Chile: Die Versuchskaninchen wollen nicht mehr

Seit Monaten protestieren die Menschen in Chile gegen die neoliberale Regierung

Mit einem blutigen Militärputsch hatte General Augusto Pinochet am 11. September 1973 den gewählten sozialistischen Präsidenten von Chile, Salvador Allende, gestürzt. Anschließend wurde das Land als „Versuchskaninchen“ missbraucht, die von den USA gewünschte neoliberale Wirtschaftspolitik mit allen Mitteln durchgesetzt. Chile wurde so zum Testgebiet für neoliberale Reformen. Die sogenannten Chicago Boys, chilenische Wirtschaftswissenschaftler, die an der Uni Chicago studiert hatten, krempelten das Land um. Es wurde privatisiert und dereguliert, bis Chile ein neoliberaler Musterstaat geworden war. Das alles unter den Bedingungen einer blutigen Diktatur. Das Experiment wurde also nicht von Protesten gestört. Im Jahre 1980 schließlich bekam das Land eine von der Junta geschriebene Verfassung.

 

Nun sind die Chilen*innen am 25. Oktober aufgerufen, in einem Referendum darüber zu entscheiden, ob sie eine neue Verfassung wollen. Und wenn ja, welches Gremium soll sie ausarbeiten? Zwei Möglichkeiten stehen zur Wahl: Eine Versammlung, die sich je zur Hälfte aus Delegierten und Parlamentarier*innen zusammensetzt. Oder eine, die ausschließlich aus Delegierten besteht. In beiden Fällen sollen die Delegierten nur zum Zwecke der Ausarbeitung einer neuen Verfassung gewählt werden. Wenn die Bürger*innen die erste Frage mit einem "Ja" beantworten, wird der konstituierende Prozess eingeleitet. Am 25. Oktober geht es also in der Eingangsvolksbefragung darum, ob Chile den Prozess einleitet, an dessen Ende das Land eine neue Verfassung erhält. Später müssten konstituierende Delegierte gewählt werden und schließlich die Wählenden bei einem letzten Referendum entscheiden, ob sie dem Verfassungsentwurf zustimmen.

Eine Gesellschaft in der Krise

Hervorgerufen durch das neoliberale System einerseits und die Auflösung herkömmlicher sozialer Strukturen andererseits, durchlebt Chile seit Jahren eine tiefe Krise. Allen voran führte die Schwächung der alten Arbeiterklasse und die Entstehung einer neuen Mittelschicht zu einer raschen Fragmentierung der Gesellschaft. Viele Chilen*innen sehen weder ihre Interessen durch die alten politischen Parteien vertreten, noch gelingt es ihnen, gestalterisch Einfluss auf den Staat zu nehmen. Schon viel zu lange werden soziale Probleme ignoriert, was einen Rückzug der Menschen ins Private nach sich zieht. Die Wahlbeteiligung spiegelt dies wider, sie ist auf einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Protegiert durch die aktuelle, noch aus der Zeit des früheren Diktators Augusto Pinochet stammende Verfassung, blockiert die politische Rechte im Parlament jeden Reformversuch. Die weitverbreitete Hoffnung, das Leben der Menschen könnte verbessert werden, hat sich in Wut und Staub aufgelöst. In den Augen der Bürger*innen hat das politische System des Landes, und damit ihre Garantin, die Verfassung aus dem Jahr 1980, ihre Legitimität eingebüßt. Die Eruption der Proteste im letzten Jahr schien dann nur noch folgerichtig. Ein Ventil. Die Proteste waren unmittelbar verwoben mit der Repräsentations- und Legitimitätskrise und mit dem Typ von Individuum, den der chilenische Neoliberalismus produzierte.

Das Ziel: Eine echte Demokratie

Die derzeitige Verfassung stammt noch aus den dunklen Zeiten der Diktatur Augusto Pinochets. Um das neoliberale Modell zu verankern, wurde sie 1980 so verfasst, dass sie nicht geändert werden kann. Jaime Guzman, der Vater dieser Verfassung, verdeutlichte das Ziel dieses Gesetzeswerkes: "Die Verfassung muss sicherstellen, dass die Gegner, wenn sie regieren, gezwungen werden, eine Politik zu verfolgen, die sich nicht so sehr von der unterscheidet, die wir uns wünschen würden."

