Interwie mit Francisco Alvarez (Convergencia Social)

Links vor rechts in Chile!

Bei den Präsidentschaftswahlen in Chile konnte sich der linke Kandidat Gabriel Boric gegen seinen Herausforderer Antonio Kast von der extremen Rechten durchsetzen. Gabriel Boric ist 35 Jahre alt und kommt aus der Studierendenbewegung, er ist Mitglied der Partei Convergencia Social und trat in einem Bündnis aus dem linken Parteienbündnis Frente Amplio und Kommunistischer Partei zu diesen Wahlen an.

Seit 2019 befindet sich Chile im politischen Aufbruch. Zuerst wehrten sich die Menschen gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Personennahverkehr. Schnell wuchs die Zahl der Demonstrierenden, sie forderten mehr soziale Gerechtigkeit in einem der ungleichsten Länder der Welt und eine neue Verfassung. Denn gegenwärtige Verfassung stammt noch aus Zeiten der Pinochet-Diktatur und manifestiert den Neoliberalismus in Chile. Letztes Jahr mündete dieser Prozess in der Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung. Noch in diesem Jahr sollen die Chilen:innen dann in einem Referendum über eine neue Verfassung abstimmen.

Francisco Alvarez von der Convergencia Social und war bis Ende letzten Jahres politischer Repräsentant von deren Auslandsorganisation in Europa. Er studiert in Berlin Soziologie und gibt uns Auskunft über die Wahlen, die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung und die Herausforderungen für die neue Regierung.

Wie habt ihr euren Wahlkampf organisiert, welche Themen habt ihr nach vorn gestellt, welche Zielgruppe angesprochen?

Das ist nicht ganz leicht zu beantworten. Eins war klar: um zu gewinnen, brauchten wir die Stimmen aller Wähler:innen. Deshalb haben wir versucht im Wahlkampf die ganze Gesellschaft in ihrer Diversität anzusprechen. Es gibt dennoch ein paar Punkte, die ich hervorheben möchte. Wir gewannen etwa 1,2 Millionen „neuer Wähler:innen,“ das sind Menschen, die in der ersten Runde nicht zur Wahl gegangen sind, die sich aber an der Vorwahl beteiligt hatten. Diese Gruppe setzt sich vor allem aus Jungen, Frauen und ärmeren Menschen zusammen. Und an dieser Stelle möchte ich der These der Mainstream-Medien widersprechen, dass wir gewannen, weil wir uns in die politische Mitte bewegt hätten oder unsere Positionen angepasst und aufgeweicht hätten. In der ersten Runde gewannen wir etwa 3,4 Millionen Wähler:innen, hauptsächlich aus dem mitte-links Spektrum. Wenn es dabei geblieben wäre, hätten wir die Wahlen verloren.

Wir konnten letztlich mehr Wähler:innen ansprechen, weil wir uns auf Reformen mit einer wirtschaftlichen Wiederbelebung fokussierten, mit einem Fokus auf kleine und mittlere Unternehmen, Schaffung von Arbeitsplätzen, feministischen Forderungen, Umweltschutz, einer Ausweitung der sozialen Rechte sowie eine Steuer- und Rentenreform. So konnten wir eine Mehrheit von Frauen und Menschen in urbanen Zentren mit geringem Einkommen erreichen und wir konnten die Ergebnisse in Chiles Norden zu unseren Gunsten verändern und in Regionen, die stark unter den Folgen von Umweltkrisen leiden.

Die Mobilisierung wäre ohne die Unterstützung von vielen ehrenamtlichen Unterstützer:innen überall im Land nicht möglich gewesen - und die Entscheidung war wichtig, auch die Wähler:innen zu gewinnen, die sich nicht im linken Spektrum verorten.

Diese Wahl fand unter besonderen Bedingungen statt, denn der Gegenkandidat Antonio Kast gehört zur extremen Rechten, deswegen sind viele wählen gegangen. Es hing viel von dieser Wahl ab, auch wie es mit der Verfassungsgebenden Versammlung weiter geht. So haben wohl viele Menschen, die Veränderung durch eine neue Verfassung wollen, für Gabriel Boric gestimmt.

Der Gegenkandidat Antonio Kast war, wie du schon sagtest, im extremen rechten politischen Lager verortet. Immerhin 44% der Menschen stimmten für ihn. Wie tief ist die chilenische Gesellschaft gespalten?

Meine erste Gedanke ist, dass wir nicht wirklich sagen können, wie gespalten die Gesellschaft ist oder nicht ist. Manche Medien haben die Wahlen als eine Wahl zwischen den Extremen dargestellt, aber tatsächlich war der rechte Kandidat der einzige Extremist. Wir haben Reformvorschläge gemacht, die sich aller Wahrscheinlichkeit auch an der nächsten Verfassung orientieren. Die Mehrheit der Chilen:innen hat das verstanden.

