Den Kompass neu ausrichten

Aufgaben für DIE LINKE nach der Bundestagswahl

DIE LINKE hat bei der Bundestagswahl eine schwere Niederlage eingesteckt. Der Verlust an Zustimmung betrifft nicht bestimmte Gruppen oder Regionen, wir haben überall verloren. Dafür gibt es mehr als einen Grund und ganz sicher liegen viele bei uns selbst. Deswegen werden wir als Parteivorsitzende in den kommenden Monaten den schon länger anhaltenden Trend zurückgehender Wahlergebnisse selbstkritisch und gründlich auswerten. Dazu gehört nicht nur die umfassende Beratung auf allen Ebenen und in allen Gremien unserer Partei, sondern auch eine wissenschaftliche Begleitung. Deren Ergebnissen wollen und können wir hier nicht vorweggreifen.

Wir haben im Februar den Parteivorsitz angetreten, um all jene für DIE LINKE zu gewinnen, die einen linken Aufbruch wollen. Es war eine turbulente und schnelle Zeit bis zur Bundestagswahl. Dies entbindet uns als Parteivorsitzende jedoch nicht von einer Verantwortung für das Ergebnis. Es gibt viele Fragen, denen wir uns jetzt offen, zuhörend, analysierend stellen müssen, zum Beispiel diesen: Wie wirken unsere Vorschläge, unsere Forderungen bei den Menschen im Land? Vermitteln wir das, was wir wollen, auch glaubwürdig genug – etwa die Verbindung von gestaltender Veränderung im Hier und Heute und unseren radikalen Veränderungsperspektiven? Wie kommen wir als LINKE im Alltag von Familien vor, von Menschen, die Abstiegsängste haben, wie in den immer vielfältigeren Lebenswirklichkeiten? Unsere linken Konzepte sind erst dann wirkungsvoll, wenn sie die Menschen erreichen, um die es uns geht. Die Frage nach der Funktion unserer Partei für die Menschen ist die Entscheidende. Und wir müssen ihnen deutlicher als bisher sagen, wie wir das, was wir fordern, umsetzen wollen.

Alle in der LINKEN sind aufgerufen, sich zu befragen, wie es zu diesem niederschmetternden Ergebnis kam. Wir haben damit in zahlreichen Gesprächen in den Kreis- und Landesverbänden, bei Mitglieder-Zooms und im Parteivorstand bereits begonnen. Wir laden dazu ein, dies weiter gemeinsam und solidarisch zu tun. Wer sich die Vergangenheit nicht kritisch anschaut, kann auch keine Zukunft gestalten. 

Eine neue Zeit

Die Herausforderungen warten nicht auf uns. Eine neue Koalition ist im Amt. Nach mehr als 16 Jahren stellt die SPD wieder den Kanzler. Grüne und FDP werden nun in der Regierung an ihrer Politik gemessen. Unsere Partei hat als einzige linke Opposition im neuen Bundestag eine wichtige Rolle als Anwältin sozialer und ökologischer Forderungen und als die politische Kraft, die sich für eine grundsätzliche Abkehr von einer auf Profit orientierten Wirtschaft einsetzt.

Nur wenn wir uns erneuern, wird es uns gelingen, die Spielräume für Alternativen tatsächlich auch zu nutzen, die von der Ampel-Regierung eröffnet werden. Eine LINKE, die Hoffnung auf grundsätzliche Veränderung weckt, die um jede Verbesserung im Alltag und jeden Schritt in die richtige Richtung kämpft, kann Vertrauen zurückgewinnen und wieder erfolgreich werden. Wir wollen als Parteivorsitzende erste Vorschläge machen, wie DIE LINKE diesen Weg gehen kann. Es geht darum, Schwächen zu überwinden, Fehler zu korrigieren, unsere Stärken zu stärken und neue Zuversicht zu stiften. Ohne Hoffnung kein Erfolg und ohne Vertrauen keine neue Kraft. 

