Das bin ich den Armen und Ausgegrenzten schuldig

Ein Interview mit Gerhard Trabert, Kandidat der LINKEN für das Amt des Bundespräsidenten.

Auch wer nicht in Mainz und Umgebung lebt, hat Gerhard Trabert vielleicht schon mal gesehen: Der Arzt, Sozialarbeiter und Hochschulprofessor Gerhard Trabert hilft seit fast drei Jahrzehnten wo und wie er nur kann. Er betreibt mit seinem Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ nicht nur sein legendäres Arztmobil und die „Ambulanz ohne Grenzen“ für Obdachlose und Patient*innen ohne Versicherungsschutz in Mainz, sondern hilft auch Straßenkindern, Geflüchteten und Betroffenen von Naturkatastrophen in aller Welt. Und selbstverständlich war er auch vor Ort, nachdem sich eine dramatische Flutkatastrophe in seiner Nachbarschaft ereignete und hat frühzeitig in den Nachrichten die dramatischen psychischen Folgen der Flut für die betroffenen Menschen im Ahrtal geschildert. Das war lange vor seiner Kandidatur als Bundespräsident für DIE LINKE.

Grund genug nachzufragen, was ihn bewegt, als Arzt Symptome zu kurieren, politisch aber nicht bei den Symptomen stehen zu bleiben, sondern klare Vorstellungen über die politischen Ursachen von Armut in einem reichen Land und über die erforderlichen Gegenmaßnahmen zu äußern. Warum er den Titel „Arzt der Armen“ nicht mag, ob er bei allem Engagement überhaupt noch Zeit zum schlafen hat, Seminararbeiten auf Lesbos korrigiert und was er mit dem amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gemeinsam hat, das alles erfahrt ihr in diesem Interview.

Gerhard, wenn man von Deinem Engagement in Mainz und der Welt liest, dann frage ich mich ernsthaft, wie du das mit deinem Job als Hochschulprofessor vereinbaren kannst und ob dir überhaupt noch Zeit zum Schlafen bleibt.

Das muss gut geplant sein. Mein Fachbereich ist zudem sehr kooperativ. Der aktuelle Online-Unterricht kommt dem auch gerade entgegen. Die inhaltliche interaktive Gestaltung ist aber leider gerade schwieriger geworden, ich versuche Dialog und lebendige Diskussionen anzuregen, aber es wird online einfach weniger diskutiert. Eine entsprechende gute Zeitplanung lässt sich dann mit dem Engagement im Arztmobil und der Ambulanz vereinbaren. Außerdem bin ich in der vorlesungsfreien Zeit flexibler und kann im Mittelmeer, auf Lesbos oder in Nord-Syrien helfen. Ich habe auch schon Bachelor- oder Hausarbeiten mitgenommen und dort korrigiert. Als ehemaliger Leichtathlet versuche ich als Ausgleich bis zu fünfmal die Woche eine dreiviertel Stunde in den Weinbergen zu joggen. Das ist mir sehr wichtig, aber durch den Medienrummel habe ich es in letzter Zeit nicht immer geschafft.

Warum bist Du der „Arzt der Armen“ geworden?

Ich habe mich nie „Arzt der Armen“ genannt, denn ich finde den Begriff etwas problematisch. Damit wird der Helfer auf einen Podest gestellt, aber es geht nicht um die Helfer. Es geht nicht um den Arzt, sondern es geht um die Armen, um die sozial Benachteiligten.

Aber Du hast gefragt, wie ich dazu gekommen bin. Soziale Ungleichheit habe ich schon als Kind erfahren. Ich bin in einem Waisenhaus groß geworden – aber als Privilegierter. Mein Vater war dort Erzieher und ich habe dadurch schon früh mitbekommen, mir geht es besser als den meisten. Ich habe Eltern, ich kann in Urlaub fahren und ich bekomme mehr Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke. Außerdem wurden viele Heimkinder später in der Schule benachteiligt. Das hat mich geprägt, ich habe mir gesagt, ich lasse so was als Erwachsener nicht mehr zu.

Dann war da noch mein Großonkel Ferdinand. Er war Antifaschist, saß im KZ, wurde an die Ostfront strafversetzt und kam tragischerweise beim Heimaturlaub durch einen Luftangriff der Alliierten ums Leben. Er hat mir sehr imponiert: Er war kein Mitläufer, hat seine Meinung gesagt und durch sein Leben gezeigt, dass es selbst in so einer gefährlichen Zeit möglich ist, Haltung zu bewahren. Wir dürfen keinen Millimeter nach rechts rücken oder vor rechten Aktivisten zurückweichen.