Außerdem waren diese Präsidentschaftswahlen Teil eines Wahlzyklusses, der mit einem Referendum begann, in dem 80% der Bevölkerung für eine neue Verfassung stimmten. Trotz des unterschiedlichen Ergebnisses, wir haben bei den Stichwahlen 56% der Stimmen geholt, ist unser Erfolg Teil des gleichen Prozesses, der inzwischen wiederholt von der Mehrheit der Chilen:innen unterstützt worden ist.

Gibt es Menschen, die gegen diesen Prozess sind? Klar, aber es ist eine Minderheit. Deshalb denken wir, es ist nicht richtig zu sagen, dass die chilenische Gesellschaft gespalten ist. Die meisten - ganz unabhängig von ihrer persönlichen Haltung - erwarten einen friedlichen und demokratischen Prozess.

Trotzdem müssen wir die Konsequenzen, die diese Wahlen für das rechte Lager haben beachten - und sie bereiten mir Sorgen. Der rechte Flügel ist eng verbunden mit der Wirtschaft. Der Wirtschaft gelang es in zwei Wahlen, den Vorwahlen und den Präsidentschaftswahlen, Außenseiter zu platzieren, die nicht zu den traditionellen Rechten gehören. Daran schließt sich die Kapitulation der sogenannten “liberalen und demokratischen Rechten” an, die ohne Not einen autoritären Kandidaten unterstützen.

Die Rechte wird sicherlich versuchen unsere Reformvorhaben zu blockieren und sie haben die entsprechende Mehrheit dazu im Parlament. Aber wir erwarten, dass es auch Abgeordnete der Rechten gibt, die eher der vernünftigen Opposition angehören, die die Notwendigkeit für Veränderungen und Reformen erkennen, um soziale und wirtschaftliche Stabilität zu erreichen.

Die Verfassungsgebende Versammlung soll dieses Jahr ihre Arbeit abschließen. Es begann 2019 auf den Straßen, wo stehen wir heute und wie geht es weiter?

Der Verfassungsprozess hat gerade eine neue Stufe erreicht und es wird ein erster Entwurf erarbeitet, er soll am 4. Juli vorgelegt werden. Etwa zwei Monate später sollen die Menschen in einem landesweiten Referendum darüber abstimmen.

Die Verfassungsgebende Versammlung arbeitet autonom und unabhängig von der Exekutive. Der Job der Regierung wird es sein, die Arbeit zu unterstützen und zu erleichtern, beispielsweise durch logistische Unterstützung, wie bei der Durchführung des Referendums und nicht zuletzt beim Transitionsprozess zusammen zu arbeiten. Wenn alles nach Plan läuft, haben wir im September eine neue Verfassung!

Am 11. März wird Gabriel Boric sein Amt antreten. Was werden die wichtigsten Themen seiner politischen Agenda sein und vor welchen Herausforderungen steht die neue Regierung?

Zuerst zu den Herausforderungen: Wir stecken mitten in einer Inflation, haben ein strukturelles Haushaltsdefizit und eine hohe Staatsverschuldung. Politisch wird die größte Herausforderung sein, dass wir ohne parlamentarische Mehrheit regieren. Das kann problematisch sein, ist aber auch eine Gelegenheit für einen belastbaren und nachhaltigen Konsens. Aus der Umweltperspektive befinden wir uns in einer mehrfachen Krise, die uns zwingt darüber nachzudenken, wie ökonomisches Wachstum ökologisch nachhaltig funktionieren kann. Und wir stehen vor großen sozialen Herausforderungen, denn wir sehen gerade einen historischen Anstieg der Armut.

Deshalb ist die Agenda zur Erholung der Wirtschaft mit einem Fokus auf die Schaffung von ökologisch nachhaltigen Arbeitsplätzen im formellen Bereich, besonders für junge Menschen und Frauen besonders wichtig. Zusätzlich müssen wir das Gesundheitssystem verbessern, durch die Pandemie ist es extrem unter Druck geraten. Wir müssen eine Rentenreform auf den Weg bringen, die es Rentner:innen erlaubt in Würde zu leben.

Etwas später, vielleicht 2023, planen wir eine Reduzierung des Haushaltsdefizits durch eine Steuerreform, die es uns erlaubt die dauerhaften Einnahmen des Staates zu erhöhen. Diese Steuerreform sollte alle Chilen:innen zugute kommen und mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft schaffen.

Wir brauchen einen größeren sozialen Zusammenhalt als Grundlage für ein anderes Entwicklungsmodell. Wir müssen unsere Wirtschaft diversifizieren, wir brauchen mehr Wissen, Technologie und Innovationen. Letztlich soll all das ermöglichen, das derzeitige Wirtschaftsmodell zu überwinden, das uns zum Export von Rohstoffen verdammt.