedeutet, auch für mich. Und ich weiß, dass er für Verunsicherung sorgt. Abgesehen davon, dass wir ja, zum Beispiel auf den vielen Kundgebungen mitbekommen: Neben der Sorge um den Frieden, den es gibt, gibt es natürlich auch eine Formierung der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird undemokratischer. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro soll jetzt quasi in einem Monat durchgepeitscht werden, ohne jegliche demokratische Debatte. Widerworte sind viel schwieriger zu äußern. Wer nicht dafür ist, muss sich rechtfertigen. Die Gesellschaft wird auch autoritärer: dass wir die Wehrpflicht wieder einführen wollen oder verpflichtende sozialen Dienstjahre sind alles Vorhaben, die faktisch Lohndrückerei bedeuten.

Es ist keine gute Zeit für Linke. Und vor diesem Hintergrund müssen wir die Debatten in unserer Partei und auch unsere aktuelle politische Schwäche verstehen. Aber dennoch müssen wir überlegen, wie wir hier rauskommen. Dazu müssen wir natürlich Fragen stellen. Aber viel wichtiger als die Fragen sind die Antworten, weil wir sind als Partei – im Grundgesetz steht es drin – der Willensbildung des Volkes verpflichtet. Wir sind nicht für die Fragestellungen zuständig – höchstens ein bisschen –, aber vor allen Dingen sind wir dafür zuständig, Vorschläge zu unterbreiten und Antworten zu geben sowie Interessenlagen zu artikulieren.

Fragen stellen - und Antworten geben

Die Menschen wollen wissen, wie soll sich eigentlich die Gesellschaft verändern, wenn es nach uns geht? Natürlich sind wir in einer Situation, in der wir einiges zu klären haben, nicht nur wegen des Ergebnisses der Bundestagswahl. Ich erinnere nur an die Afghanistan-Abstimmung, die ja auch schon für uns zu einem desperaten Ereignis geführt hat.

Jedenfalls gibt es jetzt zwei Punkte, die wir nicht machen sollten: Das eine, was wir nicht machen sollten, ist das große "Ja, aber…": "Ja, das ist alles so gewesen in der Ukraine. Aber, aber, aber die Nato…." Aus dem Rhetorikkurs wissen wir: Wenn wir "Ja, aber…" sagen, bleibt am Ende nur das “Aber…” hängen. Das heißt, das Ja verschwindet in der Wahrnehmung. Deswegen ist es falsch, in Hinblick auf den Krieg gegen die Ukraine zu sagen "ja, aber die Nato". Ebenso falsch ist aber zweitens auch die unwissende Variante: "Oh, wir wissen jetzt ja gar nichts mehr. Wir können überhaupt nichts mehr sagen." Das ist auch falsch.

Sondern wir sollten einen Weg dazwischen finden. Ich schlage vor, dass wir statt "Ja, aber…" das "Ja, und weil…" oder. das “Ja, und deshalb…”  verwenden. Schauen wir dazu ins Erfurter Programm. Was sind die damals dort angelegten friedenspolitischen Grundsätze, die – wie ich finde – unbedingt erhalten werden und auf die heutige Zeit angewendet werden müssen? Und natürlich müssen sie auch geupdatet werden, ohne dass sie preisgegeben werden. Ich will das mal in einer Perspektive von kurz-, mittel- und langfristigen Zielen versuchen zu formulieren.

Dem Völkerrecht verpflichtet

Das Erfurter Programm ist ja 2011 unter dem Eindruck entstanden – und das geht heute ein wenig unter –, dass es völkerrechtswidrige Kriege gab. Redet da heute eigentlich noch jemand darüber? - Aber wir haben das nicht vergessen. Wir erinnern uns noch sehr genau an den Jugoslawien-Krieg vor dreißig Jahren. Wir haben vor zwanzig Jahren den Krieg in Kosovo erlebt. Wir haben vor sieben Jahren die Annexion der Krim erlebt. Da redeten wir auch nicht so gern drüber. Das sollten wir vielleicht mal häufiger tun. Aber das Erfurter Programm hat damals völkerrechtswidrige Kriege, und zwar grundsätzlich und absolut und als Imperativ, abgelehnt. Das heißt, wir sind dem Völkerrecht verpflichtet. Und Völkerrecht heißt, weder die Nato noch Putins Russland darf das Völkerrecht brechen. 

