Frieden in der Ukraine, Europa und der Welt

Die Invasion Russlands in die Ukraine hat auch bei Mitgliedern der LINKEN eine schockartige Wirkung gehabt sowie eine große Verunsicherung hervorgerufen. Es ist nun an der Zeit, die veränderte Situation nüchtern zu prüfen, um die richtigen Schlussfolgerungen für ein wirksames politischen Handeln ziehen zu können.Das heißt selbstverständlich nicht, dem Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung und der unzähligen Flüchtlinge gleichgültig gegenüberzustehen. Hier muss unverzüglich und umfassend geholfen werden. Gleichzeitig sollten wir uns die Frage stellen, welche Art von Hilfe sinnvoll und tragfähig ist.

Weiterhin muss auch die Diskussion um die richtige Positionierung der Partei in diesem Konflikt weitergeführt werden. Dabei sollten wir uns vor kurzschlüssigen Folgerungen und einer Engführung der Diskussion hüten. Beispielsweise stehe ich Formulierungen von einer Zeitenwende oder dass nunmehr alle bisherigen programmatischen Positionen in Frage gestellt werden müssten und alles neu gedacht werden müsste skeptisch gegenüber. Nein, der Überfall auf die Ukraine hat eine Vorgeschichte, die mitgedacht werden muss, um die dramatischen Ereignisse richtig zu verstehen. Ohne das Vorher zu verstehen, wird man auch keine Klarheit über ein mögliches Danach erreichen können.

Der Konflikt in und um die Ukraine hat eine etwa 30jährige Vorgeschichte. Sie beginnt mit dem Zerfall der Sowjetunion und der damit verbundenen Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation. Anfang der neunziger Jahre ergab sich daraus die reale Chance zur Schaffung einer grundlegend neuen Friedensarchitektur in Europa unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten unter Einbeziehung der USA und Kanadas. Diese Chance wurde nicht genutzt. Notwendig gewesen wäre eine gleichzeitige Auflösung der NATO, die nach eigener Darstellung ja die Aufgabe hatte, den Westen vor einer Bedrohung durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu schützen. Dies erfolgte, wie bekannt, nicht. Im Gegenteil, die USA beschlossen trotz gegenteiliger Versicherungen mit der NATO und ihrer militärischen Ausrüstung bis an die Grenzen Russlands vorzudringen. Die schrittweise Ausdehnung der NATO ist bekannt. Es muss dabei mitgedacht werden, dass das Vorrücken der NATO vor dem Hintergrund schlimmer historischer Erfahrungen größte Besorgnisse bei der russischen Führung auslöste. Sie sah die Sicherheitsinteressen Russlands zunehmend in Frage gestellt. Nun mag man einwenden, die Ukraine sei doch gar nicht Mitglied der NATO und werde dies wohl auch nicht so schnell werden. Das ist richtig. Aber die USA war schon da, auch ohne die NATO. Aus der Sicht Russlands wird der Unterschied zwischen USA und NATO wohl ohnehin als nicht sehr erheblich wahrgenommen. Jedenfalls hatten die geopolitischen Strategen der USA sehr zeitig erkannt, dass der Ukraine eine zentrale Stellung in Europa zukommt und man den Russen hier sehr große Probleme bereiten kann.

Es sei noch einmal gesagt, alles, was ich eben angeführt habe, ändert nichts daran, dass der russische Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig und uneingeschränkt zu verurteilen ist. Es scheint mir weiterhin notwendig zu sein, den Konflikt in der Ukraine, auch angesichts historischer Erfahrungen, unter globalen geostrategischen Gesichtspunkten zu betrachten. Man steht plötzlich fassungslos vor einer politischen Konstellation, die man glaubte, seit Jahrzehnten überwunden zu haben, den Krieg der Imperien um politisch-militärische Vorherrschaft, um Einflusszonen, Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg, zumindest aus Sicht der Ukraine. Sie tritt stellvertretend für die amerikanische Supermacht in den Kampf, während das kleinere russische Imperium seine Ansprüche durch eigenen Einsatz durchzusetzen sucht.

Am stärksten betroffen und in seiner Existenz gefährdet ist jedoch das ukrainische Volk. Aus Sicht der Großmächte sind das jedoch Kollateralschäden. Irgendwie glaubt man sich in die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des I. Weltkrieges versetzt, als sich imperialistische Großmächte bzw. imperialistische Machtblöcke im Kampf um die Neuaufteilung der Welt gegenüberstanden. Nun wiederholt sich Geschichte ja bekanntlich nicht, aber besorgniserregende Analogien lassen sich dennoch ziehen. Auch in der Gegenwart formieren sich Großmächte im Kampf um den größeren Anteil am zu verteilenden Kuchen. Ursache ist eine Gesetzmäßigkeit, die seit Hilferding und Lenin bekannt ist, nämlich, dass sich Staaten auf der Grundlage kapitalistischer Produktionsverhältnisse ungleichmäßig entwickeln, was dann zwangsläufig zu veränderten Kräfteverhältnissen führen muss, wodurch immer wieder Konflikte um die Neuaufteilung der Ressourcen der Welt ausbrechen.