Dabei sind wir mehr denn je auf euch angewiesen: auf die Mitglieder unserer Partei, die jeden Tag für soziale Veränderung einstehen – ob in kommunalen Vertretungen oder in Landtagen, ob in Regierungen oder Betrieben, ob in der Nachbarschaft oder sozialen Bewegungen. Unsere LINKE wird wieder gewinnen, wenn sie als aktive Mitgliederpartei mehr Menschen zum Mitmachen begeistert. 

Wir werden nicht so weitermachen wie bisher. Wir können bei der notwendigen Klärung unserer Gemeinsamkeiten nicht einfach zu politischen Antworten zurückkehren, die in der Zeit des Widerstands gegen die sozialen Folgen der Nachwende-Transformation oder gegen die Agenda-2010-Politik der Nullerjahre richtig waren. Es reicht angesichts einer veränderten Gesellschaft nicht aus, als soziales Korrektiv zu SPD und Grünen zu agieren. Eine linke Partei muss mehr wollen. Und wir können auch mehr. 

Es geht in einer veränderten Zeit nicht mehr allein um die gerechte Verteilung von Reichtum, es geht um eine andere Weise des Arbeitens und Wirtschaftens. Wir stehen transnational vor einem Epochenbruch, der vielleicht das Ende des fossilen Kapitalismus bedeutet. Die politischen Antworten des 20. Jahrhunderts lösen nicht die Schlüsselfragen des 21. Jahrhunderts: soziale Spaltung, eskalierende Klimakrise, globale Konkurrenz um Ressourcen, autoritäre Bedrohung der Demokratie. Es kann nicht nur darum gehen, den »Strukturwandel« in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen nur sozial abzufedern oder ausschließlich auf (zweifelsohne notwendige) technologische Innovationen zu setzen. Ein grün modernisierter Kapitalismus wird die soziale und ökologische Krise nicht lösen. 

Größere Umbrüche stehen an – lasst sie uns nutzen, um Wirtschaft und Arbeit zu demokratisieren, um Stadt und Land, Mobilität, Industrie und Dienstleistungen neu, von den Bedürfnissen der Menschen, nicht des Marktes, aus zu denken. Wir wollen DIE LINKE als treibende Kraft einer an die Wurzel der Probleme gehenden sozialen und ökologischen Transformation neu aufstellen und zukunftsfähig machen.

Wir wollen eine LINKE, die bewahrt, was gut war und zugleich ändert, was uns im Vergangenen gefangen hält. Es geht um soziale Gerechtigkeit, um demokratische Freiheit und internationale Solidarität als Leitbilder einer modernen sozialistischen Partei, die konkrete, realistische und radikale Antworten auf die Grundfragen unserer Zeit gibt. Der Klimawandel, wie die Fragen von Krieg und Frieden und Arm und Reich, dulden keinen Aufschub. 

Was wir für ein gutes Leben brauchen

Die Pandemie-Krise bestimmte nicht nur die Endphase der Ära Merkel, sie dominiert nun auch den Beginn der Ampel-Regierung. Hinter uns allen liegen fast zwei Jahre voller Entbehrungen, voll Dauerstress vor allem für Familien und verordneter Ruhe für all jene, deren Bereiche heruntergefahren werden mussten. Das Jahr 2021 endet, wie es begonnen hat. Die erneute Zuspitzung der Gesundheitskrise ist jedoch nicht vom Himmel gefallen. Die Große Koalition hat mit tödlichen Konsequenzen Fehler gemacht, die vermeidbar gewesen wären: beim Umgang mit den Patenten für die Impfstoffe, mit dem Pflegenotstand, bei ihrer Gesundheitskommunikation und der Ignoranz gegenüber der sozialen Dimension der Pandemie, die Menschen mit geringen Einkommen und in bestimmten Jobs stärker trifft als andere. Die aktuelle Eskalation der Pandemie-Krise liegt jedoch auch in der Verantwortung der neuen Koalition.

