Einmal Ukraine und zurück: DIE LINKE hilft

Es ist zum Verzweifeln. In Polen angekommen, hat sich Elena extra eine neue Sim-Karte gekauft. Denn sie muss ja auch außerhalb der Ukraine Internetempfang haben. Nie war die Verbindung in die Heimat Kiew wichtiger als in diesen Tagen des Kriegs und der Flucht. Elena hat die Sim-Karte eingelegt, sie kann telefonieren, doch von dem versprochenen Gigabyte Datenvolumen fehlt jede Spur, als Elena im Transporter der Linken sitzt. Am Donnerstagmittag, Tag acht des Kriegs in der Ukraine, sind wir unterwegs von Hrubieszów nahe der polnisch-ukrainischen Grenze nach Berlin. Wir, das sind zwei Fahrer aus Deutschland und zwei Frauen aus der Ukraine mit ihren Töchtern: Elena mit Tanja (12) und Olga mit Julia (5). 

Die Frauen wissen genau, wohin sie wollen. Elena wird nach Frankfurt weiterreisen, zu ihrer Schwester, und Olga will nach Norddeutschland, zu einer Schulfreundin, die mit einem Deutschen verheiratet ist. Dort werden sie sicher sein, doch ihre Gedanken sind bei ihren Männern, die weiterhin in Kiew sind: Einer kämpft gegen die russischen Angreifer, einer kämpft mit weiteren Angehörigen ums Überleben.

Dorohusk: Anders als erwartet

Für uns Fahrer ist es am Donnerstagmorgen zunächst gar nicht so leicht, an der Grenze Mitfahrer mit dem Ziel Deutschland zu finden. Um 8 Uhr weist uns ein polnischer Polizist den Weg zum Grenzübergang Dorohusk, dem nördlichsten der acht Übergänge von Polen in die Ukraine. 100 Meter vor dem Schlagbaum lassen wir den Transporter stehen und sehen uns zunächst um. Der Geruch von Feuer liegt in der Luft, am Straßenrand stehen brennenden Tonnen, denn wer hier ankommt, muss sich wärmen. Gerade kommt kaum jemand an. Keine Spur vom großen Flüchtlingsstrom. Und wer ankommt, wird bald darauf abgeholt, von polnischen Freunden oder Verwandten. Hilfsorganisationen sind vor Ort mit Verpflegung, mit Kleidung, mit Drogerie-Artikeln. Die Szenerie ist ruhig und geordnet, die Menschen wirken allesamt erschöpft. Wir haben Schlafsäcke geladen, haben Kleidung dabei sowie Wasser und Verpflegung. Es zeigt sich schnell, dass in Dorohusk derzeit kein Bedarf herrscht für unsere Hilfsgüter. Also geht unsere Reise weiter.

Angst vor der Dunkelheit

Elena und Olga sind überzeugt, dass sie nur für kurze Zeit in Deutschland bleiben müssen. Bald werde der Krieg vorbei sein, sagt Olga an einer Raststätte bei einer Zigarette. Olga war schon häufiger in Polen, um ihren Mann zu besuchen. „Er arbeitet hier. Jetzt ist er über die Grenze gegangen, um zu kämpfen.“

Als wir wieder unterwegs sind, reicht uns Elena ihr Smartphone. Wieso funktioniert ihr Internet nicht? Können wir ihr helfen? Wir geben ihr einen Hotspot, denn ihr Datenvolumen bleibt unauffindbar. Das ist jetzt egal. Hauptsache sie ist online. Nicht nur ihr Mann versteckt sich in Kiew. „Meine ältere Tochter ist 21, sie wollte nicht mit uns kommen. Sie wollte bei ihrem Freund bleiben.“ Elena hält inne. „Sie ist 21. Ich kann sie nicht zwingen. Die drei verstecken sich in Metro-Stationen vor den Bomben.“ Elena hat jetzt eine Internetverbindung, nur eine Nachricht hat sie noch nicht bekommen. Doch die Zuversicht ist da, denn es ist noch hell draußen. „Die Explosionen kommen erst bei Dunkelheit“, sagt sie. In der vergangenen Nacht habe sie nicht aufhören können zu weinen.

Wellenbewegung in Zosin

Von alldem wissen wir noch nichts, als wir morgens gegen halb zehn am Grenzübergang Zosin ankommen – eine Autostunde südlich von Dorohusk. In Zosin ist alles größer. Mehr Menschen, mehr Autos, mehr Bewegung. Zelte sind aufgebaut, in denen sich Geflüchtete wärmen. „Die Menschen kommen in Wellen an“, erklärt uns Alex, „jetzt ist es ziemlich ruhig, vielleicht kommen gleich 120 Leute auf einmal an.“ Er ist einer von unzähligen Helfern, man erkennt sie an ihren gelben Warnwesten. Alex koordiniert die Hilfen auf der polnischen Seite unmittelbar hinter der Grenze. Trinkwasser sei wichtig für die Wartenden. Obst? Kekse? Alles wird benötigt. Wir laden ab. Endlich. „Eure Schlafsäcke“, erklärt uns Alex auf Englisch, „verteilt die Armee auf der anderen Seite der Grenze. Danke!“ Kleidung sollten wir besser ins Auffanglager bringen. Denn die Organisation vor Ort funktioniert so: Direkt an der Grenze warten diejenigen, die bereits einen konkreten Kontakt haben und abgeholt werden. Wer noch nicht weiß, wie es weitergeht, wird in ein Auffanglager im Hinterland gebracht.