Ich erinnere mich noch an Diskussionen auch unter Gesellschaftswissenschaftlern der DDR in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts über die prinzipielle Friedensfähigkeit des Kapitalismus. Das muss man wohl heute klar als Illusion benennen. Eine Gesellschaft, die auf Kapitalakkumulation und Jagd nach Maximalprofit beruht, ist in ihren Wurzeln nicht friedensfähig und immer auf Expansion bedacht. Sicher ist unter bestimmten Bedingungen, etwa unter zeitweilig ausbalancierten Machtverhältnissen, auch eine länger währende Waffenruhe möglich, aber ein Status quo auf Dauer eben nicht.

Der kurze obige Ausflug in die Geschichte sollte deutlich machen, dass eine linksorientierte Partei darauf angewiesen ist, sich eine eigene Position zu erarbeiten. Eine Parteinahme für eines der Imperien verbietet sich. Das bedeutet nicht, dass man im Konfliktfall gar nichts tun sollte. Priorität sollte natürlich haben, Konflikte im Vorfeld unter Kontrolle zu halten und Zuspitzungen zu vermeiden. Das ist in diesem Fall nicht gelungen. Was wäre jetzt zu tun?

  1. Die Linke sollte nach Kräften auf eine Konfliktlösung mit diplomatischen Mitteln drängen, die die Sicherheitsbedürfnisse aller involvierten Seiten berücksichtigt. Lösungen auf Kosten einer Seite bergen den Keim für neue Auseinandersetzungen in sich.
  2. Der betroffenen Bevölkerung ist jede mögliche Hilfe mit zivilen Mitteln zu geben. Waffenlieferungen sind dabei keine Option, denn sie führen unvermeidlich zu einer Verlängerung der Kriegshandlungen, was die Leiden der Menschen vermehrt und die Opfer der Kämpfe vervielfacht.
  3. Eine ständige Verschärfung der Sanktionen sollte nicht unterstützt werden. Neben einiger Unannehmlichkeiten für Teile der Eliten treffen sie in aller Regel die ärmeren Teile der Bevölkerung am härtesten. Am Wettlauf um eine „Ruinierung“ Russlands dürfen wir uns keinesfalls beteiligen.
  4. Unsere Unterstützung sollte allen Kräften dienen, die sich für eine schnellstmögliche Beendigung des Krieges einsetzen. Das schließt auch Friedenskräfte in Russland, insbesondere in der Zivilgesellschaft, ein. Der Abbruch sämtlicher Beziehungen zu bisherigen Partnern in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, seien es kulturelle, sportliche, wissenschaftliche Organisationen oder auch Städtepartnerschaften, ist der Stärkung der Friedenskräfte in Russland keinesfalls dienlich.
  5. Der Ukrainekrieg dient als willkommener Vorwand für die Realisierung der Aufrüstungspläne der Bundesrepublik und der NATO. Die Umsetzung dieser Pläne würde die ohnehin vorhandene Kriegsgefahr weiter erhöhen und die Welt dem Risiko eines atomaren Infernos unvermeidlich näherbringen. Gewissermaßen als Nebeneffekt würde die Superrüstung der Menschheit wesentliche Ressourcen entziehen, die zur Begrenzung des Klimawandels dringend gebraucht werden. Von der Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1.5°C könnten wir uns wohl endgültig verabschieden. Folglich müssen alle Linken, alle Kräfte der Friedens- und der Umweltbewegung ihre ganze Kraft darauf richten, diese wahnsinnigen Rüstungspläne zu stoppen.
  6. Linke Kräfte sollten auch der Frage nicht ausweichen, wie nach Beendigung des Krieges Beziehungen zu Russland auf einer neuen Grundlage aufgebaut werden können, die der Friedenssicherung und Völkerverständigung auf Dauer dienen.

Nach der russischen Invasion und den überzogenen Sanktionen, die auf längere Sicht nicht nur der russischen Bevölkerung Schaden zufügen und die auch als Bumerang auf uns zurückwirken werden, stehen wir vor einem Scherbenhaufen in den Beziehungen zwischen Deutschland bzw. der EU auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Beide Seiten verlieren dabei, wieviel ist noch nicht absehbar. Gibt es dabei überhaupt einen Gewinner? Ja, das sind die Aktionäre der Rüstungsindustrien aller Länder, das sind Wirtschafts- und Finanzeliten, die sich davon steigende Börsenkurse und eine weitere Maximierung ihrer Profite versprechen.

Hier ist die Linke in der Pflicht, sich nicht von emotionalisierten Diskursen, vom Gerede über eine westliche Wertegemeinschaft ablenken zu lassen und die Interessenlage klar zu benennen. Wir leben nicht in einer seligmachenden westlichen Wertegemeinschaft, sondern nach wie vor in einer Klassengesellschaft, in der die Zeit herangereift ist, die sich zuspitzenden Klassenwidersprüche auf nationaler wie internationaler Ebene so zu lösen, dass die Existenz der Menschheit auf lange Sicht gewährleistet ist.