Corona hat in einem der reichsten Länder elementarste Mängel offengelegt – sei es bei der Bezahlung von Gesundheitsarbeiter*innen und Menschen in sozialen Berufen, sei es bei der Bereithaltung von notwendigen Gütern. Das auf Wettbewerb und Profit getrimmte Gesundheits- und Pflegesystem kommt an die Grenzen. SPD, Grünen und FDP haben sich für Verzicht auf Umverteilung und für Selbstbeschränkung bei der Finanzierung öffentlicher Aufgaben entschieden – auf Kosten der Allgemeinheit und zu Lasten einer am Gemeinwohl orientierten öffentlichen Infrastruktur. 

Dass der Markt es nicht alleine richten wird, hat uns die Pandemie jeden Tag vor Augen geführt. Unsere Devise heißt: weniger Markt, mehr Demokratie wagen. Demokratisches Eigentum an dem, was alle für ein besseres Leben brauchen. Deshalb ist eine starke Stimme für ein gerechtes und umfassendes Gesundheitssystem nötig, das sich an den Bedarfen der Menschen orientiert statt an Kennziffern und Gewinnzielen. Die Ampel verspricht uns mehr »Respekt«, aber sie schweigt über den dazu nötigen Ausbau des Sozialstaats, der die Menschen in allen Lebensphasen absichert. Aus Hartz IV soll ein Bürgergeld werden, aber Regelsätze bleiben zu niedrig und der Kontrolldruck bleibt hoch. Trotz der Erhöhung des Mindestlohns, die wir begrüßen und für die wir als LINKE lange gekämpft haben, bleibt der Arbeitsmarkt gespalten. Minijobs sollen ausgeweitet werden, wovon vor allem Frauen, Alleinerziehende und Migrant*innen betroffen sind. Sachgrundlose Befristungen und Leiharbeit werden nicht abgeschafft. Löhne, von denen man gut leben kann, wird es für Verkäufer*innen, befristet beschäftigte Sozialarbeiter*innen, Altenpfleger*innen und viele andere nicht geben. Den versprochenen »Respekt« kann nur ermöglichen, wer an Strukturen der Arbeitswelt rüttelt, die den Menschen das Leben schwermachen. 

Die Rentenpolitik der Ampel lässt sich auf die Formel bringen: Zehn Milliarden Euro Steuergelder in die Aktienrente, aber Null Milliarden, um die sich abzeichnende Lawine von Altersarmut zu stoppen. Von der werden viele betroffen sein: Frauen, Beschäftigte im Handel, in sozialen Berufen oder im Kulturbereich etwa, Leiharbeiter*innen und Beschäftigte in kleinen Unternehmen, Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiographien, darunter queere Menschen und Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Und nicht zuletzt die junge Generation Corona.

Freiheit, Menschenwürde und ein soziales Fundament in jeder Lebensphase – das sind grundlegende Ansprüche, die Menschen unterschiedlicher Generationen und Herkünfte teilen. Wir wollen unseren sozialen Kern erweitern.

Wir werden soziale Garantien – eine Mindestabsicherung für alle, von der Facharbeiter*in bis zum Selbständigen, von der Student*in bis zur Rentner*in, ebenso wie Bildungs- und Weiterbildungsgarantien auf die Tagesordnung setzen. Wir machen Druck für eine Renten- und Pflegereform und die Aufwertung der sozialen Berufe. Unsere Politik des sozialen Zusammenhalts setzt auf einen gerecht finanzierten Sozialstaat und gesellschaftliche Infrastruktur. 

Viele Menschen wollen eine funktionierende und krisenfeste Infrastruktur und einen Wandel hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Klimaneutralität. Die Investitionspläne der Ampel werden dem nicht gerecht, weil SPD, Grüne und FDP der Auseinandersetzung mit Unternehmen und Hochvermögenden aus dem Weg gehen. Ohne Umverteilung werden Klimaschutz, Lebensqualität im Alltag und soziale Gerechtigkeit so in Gegensatz zueinander gebracht. Gutes Leben braucht als Voraussetzung gute Städte, gute Gemeinden und ein gutes Land. Wir halten massive Investitionen in die Bereiche für nötig, die über die Lebensqualität der Menschen entscheiden: bessere Gesundheitsversorgung, bezahlbares Wohnen, lebenswerte Kommunen, Bildungsgerechtigkeit, eine krisenfeste und vielfältige Kultur und den ökologischen Umbau der Wirtschaft. Um dies gerecht zu finanzieren, machen wir weiter Druck für die Wieder-Einführung der Vermögenssteuer für Multimillionäre.