Durch meine damalige Frau, die als Sozialarbeiterin in einem Heim für Wohnungslose gearbeitet hat, habe ich die Lebenssituation Obdachloser kennengelernt. Ich habe soziale Arbeit und dann Medizin studiert und meine Doktorarbeit über das Thema Obdachlosigkeit geschrieben. Das verbindet mich übrigens mit dem amtierenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: Er hat auch seine Dissertation über Obdachlosigkeit geschrieben. Er als Jurist, ich als Mediziner. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass er das Thema als Bundespräsident ab und zu auf die Tagesordnung setzt.

So wurde ich für das Thema und die Lebenssituation obdachloser Menschen sensibilisiert. In meiner Doktorarbeit kam ich zu dem Ergebnis, dass sie häufig sehr krank sind und nicht richtig versorgt werden. Da habe ich mir gesagt: Was hilft den Betroffenen eine Doktorarbeit? Ich muss praktisch etwas tun. Dazu kam noch, dass ich in einem Leprakrankenhaus in Indien die aufsuchende Gesundheitsversorgung kennengelernt habe. Da dachte ich mir, das ist ein guter Ansatz: Nicht zu warten bis der Patient zur dir kommt, sondern du gehst zu dem Patienten auf die Straße. Das alles zusammen hat mich geprägt und motiviert etwas gegen diese soziale Ungleichheit zu tun.

Du machst das jetzt seit 28 Jahren. Wie hat sich die Gesellschaft in dieser Zeit verändert?

Es ist eine wellenförmige Entwicklung: Es wurde zunächst besser, die Wohnungslosigkeit ging zurück. Mit der Agenda 2010 hat die Armut in unserem Land wieder zugenommen. Gerade diese Einstellung fördern und insbesondere fordern suggeriert, dass die Betroffenen nicht selbst motiviert wären zu arbeiten. Das stimmt nicht, die meisten wollen arbeiten. Sie wollen eine sinnvolle Tätigkeit machen.

Jetzt ist unsere Gesellschaft wieder kälter geworden, also nicht die ganze Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, dass die politisch Verantwortlichen weiter weg sind von der Lebenswirklichkeit armer Menschen. Weil es immer mehr klassische politische Karrieren gibt: früh in die Partei eintreten, dort wird man geformt und getrimmt und viele haben dann wenig Lebenserfahrung in einem normalen Job sammeln können. Da empfinde ich viel Distanz, Unwissen und zum Teil auch eine gewisse Ignoranz: ‚Die könnten doch wenn sie wollten‘ und ‚wenn du arm bist, dann hast du irgendwas falsch gemacht‘. Das ist alles Quatsch!

Auf der anderen Seit erlebe ich, dass gerade in der Bevölkerung eine hohe Sensibilität und Solidarität herrscht. Ich glaube, viele Menschen spüren, dass die Armut näher an sie heranrückt. Die einen ignorieren das, die anderen solidarisieren sich und unterstützen zum Beispiel unseren Verein. Es kommt immer öfter vor, dass mich wildfremde Menschen in meinem Arztmobil anhalten, unsere Arbeit loben und mir eine Spende in die Hand drücken.

Außerdem wird das soziale Netz immer grobmaschiger. Es gibt immer mehr Privatisierungen im Gesundheitsbereich und die Hartz IV-Sätze reichen nicht aus. Er müsste bei ungefähr 650 Euro liegen und es tut sich nichts. Ich bin wie gesagt enttäuscht von der neuen Bundesregierung. Die Erhöhung um drei Euro ist ein Unding, gerade in Coronazeiten und angesichts der Inflation. Jetzt hat Robert Habeck gesagt, dass zeitnah eine Erhöhung angedacht wäre – warten wir es mal ab.

Wie sieht Dein Fazit aus diesen 28 Jahren aus: Was müsste geändert werden, um Armut zu bekämpfen und die Lage der Menschen zu verbessern?

Das Thema Armut darf nicht tabuisiert werden, wir müssen offen darüber reden, denn es gibt Armut bei uns. Es wird immer wieder relativierend vermittelt, es sei nicht vergleichbar mit der Armut in Ländern der Dritten Welt. Ja, das stimmt, es ist nicht so existenziell. Aber wenn Du hier in so einem wohlhabenden Land von vielen Dinge ausgeschlossen bist, macht das auch was mit den Menschen. Wenn dein fünfjähriges Kind noch nicht mal drei Euro für Frühstück, Mittag und Abendessen bekommt, dann kannst du deinem Kind auch nicht im Sommer ohne weiteres ein Eis kaufen. Das klingt so banal, aber das zeigt dir immer wieder: Du bist ausgegrenzt, du kannst nicht mitmachen, du kannst an vielem einfach nicht teilhaben.