Wir finden den Bruch des Völkerrechts auch nicht mal schlimm, manchmal irgendwie ok und ein anderes Mal mittelblöd. Wir finden das immer unannehmbar und immer nicht akzeptabel, wenn das Völkerrecht gebrochen wird! Und das sehen wir einerseits deshalb so, weil wir es natürlich grundsätzlich richtig finden. Aber es hat auch eine taktische Komponente. Das gebe ich offen zu. Die taktische Komponente hat es auch deshalb, weil wir uns völlig unglaubwürdig machen würden, wenn wir den Bruch des Völkerrechts des einen kritisieren und den des anderen, der im Kern dasselbe tut, nicht.

Unsere Solidarität gilt nicht Staaten, sondern Menschen

Deswegen warne ich davor, den einen Bruch des Völkerrechts einmal wegzuschwurbeln und ihn das andere Mal überscharf zu kritisieren. Für uns gilt: Wir setzen überall die gleichen politischen Maßstäbe an. Und das hat auch einen Grund: Wir sind eine Partei, die ist nicht staatstragend. Wir tragen keine Staaten. Unsere Vorgängerpartei hat mal einen Staat getragen. Aber wir tragen keine Staaten. Unsere Solidarität gilt nicht Staaten. Unsere Solidarität gilt Menschen. Unsere Solidarität gilt denjenigen, die sich gegen den Krieg stellen und dafür verfolgt werden.

In 41 Städten Russlands hat es vor ein paar Wochen – und gibt es auch heute noch – Friedensdemonstrationen gegeben. Diese Demonstrierende – ich will sie einfach mal als Genossinnen und Genossen bezeichnen –, das sind diejenigen, die sich unter Freiheitsgefahr und sogar unter Lebensgefahr gegen den Krieg einsetzen. Sie haben unsere Solidarität verdient. Sie sind diejenigen, auf die wir uns politisch beziehen.

Aber klar ist, Russland verfolgt eine imperiale Politik. Russland verfolgt diese Politik im Übrigen auch nicht erst seit dem letzten halben Jahr. Ich erinnere an Transnistrien, an Tschetschenien, an Georgien und ich erinnere auch an Syrien. Wer hat da von uns groß Federlesen gemacht? Also, ich finde, wennschon, dennschon. Wir sind dem Völkerrecht verpflichtet. Das gilt es Russland genauso zu verurteilen, wie die Invasion in Grenada durch die USA und die Bombardierung Belgrads durch die Nato. Für uns gelten gleiche Maßstäbe. Und unsere Kritik wird genau dadurch glaubwürdiger, dass wir das alles verurteilen.

Truppenabzug, Verhandlungen, Sanktionen gegen Oligarchen 

Der Parteivorstand hat eine kurzfristige Positionierung klargemacht: Die russischen Truppen müssen abgezogen werden. Wir sind für einen sofortigen Waffenstillstand. Wir sind auch als Parteivorstand dagegen, dass wir Waffen exportieren in die Ukraine. Warum? Weil es nichts nützt, weil die Überlegenheit des russischen Militärs so riesig ist, dass ihr über Waffenexporte nicht entgegenzutreten ist. Aber wir sind sehr wohl für Sanktionen, und zwar für Sanktionen, die sich gegen die Personen, die für den Angriffskrieg in Russland verantwortlich sind, richten. Das sind die Oligarchen. Wir sind dafür, dass deren Yachten endlich beschlagnahmt werden.

Yachten beschlagnahmen - natürlich, warum denn nicht? Wir sind dafür, dass z.B. in Berlin, wo die russischen Oligarchen eine nicht ganz unwesentliche Rolle dabei spielen, wenn es um die Entwicklung der Immobilienpreise geht, Wir müssen endlich ein Immobilienregister einführen, damit man sieht: Wem gehören die Immobilien überhaupt? Und: Wessen Grundstücksvermögen kann tatsächlich beschlagnahmt werden? Wir sind doch dafür, Deutsche Wohnen und Co zu enteignen. Wir sind auch dafür, Putins Vermögen zu enteignen. Im Übrigen sind wir auch dafür, dass die Steueroasen, in der russische Oligarchen, den einen oder anderen Cent geparkt haben, endlich trockengelegt werden. Das sind die Maßnahmen, die tatsächlich den Krieg verhindern und beenden können, die Druck machen können. Wir sind demgegenüber aber nicht dafür, dass – wir haben das im Iran erlebt – allgemeine Wirtschaftssanktionen dazu führen, dass dort Kinder nicht mehr mit Corona-Medikamenten behandelt werden können, weil es diese Sanktionen gibt. Das hat keinerlei positive Wirkung. Dass wir allgemeine Wirtschaftssanktionen ablehnen, ist keinerlei Unterstützung für das verbrecherische Ayatollah-Regime. Sondern das hat etwas damit zu tun, dass wir nicht die Bevölkerung treffen wollen, sondern die, die verbrecherische Politik tatsächlich verschuldet haben.

