Rotes Revier
Warum gerade das Ruhrgebiet zur Kampfzone sozialer Gerechtigkeit werden muss
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Die Linke erreichte bei der Bundestagswahl 2025 8,8 Prozent der Zweitstimmen. Das überraschende Plus kam vor allem aus Ostdeutschland mit 13 Prozent sowie aus Ballungsregionen wie Köln, Frankfurt oder Hamburg mit jeweils 14 bis 15 Prozent. Im Ruhrgebiet blieb die Partei dagegen bei lediglich 8,7 Prozent hängen. Gerade in dieser Region, die mehrfach Ausgangspunkt sozialistischer Aufbrüche war, sollte das Alarmglocken läuten lassen. Eine eigene Ruhrgebietsstrategie ist überfällig.
Warum das Ruhrgebiet mehr Aufmerksamkeit verdient hat
Zunächst muss man es nochmal deutlich machen: Das Ruhrgebiet ist groß, sehr groß. Je nach Zählung leben hier ca. 5,1 - 5,8 Millionen Menschen. Wäre es ein Bundesland, läge es zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz und hätte mehr Einwohner als Sachsen oder Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen. Gleichzeitig ist das Ruhrgebiet eine Armutshochburg. Die Armutsquote von knapp 22 Prozent ist 3 Prozent höher als in Ostdeutschland und ganze 6 Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. Besonders hart trifft es die Jüngsten: Jedes dritte Kind wächst in Armut auf, fast doppelt so oft wie im Osten. Unterm Strich bedeutet das 1,1 Millionen verarmte Menschen, darunter 225 000 Kinder. Das sind mehr Betroffene, als Köln überhaupt Einwohner hat.
Vier Jahrzehnte Deindustrialisierung haben im Ruhrgebiet hunderttausende Industriearbeitsplätze hinweggefegt. Nur der ostdeutsche Schock nach der Wende war dramatischer. Wo einst Hochöfen glühten, stehen heute Callcenter und Paketverteilzentren, schlechter bezahlt und oft befristet. Die Folge: knapp 10 Prozent Arbeitslosigkeit im gesamten Ruhrgebiet, in Gelsenkirchen sogar 15 Prozent, während die Republik bei 6 Prozent verharrt. Mit den Jobs brachen die Gewerbesteuern weg, weswegen sämtliche Städte im Revier hoffnungslos überschuldet sind. Die Zeche zahlen die Menschen vor Ort: Schwimmbäder werden geschlossen, Schulen werden nicht saniert, der öffentliche Nahverkehr ist in einem desolaten Zustand, doch Kitagebühren und Grund- und Gewerbesteuern steigen.
Eine Region ohne Stimme und ohne Fürsprecher
All das ist längst belegt, trotzdem bleibt das Ruhrgebiet in Berlin nahezu unsichtbar. Sobald von sozialer Schieflage die Rede ist, wandern Mikrofone und Kameras fast reflexartig gen Osten, nicht, weil die Probleme dort unwichtig wären, sondern weil Sachsen, Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern mit ihren Ministerpräsidenten eine starke Bühne haben. Das Revier besitzt nicht einmal einen gemeinsamen Bürgermeister. Wer sechzig Kilometer auf der A 40 von Oberhausen nach Dortmund fährt, durchquert fünf Großstädte, ohne ein echtes Ortsschild zu spüren. Politisch jedoch zersplittern sie in konkurrierende Rathäuser ohne geballte Stimme.
Der zweite Grund heißt SPD. Seit Gründung der Republik hält sie im Ruhrgebiet die meisten Rathäuser und Mandate, doch ihre dreizehn Bundestagsabgeordneten glänzen durch Lautlosigkeit. Selbst Parteichefin Bärbel Bas aus Duisburg rückt lieber vermeintliche „mafiöse Strukturen“ beim Bürgergeld in den Vordergrund, statt ein Programm gegen die Armut von 1,1 Millionen Menschen in ihrer Heimat vorzulegen. Vier Jahrzehnte sozialdemokratischer Vorherrschaft haben die Lage nicht verbessert, sondern diese Strukturen verfestigt.
Linkes Vakuum, rechter Vormarsch
Das Ruhrgebiet, einst uneingeschränktes SPD-Bollwerk, durchläuft seit mehr als einem Jahrzehnt einen tiefen Umbruch. In den 80er und 90er-Jahren holte die SPD hier bei Landtagswahlen regelmäßig 40 - 55 Prozent und 2005 noch gut 37 Prozent. Nach dem Absturz auf 26 Prozent bei der NRW-Landtagswahl 2022 sank ihr Rückhalt in der vorgezogenen Bundestagswahl 2025 weiter: landesweit kam die SPD nur noch auf 20 Prozent Zweitstimmen, im Ruhrgebiet sogar nur 23 Prozent (zweitstärkste Kraft hinter der CDU). Aktuelle Juni-Umfragen von Infratest dimap sehen die Partei landesweit bei nur noch 16 Prozent – ein neuer Tiefpunkt. Parallel dazu legt die AfD beständig zu: Zwischen der Europawahl 2019 (8,5 Prozent im Ruhrgebiet) und 2024 sprang sie regional bereits auf rund 15 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2025 steigerte sie sich im Ruhrgebiet weiter auf 18 Prozent (NRW-weit 16 Prozent) und überschritt in Hotspots wie Gelsenkirchen erstmals die 24-Prozent-Marke.