Im Regierungswechsel hin zu einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP verschafft sich eine gesellschaftliche Richtungsveränderung ihren Ausdruck: Politik für einen »grünen Kapitalismus« der ökologischen Modernisierung. Die Ampel will neue Akkumulationsfelder erschließen und Deutschland als »wettbewerbsfähigen« Standort in der internationalen Konkurrenz stärken. Dabei »entfesselt« die Ampel nicht nur privates Kapital, sondern auch neue Widersprüche. 

Die ökologische Modernisierung ermöglicht zwar neue Perspektiven für Teile der Beschäftigten, bedroht aber zugleich Arbeitsplätze in traditionellen Industrien und Berufen. Viele können es sich auch nicht leisten, bei einer Transformation mitzuhalten, die vorrangig »vom Markt« gestaltet werden soll, sei es aufgrund von steigenden Energiepreisen oder weil berufliche und damit Lebensperspektiven verlorengehen. Denn Arbeit ist eben auch eine Frage der Würde und der Anerkennung von Lebensleistungen. 

Fortschritt für wen?

Die Regierungskoalition setzt auf ein gesellschaftliches Bündnis für Modernisierung, ohne die Konflikte zwischen Profitorientierung und Gemeinwohl, zwischen Bereicherung Weniger und gerechter Verteilung des Reichtums, Klassenkonflikte mithin, anzugehen. Fortschritt ist aber nicht klassenneutral und auch deshalb wird diese neue Koalition, gerade weil sie anderes behauptet, die gesellschaftliche Spaltung befördern. Als LINKE müssen wir die lautstarke Stimme für diejenigen werden, die das Ende des Monatseinkommens genauso fürchten wie die Zerstörung des Planeten. Wir machen uns für konsequenten Klimaschutz und für soziale Garantien stark – für sichere Einkommen, sinnvolle Arbeitsplätze und das Recht auf Bildung und Weiterbildung.

An der Hoffnung auf ein ewig andauerndes Wirtschaftswachstum hängen die wirtschaftspolitischen Pläne der Ampel, eine Hoffnung, die mit der Endlichkeit von Ressourcen und globaler Klimagerechtigkeit nicht vereinbar ist. Ohne entschlossenere Verkehrswende und einen eingreifenden sozial-ökologischen Umbau vor allem der Industrie bis zum Jahre 2030, wird das 1,5 Grad Ziel verfehlt.

Als LINKE müssen wir uns fragen, warum unsere linken Konzepte für einen sozial-ökologischen Umbau noch zu wenige Menschen überzeugen. Es reicht nicht, programmatisch höhere Forderungen als die SPD aufzustellen oder klimapolitisch konsequenter zu sein als die Grünen. Es geht um ein erkennbares Profil in unserer Kommunikation und um Verankerung von Themen vor Ort. Es geht um Vertrauen in uns als gestaltende Partei, und es geht darum, dass wir auch ausstrahlen, nicht nur das Richtige zu sagen, sondern auch das Notwendige zu machen. Wir werden unsere Alternativen mit radikalem Realismus im Alltag konkreter und nachvollziehbar machen. 

