Bundestagswahlergebnis der LINKEN

Todesstrafe auf Bewährung

DIE LINKE muss die gesellschaftlichen Konflikte der Zeit lösen - gemeinsam.

Jörg Schindler bei der Präsentation der Wahlkampagne

Der Wahlkampf war nicht der Grund der Niederlage.

Unser Wahlkampf fokussierte soziale, ökologische und solidarische Themen. Die Partei stand hinter den Themen Miete, Mindestlohn, Pflege, würdiges Leben für Rentner*innen, Ausbau des ÖPNV, Verbot der Waffenexporte, unteilbare Menschenrechte. Über 221.000 Haustüren wurden aufgesucht, 2.175 Genoss*innen haben sich zu 110 Workshops hierzu angemeldet, sie haben unermüdlich unsere politischen Themen erklärt, es wurden Millionen Zeitungen gesteckt, in den sozialen Medien diskutiert und morgens um 6 Uhr Infostände aufgebaut. Die Kandidierenden haben einen tollen Job gemacht und auf Podien für uns gestritten. An den Super-Thuesday-Workshops haben 2.200 Genoss*innen teilgenommen. Wir haben tausende Plakate gehängt. Von ihren acht Themen waren fünf sozialpolitisch. Es gab regelmäßige Mailings an die Mitglieder, unseren wöchentlichen Newsletter und Linksaktiv, sowie erstmals eine App, die von mit 3.500 NutzerInnen aus 172 Kreisverbänden genutzt wurde. Über 2.000 Mitglieder waren Teil unserer Social-Media-Einhornfabrik und färbten das Netz rot; sie brachten #ichwähleLinks in die Trends. In den sozialen Medien erreichten wir mit unseren Sharepics mehrere Millionen User*innen und unser verfilmtes Kurz-Wahlprogramm sahen auf YouTube und anderen Kanälen 100.000 Menschen.

Der Kandidierenden-Service war für 343 Direkt- und Listenkandidat*innen da. Die KandidatInnen wurden eng begleitet, mit Profilen, bei Anfragen, Wahlprüfsteinen, Bürger*innenzuschriften oder Handreichungen. In der Pressestelle wurden für die Spitzenkandidat*innen in Zusammenarbeit mit dem Grundsatzbereich inhaltliche Aufschläge erarbeitet: Klima-Jobprogramm, Sozialstaat, Osten, Vermögensteuer. Auch unser “Sofortprogramm”, als es schien, dass unsere Partei zumindest arithmetisch Teil einer rot-rot-grünen Mehrheit sein könnte. In einer Veranstaltungstour reiste unser Mobil über mehrere Wochen durch alle Bundesländer. Auch den Mitarbeiter*innen im Karl-Liebknecht-Haus und in den Geschäftsstellen der Landes- und Kreisverbände danke sehr für ihren unermüdlichen Einsatz.

Die strategischen Direktwahlkreise, acht an der Zahl, erhielten gesonderte Unterstützung: finanzielle Mittel, gesonderte Personenfolder, Zuschüsse zu Großflächen mit Personenmotiv, Werbeschaltung über soziale Medien, InApp-Werbung und aktivierende Linksaktiv-Mailings. Zusätzlich gab es individuelle Unterstützung, bedarfsweise über Social Media oder eine  Postwurfsendung in alle Haushalte. Die strategischen Direktwahlkreise waren unser Sicherungsseil, das wir gespannt hatten. Mein Dank gilt hier auch Gregor Gysi, Gesine Lötzsch und Sören Pellmann, die ihre Wahlkreise auch als Persönlichkeiten gewonnen haben.

Trotzdem: Wir haben die Wahlen verloren.

Und ja - es ist nicht die Schuld der Medien, der Konstellation, sondern unsere eigene Schuld. Das Ergebnis ist die Höchststrafe, die es in der Politik gibt: Unter 5 Prozent bedeutet normalerweise politische Bedeutungslosigkeit. Das Wahlergebnis sagt aus: uns wird nicht zugeschrieben, das Leben der Menschen zu verbessern. Unter fünf Prozent, das ist die Todesstrafe für politische Parteien. Wir haben diese Strafe allerdings auf Bewährung erhalten und dürfen wegen drei Direktmandaten trotzdem als Fraktion im Bundestag vertreten bleiben. Ab jetzt haben wir vier Jahre Zeit zu zeigen, dass wir gesellschaftspolitischen Wert haben. Das ist unsere Bewährungsauflage. Eine Chance die wir jetzt nutzen müssen. Sonst droht unausweichlich unser Tod.