Zu diesem Zweck wurde in die Verfassung ein Vetorecht für die Minderheit eingebaut, mit dem jede Initiative blockiert werden kann, die das neoliberale Modell abzuschaffen will. Ein „Ja“ und die Option des "Verfassungskonvents" als konstituierendes Organ würde bedeuten, dass die Chilen*innen mehrheitlich die aktuelle Verfassung ablehnen. Das wäre das Ende der konstitutionellen Festlegung auf den Neoliberalismus.

Schon vor der Abstimmung ist klar, dass die große Mehrheit der Chilen*innen nicht mehr unter der Verfassung Pinochets leben möchte. Und dass im künftigen Verfassungsorgan alles diskutiert werden kann, ohne dass eine Minderheit Vorwürfe der Verfassungsfeindlichkeit erheben darf. So ist es zwangsläufig, dass eine neue Grundcharta per Definitionem etwas anderes sein wird als das, was heute das Leben der Chilen*innen prägt.

Das Referendum bedeutet daher, dass wir Chilen*innen zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht nur eine inhaltliche Diskussion darüber führen können, wie wir leben wollen, sondern auch die institutionelle Gelegenheit dazu nutzen wollen - und damit zum ersten Mal in unserem Land und unserer Geschichte - ein wirklich demokratisches Verfassungsabkommen zu erreichen. Als Bürger*innen wollen wir nicht jedes Mal Gefangene, der sich wiederholenden Erpressungen des rechten Flügels bleiben. Wenn die Öffentlichkeit wesentliche Änderungen fordert, wird ihr noch heute regelmäßig eine perverse Konsenslogik auferlegt. Die geht so: "Entweder nehmen sie, was wir ihnen anbieten, oder es gibt einfach keine Einigung.“ Und: "Wir fahren mit der aktuellen Verfassung fort.“

Die Rechte will das Projekt scheitern lassen

Es ist wahr, dass die aktuelle Situation die gesellschaftliche Achse nach links verschoben hat. Sie hat die Parteien der Mitte, die überzeugte Neoliberale sind, gezwungen, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch den Verfassungskonvent zu genehmigen. Etwas, was vor ein paar Jahren unmöglich schien. Sowohl die Christdemokratie als auch die Sozialistische Partei, deren ehemaliger Präsident vor einigen Jahren die Idee einer neuen Verfassung als "Opium rauchen" bezeichnete, sind heute begeisterte Befürworter einer Verfassungsänderung. Dies bedeutet zwar nicht zwangsläufig, dass sie darauf drängen werden, eine völlig andere Gesellschaftsordnung aufzubauen, aber zumindest eine mit Verbesserungen gegenüber den "Exzessen", die wir in den letzten Jahrzehnten erlebten.
Die Rechte hat ihrerseits eine zweigleisige Strategie verfolgt, die darin bestand, einen Verfassungsänderungsprozesses generell abzulehnen, gleichzeitig aber auch einigen Gruppen und Politiker*innen zu erlauben, sich für das JA einzusetzen. Dies würde es ihnen ermöglichen, unabhängig vom Ergebnis, sich am Sieg zu beteiligen.

Es gibt aber auch Gefahren. Einige bekannte rechte Politiker*innen vertreten einigermaßen erfolgreich die These, dass sie sich mit aller Kraft dem Verfassungsprozess anschließen sollten, ohne wirklich an demokratischen Beratungen teilzunehmen. Stattdessen, so geht die Argumentation, sollen sie sicherstellen, dass sie ein Drittel der Delegierten des Verfassungskonvents stellen. Wenn sie Erfolg damit haben, können sie alles ablehnen, was sie nicht begünstigt. Auf diese Weise wollen sie den Verfassungsprozess blockieren und schließlich spektakulär scheitern lassen.

Sowohl die opportunistischen Strategien der Rechten als auch der neoliberale Hintergrund des politischen Zentrums zwingen uns, den Referendumsprozess und den politischen Prozess, der vor uns liegt, mit "Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens" zu betrachten.

Wir sind uns bewusst, dass das Referendum und die neue Verfassung im Transformationsprozess Chiles Meilensteine sein werden, aber sie werden nicht der Höhepunkt oder das Ende unserer Bemühungen sein. Wir glauben, dass unsere Politik darin besteht, ein hegemoniales historisches Projekt zu konsolidieren, das starke Loyalitäten unter den Bürger*innen aufbaut und die Interessen der Mehrheit wirklich vertritt. Dies erfordert eine Perspektive auf lange historische Prozesse. Darin erwarten uns Höhen und Tiefen, vielleicht einige Niederlagen, aber auch Triumphe.