Zurück zur Diplomatie und Abrüstungsverträgen 

Mittelfristig muss es eine Alternative geben: die der Rationalität statt der Irrationalität. Wir haben als Bundesrepublik in den letzten Jahren etliche Abrüstungsverträge gekündigt oder sind ihnen nicht beigetreten. Die UNO-Vollversammlung – ich nehme nur mal ein Beispiel – hat für einen Atomwaffenverbotsvertrag gestimmt. Viele Staaten haben diesen Vertrag unterzeichnet. Ich frage: Was hindert eigentlich die Bundesregierung, den Bundestag, die Bundesrepublik daran, diesem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten? Das kostet keinen müden Cent! Und warum sollen wir etwa den Vertrag zur Ächtung von Mittelstreckenraketen nicht einfach wiederaufnehmen? Das sind ganz praktische Schritte, die wir als rationale politische Kraft dem Irrsinn, der derzeit ja auch in der etablierten Politik herrscht, entgegenstellen können. Die geplante Aufrüstung – auch das gehört zur Rationalität dazu – hilft den Menschen in der Ukraine gar nicht, sondern es knallen doch nur bei den Rüstungskonzernen die Sektkorken. Die Rüstungskonzerne haben gesagt, 47 Milliarden Euro können sie sofort als Auftrag umsetzen. Aber die 100 Milliarden kriegen sie noch nicht einmal kurzfristig hin. Ich habe allerdings leider keinen Zweifel daran, dass sie das am Ende doch schaffen werden. 

Noch ein Argument der Rationalität: Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen führen doch nicht dazu, dass die Nato mehr abschreckt. Die Nato hat derzeit 1,2 Billionen und Russland hat 62 Milliarden US-Dollar Militäretat. Glaubt ihr denn wirklich, dass statt 1,2 Billionen Euro 1,5 Billionen, also das 2-Prozent-Ziel plus die 100 Milliarden, – also statt des 17-fachen nun den 17,05-fachen – irgendetwas an der Sache ändert?

Nichts ändert das. Es wird nur ein großer Haufen Geld verbrannt! Und deswegen sind wir dagegen. Nicht, weil wir Putin-Versteher sind, gar nicht – ich habe es, glaube ich, deutlich gemacht –, sondern deshalb, weil wir das für absoluten Blödsinn, für unvernünftig, für irrational halten. Unsere Alternative ist eine Bundeswehr, die sich darauf besinnt, wozu sie in der Verfassung vorgesehen ist.

Es macht ja immer mal Sinn, in das Grundgesetz hineinzuschauen. Das gilt im Übrigen auch für unser Erfurter Parteiprogramm. Im Grundgesetz ist die Aufgabe der Bundeswehr klar beschrieben, nämlich die Landesverteidigung. Es heißt da: “Der Bund stellt Streitkräfte zur Landesverteidigung auf.” Mehr steht da nicht. Der Militäretat – der sich im Übrigen seit 2014 um 50 Prozent erhöht hat – würde völlig ausreichen, die Landesverteidigung sicherzustellen. Wir wünschen uns alle eine Welt ohne Armee. In der aktuellen Situation sollten wir uns natürlich nicht auf den Marktplatz stellen und sagen: Schafft jetzt unsere Armee sofort ab. Das würde kein Mensch verstehen. Aber zu sagen, dass wir uns auf die Landesverteidigung beschränken, das ist ein völlig vernünftiger, ein rationaler Grund, der auch argumentierfähig ist und den – so finde ich – sollten wir auch zusammen so vertreten.