Wie es dazu kommen konnte: Seit 2015 leisten wir uns Vielstimmigkeit zu den aktuellen Fragen der Zeit.

DIE LINKE entstand als Teil einer breiten Bewegung gegen neoliberale Politik, die sehr verschiedene gesellschaftliche Milieus miteinander verband. Sie hat stark gemacht, wenn sie in den gesellschaftlichen Großkonflikten einig argumentiert hat: gegen Hartz IV und Sozialabbau, gegen - in der Gesellschaft nicht akzeptierte - völkerrechtswidrige Interventionskriege. Hier stand unsere Partei über Strömungsgrenzen und Milieus hinweg gegen diese falsche Politik.

Seit 2015 hat sich die Welt jedoch verändert. Neue gesellschaftliche Konflikte wurden dominant - a) Einwanderungsgesellschaft (2015), b) die Dringlichkeit des Klimawandels (2018) c) die Art und Weise der Bekämpfung der Corona-Pandemie (2020) und auch d) das Ende des Interventionismus, die Veränderung der Weltordnung mit den Polen USA, EU, Russland und China.

In diesen vier Konflikten hat sich DIE LINKE öffentlich als widersprüchlich präsentiert. Das war zunächst noch nicht dramatisch, weil es eine gewisse Zeit dauert, bis diese widersprüchliche Vielstimmigkeit bei den Wähler*innen ankommt und das mit Abstufungen auch auf anderen Parteien zutraf.

Aber unserer Partei DIE LINKE ist es bis zum Schluss nicht gelungen, in diesen Fragen trotz einmütiger Beschlüsse einen für alle Mitglieder verbindlichen Positionskorridor herzustellen, der nicht verlassen werden darf. Dabei hat die Partei intensiv diskutiert. Sie hat sowohl zum Thema Migration als auch zu den Themen Ökologie oder Bekämpfung der Corona-Pandemie oder zur Frage der internationalen Beziehungen, der Unteilbarkeit der Menschenrechte und der Demokratie eindeutige Beschlüsse gefasst. Ergebnis waren in allen Fällen recht breit getragene politische Mehrheitspositionen auf Bundesparteitagen: Für eine humane und solidarische Einwanderungsgesellschaft, die Menschen aufnimmt und in einem sozialen Prozess inkludiert. Für einen konsequenten ökologischen Umbau ohne Wenn und Aber, der soziale Abstiege ausschließt und Aufstiegsperspektiven schafft. Auf dem Bundesparteitag 2018 und der folgenden Migrationskonferenz sowie der gemeinsamen Klausur der Bundestagsfraktion und Parteivorstand wurde diese Position breit vereinbart. Im Europa- und Bundestagswahlprogrammen 2019 bzw. 2021 haben wir uns als Partei dem konsequenten sozial-ökologischen Umbau verschrieben.

Mitte-Unten-Bündnis durch verbindende Klassenpolitik - was denn sonst?

