Warum Pazifismus die einzige Realpolitik ist

1. Militärische Auseinandersetzungen sind zerstörerisch

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der russischen Führung gegen die Ukraine belegt eindrücklich die zerstörerischen Folgen moderner Kriegsführung. Einige Städte wie Mariupol oder Tschernihiw sind weitgehend ausradiert, andere Städte und Dörfer schwer beschädigt. Die Infrastruktur in den Konfliktzonen funktioniert kaum noch. Das ganze Ausmaß der Schäden wird erst nach Ende der militärischen Auseinandersetzungen deutlich werden. Ähnlich wie nach dem zweiten Weltkrieg wird es Jahrzehnte dauern, bis die Kriegsfolgen beseitigt sind.

Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es sich keineswegs um ein singuläres Ereignis handelt. In verschiedenen Teilen Jugoslawiens sind einige Städte in den militärischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre schwer beschädigt worden. In Grosny und in Syrien hat die russische Armee bereits früher katastrophale Zerstörungen verursacht, die aber im Westen nie zu einer Diskussion über ein Eingreifen geführt haben. Gleiches gilt für den Jemen, wo die nicht zuletzt von Deutschland aufgerüstete saudische Armee Teile des Landes verwüstet hat. Die Rede von der Zeitenwende belegt in erster Linie eine eurozentrische Blickverengung.

Es bedarf keiner näheren Ausführungen, dass der Einsatz von Atomwaffen zu noch viel größeren und langwierigeren Schäden führen würde. Auf der anderen Seite ist aber seit 1945 noch nie ein Staat angegriffen worden, der selbst Atomwaffen besitzt oder mit einem Atomwaffenstaat verbündet ist. Genau deshalb wollte die Ukraine Mitglied der NATO werden. Insofern kann man feststellen, dass die atomare Abschreckung funktioniert, ohne dass diese damit gebilligt wird. Schon deshalb ist die Behauptung falsch, eine starke konventionelle Aufrüstung sei zum Schutz gegen Russland notwendig.

2. Die Verdrängung der Klimakatastrophe

Es ist eine Binsenweisheit, dass jeder Euro, der für Waffen ausgegeben wird, für andere Maßnahmen nicht zur Verfügung steht, auch wenn die Aufrüstung jetzt zum Teil über eine zusätzliche Verschuldung finanziert werden soll. Gleichzeitig wird die Bedrohung durch die Klimakatastrophe immer offensichtlicher. Einige Teile der Welt erleben schlimme Dürreperioden, im letzten Jahr etwa Madagaskar und der Irak, aktuell Somalia. Auch in Mitteleuropa nimmt die Dürregefahr zu. Gleichzeitig führen Überschwemmungskatastrophen wie in der Eifel oder jüngst in Ostaustralien zu milliardenschweren Schäden. Der Anstieg des Meeresspiegels macht enorme Investitionen in den Schutz der Küsten notwendig. Dies stellt Staaten wie Bangladesch vor kaum zu bewältigende Herausforderungen. Angesichts des Umfangs der negativen Folgen der Erderwärmung ist es nicht angemessen, von „Klimawandel“ oder „Klimakrise“ zu sprechen.

Statt aber die aktuellen Energiepreissteigerungen zum Anlass zu nehmen, die notwendigen Einspar- bzw. Umsteuerungsmaßnahmen, z.B. im Auto- und Flugverkehr, bei der Gebäudeheizung und in der Industrie offensiv anzugehen, wiegelt die Bundesregierung ab und erweckt den Eindruck, es handele sich um ein vorübergehendes Problem, das man mit ein paar Ausgleichsmaßnahmen abfedern und ansonsten durch technische Innovationen lösen könne. Alle wissenschaftlichen Expertisen machen aber deutlich, dass ein rasches ökologisches Umsteuern ohne eine dauerhafte Verteuerung der fossilen Energie nicht möglich ist. Linke Politik muss sich deshalb auf den sozialen Ausgleich für diejenigen konzentrieren, die keinen finanziellen Spielraum für kurzfristige Reaktionen haben, statt Steuergeschenke für alle zu fordern, die sich zudem negativ auf die Einnahmenseite des Staates auswirken. Schon für die sozialpolitischen Maßnahmen werden große Summen erforderlich sein. Viel Geld wird aber auch für die Investitionen in erneuerbare Energien, den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel oder die Ökologisierung der Landwirtschaft gebraucht. Letztlich helfen hier nur Steuererhöhungen für die Reichen.