Wir werden die soziale und klimagerechte Mobilitätswende zu einem Schwerpunkt unserer politischen Arbeit machen. Deutschland muss zum Bahnland werden. Mit einer zuverlässigen, komfortablen und bezahlbaren Bahn, die auch in ländlichen Regionen eine echte Alternative ist. Mit Initiativen für einen kostenlosen Nahverkehr, lebenswerte und klimaneutrale Kommunen und eine vernetzte Mobilität auf dem Land. Denn nur, wenn die Menschen tatsächlich eine Wahl haben, haben sie auch die Möglichkeit, ihren Individualverkehr neu zu planen. Für sinnvolle und gute Arbeit streiten wir weiter mit einem ein Klima-Job-Programm, das Lebensqualität durch eine starke Infrastruktur schafft. Wir bleiben dabei: Nur durch massive öffentliche Investitionen und einen sozial-ökologischen Transformationsfonds für die Industrie wird ein nachhaltiges und klimagerechtes Wirtschaften gelingen. Wir werden gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe des Parteivorstandes daran arbeiten, programmatische Vorschläge für den sozial-ökologischen Umbau weiterzuentwickeln.

Der Koalitionsvertrag der Ampel zeigt, was an gesellschaftspolitischen Veränderungen für mehr Selbstbestimmung möglich ist, wenn die Union nicht mehr blockiert. Die rot-grün-gelbe Regierung vollzieht damit, was sich in großen Teilen der Gesellschaft bereits durchgesetzt hat - etwa im Familienrecht und bei der Einbürgerung, bei der Legalisierung von Cannabis oder mit der Herabsetzung des Wahlalters. 

Hier wird es eine massive Auseinandersetzung mit dem konservativen und autoritär-nationalistischen Lager geben. Als LINKE werden wir jeden gesellschaftlichen Fortschritt gegen alle reaktionären Rückschrittsphantasien verteidigen. Zusammen mit gesellschaftlichen Partner*innen werden wir uns dafür einsetzen, dass die Ampel ihre gesellschaftspolitischen Versprechen einhält und gleichzeitig ihre Begrenztheit aufzeigen. Denn die neu versprochene Freiheit findet bei SPD, Grünen und FDP schnell dort ihre Grenze, wo es um ihre materiellen Voraussetzungen geht. 

Freiheits- und Bürgerrechte brauchen ein gesellschaftliches Fundament. Uns geht es um Institutionen und eine soziale Infrastruktur, die allen ein Leben selbstbestimmt und gleich unter Verschiedenen ermöglicht. Antirassismus ist so essentiell für eine progressive Linke wie der Kampf für höhere Löhne und Renten, gegen prekäre Arbeit und für bezahlbare Mieten. Umfassende sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung heißt, den Paragraf 218 abzuschaffen und für eine gute, bezahlbare Gesundheitsversorgung einzutreten. 

Für uns ist DIE LINKE demokratische Anwältin der Grund- und Freiheitsrechte. Wir organisieren zivilgesellschaftlichen Einspruch, wo Geheimdienste noch mehr Zugriff bekommen sollen, wo Rassismus in den Sicherheitsbehörden unter den Teppich gekehrt wird oder die Ampel Abschiebungen durch eine »Rückführungsoffensive« beschleunigen will. Solidarität ist für uns unteilbar – und sie ist international. Sie gilt für die, die es in unser Land geschafft haben und sie gilt auch für jene, die weiter auf der Flucht um ihr Leben und ihre Zukunft fürchten. Auch deshalb stehen wir als Partei weiter ein für ein Bleiberecht von Geflüchteten und sichere Fluchtwege; wir wollen nicht die Abschottung der EU-Außengrenze stärken, sondern verlangen, dass das Asylrecht überall in Europa angewandt und garantiert wird. Die zivile Seenotrettung ist ein Gebot der Humanität wie die Willkommens-Kommunen ein Ausweis der Solidarität sind. 

Die Rechte der Bürger*innen sind für uns von hohem Wert. Hier stehen wir besonders in Ostdeutschland in einer Verantwortung gegenüber einer Geschichte aus links begründeter Unfreiheit, staatlicher Willkür und autoritärem Obrigkeitsdenken. Dem demokratischen Aufbruch des Herbstes 1989 folgte in den ostdeutschen Ländern eine tiefgreifende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, die heute als Beispiel dafür steht, wie man große Veränderungen gerade nicht gestalten darf: Biografien wurden entwertet, soziale Abstiegsängste entfacht, wertvolle Erfahrungen missachtet. 