Die Partei will ein gesellschaftliches Mitte-Unten-Bündnis durchsetzen und verfolgt dazu den Ansatz der “verbindenden Klassenpolitik” im Gefolge der “Mosaik-Linken” (Hans-Jürgen Urban): Es ist der Versuch, verschiedene Perspektiven und Milieus mit ihren sozialen und kulturellen Ansprüchen ernst zu nehmen, überschneidende Interessenlagen, vor allem im sozialen Bereich zu suchen und diese gemeinsam zu vertreten. Darüber sollen vorhandene Spaltungen vermeiden werden und solidarische Prozesse angeregt werden. Wo wiederum (objektive) Interessendivergenzen bestehen, verfolgt die Partei die Strategie, diese Divergenzen möglichst zu minimieren bzw. nicht in den Mittelpunkt zu stellen. - Ich denke, bei "verbindender Klassenpolitik" handelt es sich im Kern eigentlich zunächst erst einmal um eine Form breiter Bündnispolitik der unteren und mittleren Schichten - als praktisches Gegenkonzept zu einer Politik der Arbeitertümelei. Letztere, von Sahra Wagenknecht vertreten, ist eigentlich eine Art Wiederkehr des Sektierertums der 70er Jahre. Wie ist das zu verstehen? Damals suchten kommunistische Gruppen “die Arbeiter”. Bei ihrer abgrenzenden Suche stellten sie fest, dass faktisch niemand dem Idealtyp entsprach. Klassen sind Systematisierungen, die so in Reinform niemals in einer Person auffindbar sind. Menschen sind eben immer Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse und damit mit verschiedenen Einflüssen und Facetten versehen. Verbindende Klassenpolitik, also eine Politik, die die gesamte Klasse im Blick behält, fragt demgegenüber nach Interessenüberschneidungen. Diese können ökonomischer, kultureller oder menschenrechtlicher Art sein. Folgend versucht diese Bündnispolitik aus dem Gemeinsamen heraus Fortschritte im gesellschaftlichen Prozess zu erzielen. Werden aber statt Gemeinsamkeiten “die Arbeiter” gesucht, werden systematisch alle Facetten und Widersprüchlichkeit realer Wähler*innen als für nicht geeignet und nicht bündnistauglich erklärt. Es verzwergt sektiererisch die Linke.

Gleichwohl müssen wir trotz unseres Ansatzes einer breiten Bündnispolitik konstatieren: dem o.g. Prozess, einen solchen Positionskorridor demokratisch in der Partei herzustellen, haben sich reichweiten- und medienstarke Akteur*innen der Partei, vor allem in der Bundestagsfraktion, entzogen. Es geht dabei nicht um Pluralität - die braucht jede Partei wie die Luft zum Leben. Es ist nicht zuletzt auch eine zentrale politische Praxis unserer Kritik des Partei-Stalinismus, dass sich Minderheiten immer artikulieren können müssen. Die Praxis in der Bundestagsfraktion war aber kein positiver Pluralismus, sondern eine schlechte Vielstimmigkeit, die zu fehlender Erkennbarkeit führte, eine Kakophonie. Statt eines gemeinsamen Positionskorridors wurden Claims abgesteckt. Von der Partei erarbeitete Positionen wurden häufig medial konterkariert. Nach vorne gerichtete Debatten, die diese gesellschaftlichen Großkonflikte in eine Gesamtstrategie der politischen Veränderung einbinden, fanden im Wesentlichen nicht statt. In der Bundestagsfraktion entstand eine Art politisch-gedankliche Lähmung. “Alte Hits” wieder spielen hieß das wohl. Aber “alte Hits” sind nicht die Melodie der Zeit.

Zugleich entzogen sich medienstarke Teile der Bundestagsfraktion einer politischen Debatte in und mit der Partei, führten sie aber über Medien öffentlich weiter. Korridore der Positionsfindung, etwa das gemeinsame Papier zur Einwanderungs-Klausur oder zum Green New Deal, wurden nicht aufgegriffen, sondern weitgehend ignoriert. Stattdessen wurde zunächst mit “Aufstehen” versucht, eine Art pressure group für die eigene Position in der Partei, zugleich aber als Parallelstruktur arbeitend, zu etablieren, um DIE LINKE mit ihren Positionen unter Druck zu setzen, vielleicht sogar mit offener organisatorischer Separierung oder gar Spaltung zu liebäugeln. Unabgestimmt wurde damit der Ort DIE LINKE als Raum der demokratischen Positionserarbeitung infrage gestellt.