Flucht in die Zentral-Ukraine

Als der Krieg begann, hat Elena mit ihrer Tochter Tanja Kiew sofort verlassen, mit dem Nötigsten verpackt in zwei Rucksäcken sind die beiden per Zug in die Mitte der Ukraine gefahren. Von dort ging die Flucht (Elena spricht stets von ihrer „Reise“) weiter zu Fuß. Auf dem Weg nach Polen warteten sie manchmal stundenlang in der Kälte auf eine Mitfahrgelegenheit. Elena ist nicht ihr wahrer Name. Ihre richtigen Namen möchten die Frauen nicht veröffentlicht wissen. Ihre Geschichten schon.

Elena, diese Frau Anfang 40, die vor ein paar Tagen noch penibel auf ihr Äußeres achtete, sie ist nun ungeschminkt, selbst die tiefen Augenringe stören sie nicht. Sie greift sich ins fettige Haar. „Guck, seit Tagen nicht gewaschen“, sagt sie. Elena zeigt ein Foto. Da lacht sie, da strahlt ihr Haar hellblond, da wirkt sie wie ein Model beim Shooting. Die Aufnahme entstand zehn Tage zuvor. Wenn es heißt, die Welt erlebe gerade eine Zeitenwende, dann ist der Mensch Elena gerade ein Spiegelbild dieser Zeitenwende. „Kannst du den Hotspot noch einmal anmachen?“, fragt Elena. Natürlich. Sie durchforstet Whatsapp. Keine Nachricht von den Liebsten.

Im Auffanglager Hrubieszów

Hrubieszów hat rund 20.000 Einwohner, zurzeit sind es einige mehr, denn im Auffanglager, einer großen Turnhalle fünf Kilometer von der Grenze entfernt, kommen täglich Geflüchtete an, meist Frauen mit Kindern. Aus der anderen Richtung strömen Helfer herbei, die Hilfsbereitschaft in der polnischen Bevölkerung scheint grenzenlos zu sein. Einer der Helfer ist Mateusz. Er ist seit fast 24 Stunden auf den Beinen, als wir uns bei ihm als Fahrer registrieren. Im Vorraum der örtlichen Turnhalle herrscht ein geschäftiges Treiben. Dort werden Geflüchtete mit Fahrern zusammengebracht, Lunchpakete gepackt, warme Getränke verteilt, Kinder betreut. Wir halten jetzt ein Schild hoch, Berlin steht darauf und dass wir sechs Plätze frei haben. Auf anderen Schildern steht Warschau, Lublin – hauptsächlich warten polnische Fahrer.

Draußen stehen Zelte, in regelmäßigen Abständen kommen rote Busse der polnischen Feuerwehr an und bringen Leute her: Frauen, Kinder und Senioren sind es in der Regel.  Olga spricht uns als erste an. Bald darauf fragt Elena, ob sie und ihre Tochter Tanja mit uns fahren könnten. Die Reisegruppe ist also beisammen. Mateusz nimmt unsere Daten auf. Für die Sicherheit. Man muss sich vorstellen: Die Frauen steigen zu völlig fremden Männern ins Auto. Es wäre noch Platz für zwei Passagiere, also warten wir. Ohnehin haben wir noch die Kleidung abzugeben. Vor einem großen Zelt werden unsere Taschen und Tüten direkt ausgepackt und sortiert. Drinnen stapeln sich Kindersitze und -wagen, Kleidung, Schuhe. Ob das alles benötigt wird? „Wer weiß“, sagt eine Helferin, die aus Warschau kommt, „wie viele noch kommen.“  

„Sie glaubt Putin mehr als mir“

Elenas Verwandtschaft ist recht weit verstreut: Die Schwester lebt seit Jahren in Frankfurt, die Cousine schon lange in Moskau. Als Elena mit ihr in den ersten Kriegstagen telefonierte, glaubte ihr die Verwandte schlichtweg nicht, dass Kiew angegriffen wird. „Sie glaubt nicht ihrer Cousine, sie glaubt den russischen Medien“. Elena ist aufgebracht. Oft habe sie versucht, der Cousine auszureden, wovon die überzeugt war: etwa, dass Russen in der Ukraine diskriminiert würden. „Sie glaubt Putin schon lange mehr als ihrer Cousine!“

Ist das schon Deutschland?

Irgendwann am Nachmittag finden die Frauen und ihre Töchter die Ruhe, einzuschlafen, während der Neunsitzer mit dem LINKE-Schriftzug auf den Seiten mit sonorem Fahrgeräusch über die polnische Autobahn S2 in Richtung deutsch-polnischer Grenze rollt. Wir hatten in Hrubieszów keine weiteren Passagiere für die Fahrt nach Deutschland gefunden. Zu spät wollten wir auch nicht die 900-Kilometer-Fahrt zurück antreten. Wir werden sie am Ende unserer gemeinsamen Reise gegen 22 Uhr in einem Hotel nahe dem Berliner Hauptbahnhof unterbringen. Von dort können Ukrainerinnen kostenlos mit der Bahn weiter: Olga und Julia am nächsten Morgen nach Bremen, Elena und Tanja nach Frankfurt.

In der Abenddämmerung wacht Elena auf. „Ist das schon Deutschland?“, will sie wissen. Ein paar Stunden wird es noch dauern. Zum x-ten Mal schaut sie auf ihrem Smartphone in ihre Nachrichten – dieses Mal endlich erleichtert. Ihr Mann, die Tochter, deren Freund - sie leben. Die Drei haben einen Platz zum Übernachten in einem Bahnhof ergattern können. Einen einzigen Platz für alle drei. Sie werden abwechselnd schlafen. So klingen gute Nachrichten aus einer Stadt im Krieg.