Und Armut hat auch hier durchaus existenziell bedrohliche Facetten: Laut Robert-Koch-Institut sterben arme Menschen früher: Frauen 4,4 und Männer sogar 8,6 Jahre früher als Wohlhabende. 30 Prozent der armen Männer erreichen nicht das 65. Lebensjahr, Langzeitarbeitslose haben eine zwanzigfach höhere Suizidrate als Erwerbstätige.

Das sind wirklich dramatische Zahlen, was können – oder eigentlich besser müssen – wir dagegen tun?

Das Thema Armut muss in der öffentlichen Debatte und bei den politisch Verantwortlichen eine große Rolle spielen und die Rahmenbedingungen müssen entsprechend verändert werden: Hartz IV, Bürgerversicherung, keine weitere Privatisierung im Gesundheitsbereich bis hin – und da bin ich ja ganz bei der LINKEN – bis hin zu einer Umverteilung von oben nach unten. Wir brauchen eine Vermögenssteuer, wir brauchen höhere Einkommensteuern. Ich habe oft das Gefühl, hier wird Reichtum stabilisiert und vermehrt und nicht Armut bekämpft. Das ist keine Neiddiskussion, sondern es hat etwas mit sozialer Verantwortung zu tun. Ich sehe keine Partei außer der LINKEN, die den Mut hat, das Thema Vermögenssteuer immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Von der Ampelkoalition hört man überhaupt nichts mehr dazu.

Wir haben im Prinzip sogar eine Umverteilung von unten nach oben. Zum Beispiel weil sehr viele in die Rente einzahlen, gerade im Niedriglohnsektor, die oft auch körperlich und seelisch anstrengende Jobs haben, sie füllen die Rentenkasse und dann sterben sie, bevor sie Rente bekommen würden. Davon profitieren dann die, die besser verdienen und länger leben. Das ist absolut sozial ungerecht und muss sich dringend ändern.

Da ist es ja wirklich keine Überraschung, dass Du für DIE LINKE kandidierst. Wie bist zur LINKEN gekommen?

Am Anfang wurde ich von verschieden Linken quer durchs Land zu Vorträgen eingeladen, da gab es bereits eine gewisse Sympathie und Nähe, gerade was das Thema soziale Ungleichheit angeht. Konkreter wurde es dann, als ich Janine Wissler und DIE LINKE im Hessischen Landtag bei dem Versuch unterstützt habe, eine Clearingstelle für Menschen ohne Krankenversicherung in Hessen einzuführen. Das war eine sehr gute Zusammenarbeit. Aber die Clearingstelle wurde von der Schwarz-Grünen Landesregierung letztendlich leider abgelehnt. Dann bin ich von der Mainzer LINKEN gefragt und mit hundert Prozent Zustimmung als Direktkandidat für den Bundestag aufgestellt worden.

Wie kam es zu Deiner Kandidatur als Bundespräsident? Nobelpreistragende werden immer gefragt, was sie gerade gemacht haben oder wo sie waren, als der alles entscheidende Anruf kam. Wie war es bei Dir?

Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler und Janine haben mich zwischen zwei Online-Vorlesungen angerufen. Ich war wirklich überrascht, so was wird man ja nicht häufig gefragt. Nach etwas Bedenkzeit habe ich zugesagt, denn das ist eine unglaubliche Chance eine ganz besondere Lobbyarbeit betreiben zu können. Klar kann ich kaum gewinnen, aber ich kann genau die Themen, über die wir gerade gesprochen haben, nochmal auf einer ganz anderen Ebene einbringen und damit für die Menschen, die so wenig gehört und gesehen werden, mehr Aufmerksamkeit schaffen.

Es gab natürlich auch Aspekte die eher dagegen sprachen. Ich hatte ja schon gesagt, dass ich es problematisch finde, wenn eine Person immer so im Fokus steht und nicht die Menschen, um die es eigentlich geht. Da kann der Eindruck entstehen, jetzt will er sich damit profilieren. Außerdem habe ich überlegt, ob die Kandidatur ein Risiko für die Finanzierung des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ ist. Wir haben fast 25 Mitarbeiter und finanzieren unsere Arbeit über Spenden.

Es gab auch Unterstützer, die ihre bisherige finanzielle Unterstützung für unseren Verein wegen meiner Kandidatur beendet haben. Aber es kann nicht sein, dass ich deshalb nicht politisch das fordere oder dafür einstehe, was ich als notwendig erachte. Denn darum geht es unserem Verein, um strukturelle Veränderung. Wir wollen nicht die Tafel der Gesundheitsversorgung sein. Aber ich trenne das alles sehr stark von dem Verein.

Letztendlich habe ich mir gesagt: Das ist eine Chance, das muss ich einfach machen, das bin ich den von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen schuldig.