Nicht Mitglieder, Wähler*innen und verschiedene Millieus gegeneinander stellen

Die politischen Veränderungen der gesellschaftlichen Konfliktlage identifizierten Teile der Partei einseitig als Milieuveränderung von Mitglied- und Wähler*innenschaft. Angeblich würden jüngere und aktivere Mitglieder die soziale Frage zugunsten von "Lifestyle"-Fragen vernachlässigen. So wurden Mitglieder und Wähler*innen gegeneinander ins Feld geführt. Die einen werden als angeblich nicht sozial motiviert beschimpft, ihre Perspektive nicht produktiv gesellschaftskritisch orientiert, sondern förmlich “abgemeiert”. Den anderen wird gesagt, dass DIE LINKE - wegen ersteren - nicht mehr hinreichend sozial sei. Es wurde auf den Bruch, die Differenz hin kommuniziert, nicht auf die Verbindung. Das ist existenzgefährdend. Zugleich bricht es mit unserem Gründungsimpuls einer breiten linken Sammlungsbewegung. Wir haben es im Wahlkampf tausendfach erlebt: Die Behauptung, dass wir die Arbeiter nicht vertreten, uns mit Gender- und Nebenfragen befassen würden oder grüner als die bürgerlichen Grünen seien. Die beschriebene sektiererische Polarisierung hat daher letztlich beide Gruppen abgeschreckt: sowohl diejenigen, die sich mit ihrer sozialen, ökologischen oder menschenrechtlichen Aktivität vor den Kopf gestoßen fühlen mussten als auch jene, die unsere Partei als die entscheidende Kraft ihrer sozialen Interessen sahen. Daher ergibt sich auch ein Verlust sowohl ins Lager der “rot-grünen” Parteien als auch an die Nichtwähler*innen.

Das Muster der angeblichen Vernachlässigung sozialer Interessen ist seit 2017 ein stetig wiederkehrendes Argument. Es zieht sich quer über alle Diskussionen. Entgegen der Fakten wird darin behauptet, die Mitglieder der LINKEN würden sich von sozialen Interessen materiell, aber vor allem kulturell entfremden. Dies sei linkes "Lifestyle". Im Buch "Die Selbstgerechten" wurde dies pointiert und polemisch verarbeitet, parallel zur Neuwahl der Parteivorsitzenden und des Parteivorstandes, der eine klare Bestätigung des bisherigen Kurses der verbindenden Klassenpolitik bringt. Das Buch ist als "Gegenprogramm" untertitelt und liest sich als Kritik dieser Linie und des Wahlprogrammentwurfs, der nur ganz wenige Wochen vorher veröffentlicht wird. Die recht knappe Wahl von Sahra Wagenknecht als Spitzenkandidatin in NRW wird von einer heftigen innerparteilichen Kontroverse begleitet. Über Wochen ist die Partei überwiegend damit beschäftigt. Mitglieder und Aktive gehen verloren. Und in dieser Zeit sinkt die Partei um ein bis zwei Prozentpunkte auf das Level der elektoralen Existenzgefährdung ab.

Die Umkehrung des Glaubwürdigkeitsproblems

Wähler*innen abgeschreckt haben meines Erachtens weniger unsere Position zu einer gendersensiblen Sprache, sondern dass unsere politischen Gegner*innen ärgerlicherweise recht erfolgreich den Vorwurf erhoben haben, dass wir Putin und Russland nicht mit gleicher Elle messen wie die Türkei und Erdogan. Haben wir hier nicht mit bestimmten missverständlichen Bildern in der Öffentlichkeit, Interviews und billigen Agitationen nicht tatsächlich dem Vorwurf Vorschub geleistet, wir seien “Putinversteher”? Selbstverständlich setzen wir uns konsequent für Entspannungspolitik und Frieden mit Russland ein, gleichwohl gingen Äußerungen und Aktivitäten von einzelnen Mitgliedern des Bundestags teilweise deutlich darüber hinaus. Sie erweckten den Eindruck einer Parteinahme für die autoritäre Politik der russischen Regierung. Das ist aber nicht aufklärerisch, sondern erweckt den Verdacht der Unaufrichtigkeit und der (spiegelverkehrten) doppelten Standards in der Außenpolitik. So entstand auch ein umgekehrtes Glaubwürdigkeitsproblem: War in den Wahlkämpfen 2009 bis 2017 die SPD unglaubwürdig, weil sie wegen des Ausschlusses einer Koalition mit der LINKEN keine Durchsetzungsperspektive für ihre sozialpolitische Agenda darstellen konnte, wurde diesmal uns vorgehalten, dass wir unsere sozialpolitischen Ziele selbst nicht ernst nehmen, weil unsere außenpolitischen Positionen von diesen oben genannten doppelten Standards oder Rechthaberei geprägt sei. Das ist eine selbstgestellte Falle, in die wir gelaufen sind, weil wir mit unserer Argumentation nicht auf der Höhe der Zeit und vor allem nicht im Herzen der Wähler*innen waren.