Vor allem wird aber ausgeblendet, dass die Klimakatastrophe internationale Konflikte weiter schüren wird. Die Corona-Pandemie wie auch der Ukraine-Krieg haben bereits deutlich gemacht, wie abhängig Deutschland von Rohstoffen sowie von Vorprodukten bzw. Produkten aus anderen Ländern ist. Diese Lieferketten werden nicht nur durch den Krieg, sondern auch durch die rapide Verteuerung des Transports, die aus umweltpolitischen Gründen zu begrüßen ist, in Frage gestellt. Gleichzeitig werden verschiedene Rohstoffe, nicht nur Gas, sondern z.B. auch Lithium oder sogar Sand, der für Bauzwecke genutzt werden kann, knapper. Wenn zudem durch Kriege, Dürren und Flutkatastrophen immer mehr Gebiete betroffen werden, wird auch die internationale Verteilung von Lebensmitteln immer wichtiger, aber auch streitträchtiger. Deshalb spricht sehr viel dafür, dass es in den kommenden Jahren zu sich verschärfenden internationalen Verteilungskonflikten kommen wird.

Wenn aber die Analyse richtig ist, dass der Einsatz militärischer Macht gegen die europäischen NATO-Mitglieder wegen der atomaren Eskalationsgefahr nicht realistisch ist, stellt sich die Frage, wozu die massive konventionelle Aufrüstung denn dienen könnte. Naheliegend ist die vereinzelt auch ausdrücklich bestätigte Absicht, die Bundeswehr vermehrt zu Auslandseinsätzen heranzuziehen. Diese finden alle in nicht mit Atommächten verbündeten Ländern statt, denen aber eine geostrategische Bedeutung zukommt, wie z.B. in der Sahelzone oder am Horn von Afrika. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass in Zukunft neben der Sicherung von Handelswegen die Gewährleistung der Versorgung mit wichtigen Rohstoffen eine zentrale Bedeutung für die Rechtfertigung von Militäreinsätzen haben wird.

3. Friedliche Streitschlichtungsmechanismen müssen ausgebaut werden

Die Ablehnung der NATO und von Bundeswehreinsätzen im Ausland ist noch keine Friedenspolitik. Notwendig ist vielmehr der Ausbau von Mechanismen, mit denen internationale Konflikte ohne den Einsatz von Gewalt geschlichtet werden können. Innerstaatlich ist es selbstverständlich, dass Streitigkeiten, die nicht einvernehmlich gelöst werden können, von einem neutralen Dritten entschieden werden, der Gerichtsbarkeit. Diese legt hierfür in Demokratien die Regeln zugrunde, die das Volk bzw. seine Vertretung beschlossen hat (auch wenn es in der Realität natürlich zu Verzerrungen durch ökonomische Interessen kommt).

Diese zivilisierte Alternative zur Gewaltanwendung muss auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen werden. Es ist dringend notwendig, internationale Institutionen zu schaffen, die völkerrechtliche Regeln auch gegen mächtige Staaten durchsetzen können. Auf globaler Ebene ist dies die Aufgabe des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Nicht nur Russland, sondern auch die USA und viele andere Staaten erkennen dessen Zuständigkeit jedoch nicht an. Auch Deutschland weigert sich, eine entsprechende Unterwerfungserklärung abzugeben und ist damit daran beteiligt, seine Autorität in Frage zu stellen. So hat auch kein internationales Gericht je darüber entschieden, ob der NATO-Angriff auf Serbien im Jahr 1999 gerechtfertigt war.

Auf der globalen Ebene muss eine völlig neue institutionelle Struktur entstehen, um die Probleme der Klimakatastrophe, der Friedenssicherung und Abrüstung sowie der Armutsbekämpfung erfolgreich angehen zu können. Nach wie vor ist der UN-Sicherheitsrat durch das Vetorecht der fünf alten Atommächte weitgehend gelähmt. Internationale Konferenzen brauchen viel zu lange, um Regelungen für dringende Probleme zu treffen, weil sie auf dem Einstimmigkeitsprinzip beruhen. Es gibt schon seit langem Konzepte für die Schaffung eines globalen Parlaments, das demokratische Prinzipien internationalisieren könnte, ohne zu einem Superstaat zu führen.[1] Kombiniert mit einer obligatorischen Gerichtsbarkeit könnte dadurch die Legitimität einer globalen Institution so gestärkt werden, dass sie auch mächtige Staaten in Schach halten könnte.

Nur innerhalb der Europäischen Union gibt es mit dem Europäischen Gerichtshof eine unabhängige Gerichtsbarkeit, die über den Mitgliedstaaten steht und über die Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Regeln wacht. Am zähen Kampf, die er gegen die schleichende Putinisierung Polens und Ungarns führt, kann man erkennen, wie wichtig eine solche Institution ist. Leider fehlt eine entsprechende gesamteuropäische Gerichtsbarkeit. Gegenüber der Aushöhlung der Autorität des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch Russland, aber auch durch die Türkei und rechtsnationalistische Kräfte in vielen anderen Staaten, ist leider zu wenig unternommen wurden, so dass der Austritt Russlands aus dem Europarat konsequent ist.

