Impfpflicht: Weder durchsetzbar noch zielführend

Die Impfungen gegen das Coronavirus sind sinnvoll, weil sie vor schweren Krankheitsverläufen und dem Tod wenigstens für eine bestimmte Zeit schützen. Deshalb muss man der großen Mehrheit der Menschen danken, die sich impfen lassen und damit einen Beitrag leisten, das Gesundheitssystem zu entlasten und andere Menschen zu schützen.

Dass nun darüber debattiert wird, die in Deutschland bestehende Impflücke mit einer  Impfpflicht zu schließen, zeigt zugleich das Versagen der Bundesregierungen, der jetzigen und der vorherigen. Andere Länder wie Portugal, Spanien und Dänemark haben viel höhere Impfquoten ohne Pflicht. In Deutschland hingegen erlebten wir Desorganisation: zuerst fehlende Impfstoffe, dann zu wenig Impfstellen, heute nicht wirklich belastbare Zahlen – das ist ein Trauerspiel. Hierzulande zeigt etwa Bremen mit einer linken Gesundheitssenatorin, dass man mit Aufklärung, direkter Ansprache aller Bevölkerungsteile und guter Organisation eine Zweifachimpfquote von 87,5 Prozent der Bevölkerung erreichen kann. Von Bremen lernen, heißt Impfen lernen. Ein gewisser föderaler Erfahrungsaustausch statt föderaler Eigenbrötelei wäre nicht nur in dieser Beziehung sinnvoll.

Gerade weil mit Bremen ein Bundesland zeigt, dass sich eine solche Impfquote auch ohne Pflicht erreichen lässt, dürfte es eine allgemeine Impfpflicht schwer haben, vor dem Bundesverfassungsgericht zu bestehen. Es gibt ganz offenkundig mildere Mittel.

Ein weiteres Problem ist die Durchsetzbarkeit. Eine vom Gesetzgeber beschlossene Regelung hat in einem Rechtsstaat nur dann einen Sinn und letztlich auch eine Berechtigung, wenn sie von der Exekutive auch durchgesetzt werden kann. Schon die Abkehr von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, die einzelne Bundesländer und Ministerpräsidenten de facto für nicht umsetzbar erklären, obwohl sie ihr im Bundesrat zugestimmt haben, untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat in einer sehr gefährlichen Weise. Eine Norm gilt, wird aber nicht umgesetzt, gilt also doch nicht.

Es gibt in Deutschland derzeit etwa 11 Millionen ungeimpfte Menschen über 18 Jahre. Wie viele Beschäftigte in Gesundheits- und Ordnungsämtern brauchten wir eigentlich, um das Ganze irgendwie zu bewerkstelligen? Staatliche Aufgaben können wir auch nicht einfach auf Unternehmen übertragen; das sieht das Recht nicht vor. Und eine Pflicht ohne Sanktionen ist keine Pflicht. Es geht bei den Sanktionen letztlich wohl um Geldbußen. Damit aber würde eine allgemeine Impfpflicht zu einer sozialen Frage. Wer über die nötigen Mittel verfügt, könnte sich praktisch freikaufen, andere nicht. Hinzu kommt noch: Wer nicht zahlt oder nicht zahlen kann, muss stattdessen mit Ordnungshaft rechnen, wie es bei anderen mit Geldbußen geahndeten Delikten immer der Fall ist. Was schon beim so genannten Schwarzfahren abstrus ist, wäre bei einer Impfpflicht aber völlig undenkbar, dass wir Ungeimpfte auf irgendeinem Weg einsperren. Das erträgt und das verträgt unsere Gesellschaft nicht. Es führte zu einer weiteren Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft.

Weil Impfen wichtig ist, müssen wir einen anderen Weg gehen: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung! Wenn die Hälfte der heute Ungeimpften bis zum Herbst geimpft wäre, nähmen wir einer befürchteten neuerlichen Corona-Welle den Schrecken und könnten wirklich beginnen, mit dem Virus zu leben. Das bedeutete aber, dass es bis Oktober gelingen müsste, pro Tag etwa 25 000 Menschen erstmals zu impfen. Ist Deutschland wirklich nicht in der Lage, an jedem Tag 0,03 Prozent seiner Bevölkerung die Impfung so nahezubringen, wie es in Bremen geschafft wurde?

Dabei geht es auch noch um etwas Essentielles für unsere Demokratie: Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Bei der Bundestagswahl 2021 verweigerten 23,4 Prozent die Stimmabgabe, 10,3 Prozent wählten AfD, 8,7 Prozent bewusst Parteien, die nicht in den Bundestag einziehen, 0,9 Prozent der Stimmen waren ungültig. Alle diese Gruppen sind fertig mit der etablierten Politik, und zwar von der CSU bis einschließlich der Linken. Darüber müssen wir uns sehr viel mehr Gedanken machen. 38,5 Prozent der Bevölkerung vertrauen der etablierten Politik nicht mehr. 5 bis 10 Prozent wären vielleicht normal. Aber 38,5 Prozent sind viel zu viele.

Die Politik muss sich wesentlich mehr Gedanken darum machen, wie man Vertrauen herstellen kann: durch eine allgemein verständliche Sprache, durch die Angabe der wahren Beweggründe für Entscheidungen, durch die Überwindung des gesamten Lobbyismus und vor allem durch deutlich mehr Ehrlichkeit. Mit einer Impfpflicht, die die herrschende Politik lange explizit ausgeschlossen hatte und die weder verfassungsfest noch durchsetzbar ist, erreicht man weder Vertrauen noch eine angemessene Impfquote.