Wir haben in mehreren Themenfeldern offene gesellschaftliche Konflikte, die wir als DIE LINKE bearbeiten und für die wir Lösungen anbieten müssen. Zum Beispiel im Klimaschutz. Der Schutz der Interessen von Pendler*innen und der Automobilarbeiter*innen einerseits und die Positionen der Aktivist*innen von Ende-Gelände oder Fridays-for-Futre stehen sich hier zunächst oft praktisch gegenüber. Die Aufgabe einer linken Partei ist aber nun, diese Positionen zusammenzubringen und nicht, sich auf eine Seite zu schlagen. Denn die sozialen Interessen der einen und der Klimaschutz gehören zusammengedacht und nicht gegeneinander ausgespielt. Oder etwa: Wir müssen unsere internationalistische Politik neu durchdenken. Was heißt antiimperialistischer und antimilitaristischer Internationalismus heute? Wir brauchen letztendlich nicht weniger als eine aktualisierte Theorie des Imperialismus und eine politische Praxis, die sich nicht auf die Seite von Staaten, sondern von Bewegungen stellt. Und in unserer politischen Praxis muss gelten, was die Arbeiter*innenparteien seit über hundert Jahren singen: Die Internationale erkämpft das Menschenrecht. Auch besprechen müssen wir: Wie ist unser Verhältnis zur Europäischen Union? Wollen wir nicht endlich eine Vertiefung der sozialen Standards? Die Wähler*innen wollen hier von uns konkretes hören. Diese Debatten müssen wir führen. Wenn es sein muss scharf, aber auf jeden Fall mit Ergebnissen.

Das Abstimmungsergebnis der Bundestagsfraktion zu Afghanistan war Ausdruck der Schwäche, sich auf ein gemeinsames Abstimmungsverhalten zu verständigen. Wir haben im Parteivorstand lange diskutiert und Enthaltung empfohlen. Das war auch begründbar, denn unsere Enthaltung war ein Ja zur Rettung der Ortskräfte und ein Nein zu 20 Jahren verfehlter Afghanistan-Politik. Aber: Zwölf abweichende Stimmen im Bundestag aus unserer Fraktion, sowohl Ja und Nein, sind zu viel, um unsere Position stringent und glaubwürdig zu begründen. Diese Abstimmung war der sichtbarste Ausdruck der politischen Dissonanz der Fraktion, der sich auch in anderen Themenfeldern zeigte. Wir brauchen deshalb in der Fraktion die politische Bearbeitung von Kontroversen und nicht das bloße Nebeneinander von Positionen.

Was ist zu tun:

1.

Zunächst kann aus dem Wahlkampf bereits der Schluss gezogen werden, dass politischer Streit und schrille Botschaften vor der Wahl noch schädlicher sind als sonst: Während wir im 1. Quartal stabile bis sehr gute Eintrittszahlen hatten (14-17/Tag), brachen diese im 2. Quartal regelrecht ein (10-12/Tag). Die Austritte erhöhten sich. Erst zum 3. Quartal, im August, näherten sich die Eintritte wieder dem Niveau von Februar und explodierten dann im September auf über 27-30/Tag. Nach der Wahl erfreuen wir uns immerhin an einer Eintrittswelle: 1.600 neue Mitglieder konnten wir seit der Schließung der Wahllokale alleine online begrüßen.

Diese neuen Mitglieder, die trotz unserer Niederlage zu uns kommen, sind eine Chance. Wir werden in der kommenden Woche einen Neumitgliederzoom machen. Aber das ist ja nur ein kleiner Anfang: Ich schlage vor, dass wir kurzfristig mit den Landesverbänden zusammenkommen, um Angebote für gerade diese jungen Mitglieder (⅔ U35) zu schaffen. Etwa in einer Konferenz oder gemeinsam mit Jugend- und Studierendenverband. Ich finde auch spannend, welches gesellschaftliche Spektrum diese Mitglieder abbilden.