Die einzige realistische Option für eine Friedensordnung in Europa ist eine Stärkung der OSZE, die ausdrücklich als gesamteuropäische Institution jenseits der Militärbündnisse gegründet wurde und sowohl die NATO-Mitgliedstaaten wie auch Russland und alle neutralen Staaten umfasst. Sie muss so gestärkt werden, dass sie Konflikte frühzeitig erkennen und schlichten kann, bevor sie militärisch eskalieren. In diesem Rahmen müsste auch versucht werden, die ungeklärten Verhältnisse in den verschiedenen postsowjetischen Konfliktregionen wie Moldawien, Ukraine, Georgien und Bergkarabach einer dauerhaften Lösung zuzuführen. Mittelfristig könnte eine reformierte OSZE die NATO überflüssig machen und damit eine weitreichende Abrüstung in Europa ermöglichen. Wenn sich in den USA erneut rechtsautoritäre Kräfte durchsetzen, sollte sich ohnehin niemand auf deren Unterstützung verlassen, denn auch die Beistandsverpflichtung kann man nirgendwo einklagen.

4. Der eigentliche Sieg Putins ist die Militarisierung

Die Behauptung von Teilen der Medien und der Politik, Deutschland habe in den vergangenen Jahrzehnten eine pazifistische Politik verfolgt, ist offensichtlich unwahr. Seit der Wiederbewaffnung im Westen wie im Osten ist das Militär wieder Teil der deutschen Gesellschaft(en). Die Zurückhaltung bei Militäreinsätzen im Ausland ist 1998/99 von der rot-grünen Mehrheit aufgeben worden, als der Angriff auf Serbien mit nie bewiesenen Völkermordvorwürfen gerechtfertigt wurde (übrigens eine bemerkenswerte Parallele zur aktuellen Argumentation Russlands). Jedenfalls ist Milošević zwar wegen Völkermords in Srebrenica, nicht aber im Kosovo angeklagt worden. In seiner einstweiligen Anordnung vom 16. März 2022 hat der IGH sogar ausdrücklich Zweifel geäußert, dass die Verhinderung von Völkermord einseitige militärische Maßnahmen eines anderen Staates rechtfertigen kann.[2] Verschwiegen wird dagegen gerne, dass damals mit der UÇK eine Truppe unterstützt wurde, deren Anführer Thaçi heute selbst wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist. Dies zeigt einmal mehr, dass es keinen „sauberen“ Krieg gibt.

Richtig ist aber, dass die öffentliche Meinung in Deutschland bis zum Beginn des Angriffs auf die Ukraine weit über die Linke hinaus skeptisch gegenüber bewaffneten internationalen Bundeswehreinsätzen war. Zur Stärkung ihrer Legitimation hat das Bundesverfassungsgericht den Parlamentsvorbehalt erfunden. Die Rechtfertigung erfolgte fast immer über den Schutz der Menschenrechte. Nach dem Angriff der russischen Armee ändert sich die Argumentation mit einer eigenartigen Mischung aus (berechtigter) Empörung über die Zerstörungen in der Ukraine und einem neuen „Realismus“, der Selbstverteidigung als zentrales Element der internationalen Ordnung ansieht. Immerhin gibt es aber noch erkennbaren Widerstand gegen neue Heldennarrative.

Mit der aktuellen Medienoffensive für eine angeblich realistische Außenpolitik wird aber die Politik von Autokraten wie Putin bestätigt, wonach die eigenen Ziele letztlich nur mit Gewalt durchgesetzt werden können. Alle Bemühungen zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen werden als naiv abgestempelt. Dabei zeigt die sehr große Mehrheit in der UN-Generalversammlung zur Verurteilung Russlands, dass die Delegitimation militärischer Gewalt eine breite globale Basis hat. Auch die massiven Bemühungen der Führung, der russischen Bevölkerung die Wahrheit über den Krieg vorzuenthalten, belegen die Schwierigkeit seiner Rechtfertigung. Das ist eine Basis, auf der aufgebaut werden kann. Wir brauchen alle Ressourcen für den Kampf gegen die Armut und gegen die Klimakatastrophe. Gegen die aktuelle Stimmungsmache helfen nur eine überzeugende Analyse von Interessen und Ideologien und das Aufzeigen praktischer Alternativen.

[1]             Groß, Postnationale Demokratie – Gibt es ein Menschenrecht auf transnationale Selbstbestimmung?, Rechtswissenschaft 2011, S. 125-153; Leinen/Bummel, Das demokratische Weltparlament – Eine kosmopolitische Vision, 2. Aufl. 2017.

[2]             IGH, Anordnung vom 16.3.2022, Rn. 59: “Moreover, it is doubtful that the Convention, in light of its object and purpose, authorizes a Contracting Party’s unilateral use of force in the territory of another State for the purpose of preventing or punishing an alleged genocide.”