Unsere Perspektive: eine Friedensordnung 

Dann brauchen wir eine langfristige Perspektive dafür, wie unsere Außenpolitik für eine friedliche zukünftige Welt aussehen soll. Wir benötigen also ein linkes Leitbild weltweiter Friedensordnung. Im Erfurter Programm sind viele friedenspolitische Annahmen enthalten, die heute umstandslos gelten. Teilweise haben wir allerdings einiges etwas verzerrt kommuniziert, etwa, wenn es um die Bewertung nicht nur imperialer Politik der Nato ging, sondern auch etwa Russlands ging. Das hat unserer Glaubwürdigkeit nicht gutgetan. – Jedenfalls: Im Erfurter Programm steht z.B. der Abschnitt „Wie schaffen wir Frieden?“. Dort haben wir im Erfurter Programm beschrieben, dass der US-Interventionismus abzulehnen ist. Wir wollen die Rückführung der Bundeswehr aus den Auslandseinsätzen. Das war damals, als wir das Erfurter Programm geschrieben haben, auch sinnvoll und es war das aktuelle Thema. Was wir aber heute updaten müssen, ist: Wie soll denn eigentlich „Wie schaffen wir Frieden?“ nach dem Abzug der US-Truppen, etwa aus Afghanistan oder dem bevorstehenden Abzug der Franzosen aus Mali, aussehen? Wie wollen wir heute Frieden schaffen? Ich schlage vor, dass wir darüber ins Gespräch kommen. Darüber werden wir auch auf dem Bundesparteitag sprechen, weil das eine zukünftige Perspektive ist, die wir geben können - und müssen. Es hatte ja lange den Anschein, dass die Blockkonfrontation eine unilaterale Welt mit der einzig verbliebenen Weltmacht USA wird schaffen können. Aber die völkerrechtswidrigen Kriege der Nato – ich erwähnte das – haben dazu geführt, dass sie immer brüchiger geworden ist. Im Übrigen hat sich Russland schon bei der Annexion der Krim auch nicht mehr daran gehalten. Wenn wir jetzt also sehen, es gibt imperiale Politiken sowohl der USA als auch von Russland, als auch von China, dann müssen wir natürlich überlegen: Was können wir als LINKE dem entgegensetzen? Was ist denn eigentlich unsere Perspektive einer solchen neuen Friedensordnung? 

Ich glaube, dass eine solche neue Friedensordnung perspektivisch nur eine Friedensordnung sein kann, die das Völkerrecht über alle Instanzen und Organisationen in den Mittelpunkt unseres Handelns stellt. Das muss meines Erachtens die langfristige Perspektive dafür sein, wie wir in Zukunft Frieden schaffen. Und dabei verhehle ich nicht, dass der Angriff Putins auf die Ukraine das Ganze sehr weit nach hinten gerückt hat. Denn Putin hat tatsächlich gerade die Antwort gegeben, ob er aktuell Interesse hat, eine solche gemeinsame Friedensordnung zu schaffen. Er hat dies mit Nein beantwortet. Aber Putin ist nicht Russland. Und ich habe ja gerade davon gesprochen, dass wir uns auch eine Welt, auch ein Russland, ohne Putin, vorstellen können und wollen, eines das friedlich ist, eines das mit anderen Staaten in Diplomatie und Verhandlungen tritt. Dieses zu befördern bleibt und muss unsere Aufgabe sein, so schwierig das ist.

Militär schafft keinen Frieden, zivile Institutionen schon 

Ich hatte ja bereits davon gesprochen. Die außenpolitischen Grundsätze der LINKEN sind Frieden durch kollektive und gegenseitige Sicherheit, Verbindlichkeit des Völkerrechts, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Zu Frieden gehört auch – und weil wir ja so viel über Militär gesprochen haben –, dass wir die Überwindung von Armut und Umweltzerstörung in den Mittelpunkt rücken.

Hier stelle ich die Frage – wenn wir schon mal dabei sind –, was wir denn eigentlich zur Stärkung der UNO so getan haben? Wir meinen hier: die Bundesrepublik, der Westen. Die UNO ist dramatisch unterfinanziert, und wir müssen sie stärken. Die UNO ist dramatisch undemokratisch, und wir müssen sie demokratisieren. Die sozialpolitischen Kompetenzen der UNO müssen gestärkt werden. Nur die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker wissen, was die ILO ist – die internationale Arbeitsorganisation. Frieden heißt auch, dass verbindliche Regeln gelten müssen, wie die Arbeitsbedingungen sind, über die Staatengrenzen hinweg. Oder: Die WTO zu stärken, die Welthandelsorganisation, um wirtschaftliche Streitigkeiten friedlich zu klären. Oder: Das UNO-Hilfswerk, UNHCR, ist dramatisch unterfinanziert: Nur wenige Euro pro Tag standen für die syrischen Geflüchteten zur Verfügung. Das war doch eine Bankrotterklärung des Westens.