Die Sinus-Milieu-Analysen sprechen eine klare Sprache: Im sogenannten prekären Milieu, also dort, wo das Geld knapp und die Hoffnung dünn ist, erreicht die AfD 45 Prozent, plus 27 Prozentpunkte binnen 4 Jahren. Die AfD ist auf dem Weg, die neue Arbeiter- und Klassenpartei zu werden, obwohl sie außer Ressentiments rein gar nichts anzubieten hat. Die SPD hat dieses Terrain kampflos geräumt und ein politisches Vakuum hinterlassen, das Die Linke schleunigst füllen muss.
Rotes Revier: Chance für eine neue Arbeiterpartei
Wo die SPD abtaucht, reißt sie ein Loch in die soziale Landschaft. Dieses Loch darf nicht von der AfD gefüllt werden, hier muss Die Linke hineingehen, mit einer klaren, eigens für das Revier gestrickten Strategie. Zentral ist das Thema Wohnen. Die größte Not ist weniger explodierende Kaltmieten als marode Wohnungen. Viele Häuser stammen aus der Nachkriegszeit und sind wirtschaftlich oft kaum zu sanieren. Manche Eigentümer lassen deshalb gleich ganz die Finger davon, andere nehmen die niedrigen Mieten mit, ohne zu investieren. Eine öffentliche Wohnungsbaugesellschaft, die Bestände aufkauft, saniert und preisgebunden hält, würde den Modernisierungsstau lösen, ohne die Mieten explodieren zu lassen.
Ebenso überfällig ist eine echte Altschuldenlösung für die Städte an Rhein und Ruhr. Seit Jahren liegt sie auf dem Tisch und scheitert an der Schuldenbremse. Die Übernahme der Altlasten durch den Bund würde den Kommunen endlich Spielraum verschaffen, um in Schulen, Kitas und Infrastruktur zu investieren. Erst wenn der Bus fährt, Straßen intakt und Schulen saniert sind, hat die Region eine faire Chance, ihren sozialen Abstieg zu stoppen.
Das Ruhrgebiet braucht aber mehr als nur intakte Straßen. Gefordert ist ein Industrietransformationspakt, der tarifgebundene Arbeitsplätze in Zukunftsbranchen schafft. Öffentliche Beteiligungsfonds können dafür Eigenkapital bereitstellen, allerdings nur gegen klare Auflagen: Tarifvertrag, Betriebsrat, Standortgarantie und ökologische Standards. Zusätzlich muss der Staat selbst Jobs schaffen. Historische Vorbilder zeigen, wie das gehen kann. Schon in den Dreißigerjahren stellte der US-New-Deal mit den „Civilian Conservation Corps“ Hunderttausende junge Arbeitslose direkt in Bundesdiensten an, um Wälder aufzuforsten, Parks zu bauen und Infrastruktur zu pflegen. Ein ähnliches Modell, angepasst ans Revier, könnte heute Quartiere sanieren, den Nahverkehr ausbauen oder Stadtparks pflegen. Solide bezahlt, tariflich gesichert und ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet.
Gemeinsam organisieren statt Kirchturmdenken
Eine Ruhrgebietsstrategie muss mehr sein als gute Forderungen auf Papier. Sie braucht eine schlagkräftige Struktur. Haustürgespräche sind ein bewährter Hebel, um Vertrauen in den Quartieren zu gewinnen und Themen direkt aus den Wohnzimmern ins Rathaus zu tragen. Entscheidend ist jedoch die Schlagzahl. Zehn Genossinnen decken in einem Stadtteil mit zehntausend Bewohnerinnen kaum mehr als ein paar Straßenzüge ab. Die Neuköllner Kampagne um Ferat Koçak hat gezeigt, was nötig ist: Hunderte Freiwillige, klar koordiniert, die Viertel für Viertel abklopfen und sichtbar bleiben.
Das gelingt nur, wenn Kreisverbände ihre Kräfte bündeln, gemeinsam ganze Stadtteile bespielen und so die zersplitterte Kommunallandschaft des Reviers überwinden. Dabei braucht es einen gemeinsamen Aktionsplan mit klar verteilten Schichten, geteilten Materialien und einer zentralen Auswertung jeder Haustürklingel. Die Linke darf nicht dem Kirchturmdenken der Rathäuser erliegen. Wer das Ruhrgebiet gewinnen will, muss es als eine politische Einheit begreifen und auch genauso organisieren.
Die Uhr tickt. Entweder wir bringen eine entschlossene linke Offensive auf die Straße oder wir überlassen das Revier den Rechten. Packen wir es an, Quartier für Quartier.