2.

Die kommenden vier Jahre müssen Bundestagsfraktion und Parteivorstand viel enger kooperieren und verzahnt sein. Ich schlage vor, dass wir im Parteivorstand thematische Arbeitsgruppen bilden, die die Arbeit der Bundestagsfraktion eng begleiten. Umgekehrt schlage ich vor, dass Bundestagsabgeordnete zu konkreten Tagesordnungspunkten am Parteivorstand teilnehmen und über die Arbeit der Bundestagsfraktion berichten bzw. wir gemeinsam Positionen beraten. Das betrifft zentrale Kernfragen der Gesellschaft: den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Infrastruktur. Welche konkreten Schritte wollen wir für einen Umbau der Wirtschaft gehen? Wie können hierbei Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen werden, und welche Instrumente sollen wir hier maßgeblich einsetzen, etwa den Transformationsfonds? Wie sollen soziale Schieflagen und Belastungen für die notwendige Nutzung des Individualverkehrs vermieden werden, etwa durch ein Mobilitätsgeld? Wie verbinden wir die Kritik an höheren Energiepreisen mit politischen Alternativen, die nicht nur sozial defensiv, sondern auch offensiv sind? Oder beim Thema zeitgemäßer Internationalismus: Wie stellt sich die Partei Schritte für eine gerechte Weltordnung oder eine konkrete Eskalationsverhinderung vor, welche internationalen Institutionen sind zu stärken? Wie profitieren wir von praktischen Erfahrungen anderer Linksparteien in Europa, etwa in Norwegen, Dänemark? Wie sieht eigentlich Internationalismus und eine Entspannungspolitik aus, die nicht in Verdacht steht, mit doppelten Standards zu operieren?

3.

Landesverbände, die durch die Wahl strukturell geschwächt wurden, müssen trotz geringerer Ressourcen gestärkt werden, um in der Fläche präsent zu sein. Zugleich benötigen wir einen neuen Anlauf für die Verankerung - teilweise überhaupt erst deren Aufbau - der Partei in lokalen und kommunalen Politikfeldern. Eine demokratische sozialistische Mitgliederpartei kann nur vom guten Geist der in ihr verschiedengradig aktiven Mitglieder existieren, die sich selbst organisieren; keine hauptamtliche Struktur kann das dauerhaft ersetzen.

4.

Wir haben uns vereinbart, nach der Bundestagswahl einen Mitgliederentscheid zum Thema Bedingungsloses Grundeinkommen durchzuführen. Das Thema ist innerhalb der Partei kontrovers und kann uns zerreißen. Eine Debatte über ökonomische Zusammenhänge kann uns aber auch stärken. Denn gerade die praktische Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus ist das Wesen der Arbeiter*innenbewegung und Kernthema der Linken. Lasst uns also diesen - notwendigen - Mitgliederentscheid verbinden mit einer innerparteilichen Offensive darüber, wie ein Sozialstaat des 21. Jahrhunderts aussehen soll. Und das ist auch notwendig, denn die neue Bundesregierung, ob Ampel oder Jamaika, wird den Sozialstaat nicht ausbauen, sondern die Ungleichheit unter neuer Farbgebung anmalen. Dagegen treten wir kämpferisch an!

Wir haben die Bundestagswahl verloren, weil wir es nicht geschafft haben, dass die Menschen uns das zugeschrieben haben, was wir uns vorgenommen haben: das Land gerecht zu machen. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

Aber: die gesellschaftliche Aufgabe, das Land gerecht zu machen, bleibt. Daran wird weder die Ampel noch Jamaika etwas ändern. Lasst uns die Größe dieser Aufgabe zur Richtschnur unseres Handelns in den kommenden vier Jahren machen.

Beitrag des Bundesgeschäftsführers und Wahlkampfleiters Jörg Schindler zum Wahlergebnis der LINKEN bei der Bundestagswahl 2021. Die zentralen Thesen dieses Beitrags hat Jörg Schindler auch auf der Parteivorstandsklausur am 2. Oktober mündlich in die Diskussion eingebracht.