Zu arm für die Reha

Inge Hannemann ist eine der bekanntesten Kritiker:innen des Hartz-IV-Systems. In ihrer  Kolumne für "Links bewegt" schreibt sie regelmäßig zu sozialpolitischen Themen.

Letztens ist mir in der Sozialberatung folgender Fall begegnet: Ein Jobcenter, irgendwo in Deutschland, verpflichtete den Erwerbslosen per Eingliederungsvereinbarung, einen Antrag auf eine medizinische Reha-Leistung beim zuständigen Rententräger zu stellen. Ziel war natürlich die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Leser:innen mögen nun geneigt sein zu denken: Das ist doch ein fürsorglicher Gedanke. Oder gar ganzheitlich gedacht. So weit, so gut. Die Angst vor einer 30-prozentigen Sanktion, weil er bei einer Verweigerung gegen die Eingliederungsvereinbarung (EGV) verstoßen würde, führte zu einer Unterschrift und damit zu einer Zustimmung zu diesem Reha-Antrag.

Zu Hause angekommen, kamen die Zweifel: Wie soll ich die Sportbekleidung finanzieren? Die Hoffnung und das Wissen, dass sowieso mehr als die Hälfte der medizinischen Reha-Anträge durch den Rententräger im ersten Anlauf erstmal abgelehnt werden, verpuffte schnell. Die Angst, dass das Jobcenter möglicherweise auf einen Widerspruch gegen die Ablehnung pochen wird, war stärker. Somit blieb die Angst der Finanzierung bestehen. Sie fraß sich subtil in die Gedankenströme über den Tag und in die Träume der Nächte hinein.

Keine Reha ohne Sportkleidung

Auch wenn Arbeitslosengeld-II- und Grundsicherungsleistungsberechtigte nach dem SGB XII von den täglichen zehn Euro Zuzahlungen befreit sind, ist es damit nicht getan. Grundsätzlich werden die Fahrt- und Gepäckkosten zum Reha-Ort für alle übernommen. Eine Reha besteht immer aus Physiotherapie, die ordentliche Bekleidung voraussetzt: Sporthose, T-Shirt, Sportschuhe für Innen und Außen, Jacke für Outdoor-Übungen sowie Badebekleidung für die Schwimmtherapie. Eine einmalige Ausstattung ist nicht ausreichend, da am Tag oftmals mehrere Anwendungen stattfinden. Kurz gesagt: Zwei bis drei Hosen und T-Shirts müssen es mindestens sein. Und das ist schon knapp bemessen. "Na, T-Shirts hat doch jeder zu Hause", mag manche Leser:in jetzt denken. Sicher. Ich empfehle hier einen Perspektivwechsel.

Eine Normalität, die keine ist

Im Juni 2019 waren rund 5,5 Millionen Menschen in Hartz IV gemeldet. Von ihnen waren 42 Prozent bereits vier Jahre oder länger hilfebedürftig (Quelle: Bundesagentur für Arbeit). Für Bekleidung – inkl. Schuhe - stehen einer alleinstehenden Person aktuell 37,01 Euro in Hartz IV oder in der Grundsicherung zu. Von einer neuen Sporthose brauche ich hier gar nicht zu reden. Wie viele Gebrauchte ich in einem Sozialkaufhaus erhalte, sofern es überhaupt eines in der Nähe gibt, brauche ich auch nicht groß erwähnen. Hinzu kommen noch T-Shirts, mögliche Badebekleidung und Turnschuhe. Alles Einzelteile, die sich jedoch, gerade für Betroffene, die sich sehr lange in Armut befinden, zu einer Summe addieren, die nicht zu wuppen ist. Und die zu Gedanken führen, die sich erst in Sorgen verwandeln und dann in Ängsten enden können.

Wer jahrelang in Armut lebt, hat nicht unbedingt „Reha-Bekleidung“ im Schrank. Von dieser Normalität dürfen wir nicht ausgehen. Genauso wenig bei Menschen, die nicht von Armut betroffen sind. Hüten wir uns also hier vor Generalisierungen. Aber einen Aspekt möchte ich dennoch erwähnen. Wünsche und Fragen, die mir sehr begegnen: „Mit denen da Draußen mithalten zu können. Halte ich diesem stand? Kann ich mich behaupten?“ Auch immer vor dem Hintergrund, dass die Armut die ganze Person das eigene „Ich“ untergraben hat. Und da ist der Wunsch, sich etwas Modernes, sich etwas Neues zu leisten durchaus legitim.

Isoliert durch jahrelange Armut

Mit monatlich 37 Euro ist das aber nicht umzusetzen. Jahrelange Armut isoliert – sozial und finanziell. Ein plötzliches Ereignis, wie eine Reha, kann gedanklich und finanziell ein Karussell in Gang setzen, was sich immer schneller dreht. Im Fall des Ratsuchenden löste sich der Fall so auf, dass der Rententräger überraschenderweise die Reha innerhalb kurzer Zeit positiv entschied und der Leistungsberechtigte über Privatspenden zum Teil neue und sehr gut erhaltene moderne Sportbekleidung kaufen konnten. Das funktionierte aber nur, weil sich das Karussell stoppen ließ. Für viele von Armut Betroffene gibt es ähnliche Beispiele. Es kann eine Waschmaschine sein. Ein außergewöhnlicher Schulbedarf. Medikamente. Kaputtes Fahrrad.

Rechtshinweis: Die Jobcenter dürfen über die Dauer der Reha die Hartz-IV-Leistungen nicht kürzen.