Nun steht nicht nur der Osten vor neuen gravierenden Veränderungen, sondern die ganze Republik. Dabei müssen wir von den ostdeutschen Erfahrungen lernen und eine demokratische Mitgestaltung der Menschen vor Ort ermöglichen. Schneller ökologischer Umbau braucht soziale Absicherung, selbstbestimmte Perspektiven für die Menschen und eine Infrastruktur, die die Teilhabe aller ermöglicht. Diese sozial-ökologische Transformation wollen wir auch im Osten und in allen von der herrschenden Politik »vergessenen« Region des Landes voranbringen.

DIE LINKE bleibt eine Partei, die für Frieden, Abrüstung und Diplomatie einsteht, für eine globale Entspannungspolitik. Bewaffnete Drohnen und neue Rüstungsprojekte, wie die Ampel es will, lehnen wir ab. Wir stehen als Vorsitzende für die unteilbaren sozialen, politischen und ökonomischen Menschrechte. Es gibt ein globales Recht auf soziale Gerechtigkeit, auf Bildung und Gesundheit. Zugleich verteidigen wir als demokratische Sozialist*innen das Recht auf Schutz vor staatlicher Verfolgung und auf demokratische Freiheiten – unabhängig, ob es um Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen, um unterdrückte Bürgerrechte in Ungarn oder Belarus, um die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei oder Nicaragua, um völkerrechtswidrige Tötungen durch US-Drohnen, um Folter und staatliche Willkür in Saudi-Arabien oder Syrien, um demokratische Grundrechte in Russland oder Gewerkschaftsrechte in China handelt. Es gibt ein völkerrechtliches Verbot von Folter, Vertreibung und Verfolgung, es gibt einen unveräußerlichen Anspruch auf Freiheits- und Bürgerrechte. Für beides stehen wir ein.

Wer Sicherheit in einer multilateralen Weltordnung und globale Gerechtigkeit will, der muss sich für Abrüstung und Entspannungspolitik einsetzen. Eine gute Außenpolitik macht die Welt erst dann sicherer, wenn sie sie gerechter macht. Das Lieferkettengesetz muss umfassend und lückenlos sein, damit nicht weiter im globalen Süden geblutet wird, damit wir konsumieren können. Klimagerechtigkeit basiert nicht nur auf dem Ausstieg aus dem fossilen Kapitalismus, sondern wird ohne Ernährungssouveränität im globalen Süden, ohne eine nachhaltige Agrarwende und den Schutz der Biodiversität nicht möglich sein. Globale Gesundheitsgerechtigkeit verlangt jetzt eine Freigabe aller Impfstoffpatente zur Covid-19-Bekämpfung. 

Was zu tun ist

Es stehen in den kommenden Jahren wichtige Wahlen auf Landesebene, in Kommunen und in Europa an. Bei diesen Abstimmungen geht es um mehr als nur Prozente. Es geht um Gestaltungsräume, linke Alternativen, Selbstverwaltung vor Ort und die internationale Dimension unserer Politik. Als Parteivorsitzende wollen wir die Voraussetzungen schaffen, damit DIE LINKE wieder bei Wahlen in die Erfolgsspur kommt. Erneuerung braucht Entschlossenheit und einen langen Atem, sie braucht aber auch beharrliche Genauigkeit, Freude zum Risiko und Mut zur Entscheidung.

Wir werden bereits jetzt in die Vorbereitung der Europawahl 2024 und der Bundestagswahl 2025 einsteigen. Gute linke Wahlergebnisse basieren auf gesellschaftlicher Präsenz und Glaubwürdigkeit, auf der Fähigkeit, in sozialen Kämpfen um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen einen spürbaren Unterschied zu machen. Wir können wieder erfolgreich sein, wenn wir radikal und realistisch um konkrete Veränderungen kämpfen. Ob als Opposition im Bundestag, in Landesregierungen und in den Kommunen. Wir wollen zukünftig unsere Kommunal-, Landes- und Bundespolitik besser verzahnen. Wir werden noch stärker den Dialog mit sozialen Initiativen und Bewegungen suchen, um den gesellschaftlichen Druck auf die Ampel für die notwendige soziale und klimagerechte Transformation zu machen. 