Unsere neue Friedensordnung  muss also diese Institutionen stärken. Unsere neue Friedensordnung heißt auch, dass wir Welternährungsprogramme auflegen. Dafür könnten wir die 100 Milliarden im Übrigen locker und lässig verwenden. Es geht auch um zivile Konfliktbearbeitung. Auch da empfehle ich noch mal den Blick ins Erfurter Programm. Ein seit Kurzem ehemaliger Genosse hat bei der Beratung zum Erfurter Programm einen Punkt eingebracht, in dem er sich positiv auf ein Willy-Brandt-Korps bezieht. Das Willy-Brandt-Korps – ihr erinnert euch – steht im Erfurter Programm als Alternative zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das Willy-Brandt-Korps hat aber den großen Unterschied, dass es nicht dem Verteidigungsministerium unterstehen würde, sondern beispielsweise dem Entwicklungsministerium oder einer anderen zivilen Instanz. Wir sind dafür, solche Einsätze durchzuführen. Wir sind dafür, dass wir durch zivile Einsatzformen in anderen Ländern den Menschen dort helfen, sie unterstützen, sie etwa auch aus dem belagerten Mariupol rausbringen, sie auch in anderen Situationen unterstützen. Da sind für dafür. Warum redet in der Partei eigentlich niemand darüber, über diese Konkretisierung? Ich finde: Wenn wir das Erfurter Programm ernstnehmen, dann sollten wir auch über solche Möglichkeiten sprechen.

Unsere Funktion wahrnehmen: Stimme der Vernunft und soziale Opposition

Ich hatte gesagt, ich will über Frieden sprechen. Jetzt ist es länger geworden. Aber eins ist hoffentlich klar geworden: Wir haben in der Gesellschaft eine Funktion. Das ist die Funktion der Rationalität. Das ist die Funktion der Stimme der Vernunft gegen das Meer der Unvernunft, das es derzeit häufig gibt. Wir haben aber auch eine praktische Funktion: Ich bitte euch, an den Ostermärschen teilzunehmen. Ich bitte euch, gegen das Vorhaben eines “Sondervermögen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr” zu unterschreiben. Unter www.derappell.de werden wir das weiter promoten. Wir werden im Übrigen natürlich auch die soziale Opposition in der Bundesrepublik sein. Das müssen wir, denn: Stellt euch mal vor, es gibt in der Bundesrepublik linkeste Partei die Grünen oder die Sozialdemokratie. Das geht überhaupt nicht! Es ist unsere verdammte Aufgabe, jetzt die Arschbacken zusammenzureißen: Wir sind die soziale Opposition und alles andere ist zweitrangig. Nicht: Wer hier wen am besten oder gar nicht mag, das ist zweitrangig. Das interessiert draußen auch niemanden. Sondern wichtig ist, dass wir die politische Funktion haben, nach draußen zu bringen, wo die Ampel gerade Scheiße baut. Wichtig ist, nach draußen zu bringen, wie es bessergehen kann und muss. Wichtig ist, nach draußen zu bringen, was wir eigentlich machen wollen - wie unsere alternative Gesellschaft aussieht: Eine Gesellschaft mit einem Vorrang des Öffentlichen, mit einer guten Daseinsvorsorge. Das ist unsere Aufgabe. Nicht die Frage, wer gerade wen irgendwie besonders uncool gefunden hat. In diesem Sinne wünsche ich euch auch für diesen Parteitag ein gutes Gelingen, indem niemand den anderen uncool findet, sondern sich alle sehr solidarisch miteinander verhalten und wir danach herausgehen und sagen: Wir sind die solidarische, wir sind die soziale Opposition.

Redaktionell bearbeiteter Auszug der Rede des Bundesgeschäftsführers Jörg Schindler, am 02.04.2022 auf dem Landesparteitag Brandenburg der Partei DIE LINKE