Einen Schwerpunkt sehen wir in der kommenden Zeit im Parteiaufbau, in der Mitgliedergewinnung sowie der Verbesserung der Kampagnenfähigkeit und politischen Kommunikation. Bringen wir es auf den Punkt: Unsere Partei muss schneller, einladender und klarer kommunizieren – das betrifft die sozialen Medien, das betrifft unsere Begriffe und unsere Symbolik, das betrifft das Profil der Partei und unsere Sprache. Unsere Programme und Ideen müssen nicht nur Köpfe erreichen, sondern auch Herz und Bauch der Menschen.

Wir schlagen vor, in der Partei und ihren Gremien, mit den Mitgliedern und Interessierten sowie auf Kreisvorsitzenden-Ratschlägen, folgende Vorschläge zu diskutieren:

1. Kräfte bündeln.

Die zentralen Ziele der LINKEN müssen bei den Menschen ankommen, und wir müssen es schaffen, Hoffnung zu wecken. Dafür müssen wir bundesweit, in den Landesverbänden und vor Ort Arbeitsschwerpunkte bilden, die natürlich an die lokalen Begebenheiten angepasst werden. Wir schlagen dafür vor:

  • Gesundheit vor Profit. Krankenhäuser in öffentlicher Hand und gute Pflege gehören zu einem sozialen Fundament unserer Gesellschaft. Wir wollen die Pflegekampagne weiterentwickeln. Angesichts der Pandemie-Folgen sind wir weiter und auf neue Weise gefordert, Druck für ein Ende des Pflegenotstands, für eine sichere Gesundheitsversorgung und bessere Arbeitsbedingungen aufzubauen. Wie, das wollen wir in einem bundesweiten Kampagnenrat gemeinsam entwickeln. Wir wollen die Vernetzung und Organisierung von Gesundheitsarbeiter*innen in der LINKEN stärker unterstützen und ihre Kämpfe besser mit unserer Kommunalpolitik verknüpfen.
  • Bezahlbare Miete statt Rendite. Wohnen ist eine soziale Frage, und der Mietenwahnsinn ist eine kalte Enteignung der Mieter*innen. Die Ampel setzt auf »Bauen, bauen, bauen« – aber die meisten Wohnungen werden zu kaum bezahlbaren Marktpreisen entstehen. Unsere Alternative: Genossenschaften fördern, Mieten bundesweit deckeln. Wir unterstützen die Bewegung für eine Vergesellschaftung der großen Immobilienkonzerne in Berlin und hoffentlich bald an vielen Orten. 
  • Klimaneutrale und funktionierende Mobilität. Mit der FDP im Finanz- und Verkehrsministerium  wird die dringend notwendige Mobilitätswende von der Ampel blockiert. Wir machen Druck, bundesweit und vor Ort: für eine zuverlässige Bürger*innenbahn statt Zerschlagung der Bahn, für bezahlbare Mobilitätsalternativen, auch im ländlichen Raum. Kommunale und landespolitische Initiativen für 365-Euro-Tikets könnten die Mobilitätswende »von unten« anschieben und breite gesellschaftliche Bündnisse ermöglichen. 
  • Gewerkschaftliche Verankerung und gute Arbeit in der Transformation. Wir wollen verstärkt Beschäftigte in sozialen Berufen (von der Kita, über Schulen und Weiterbildung, die Sozialarbeit, Assistenz), im Handel und prekären Bereichen der Arbeitswelt, aber auch Industriebeschäftigte gerade in neuen Sektoren für DIE LINKE gewinnen und ihnen selbst Wirkungs- und politische Organisationskraft geben. 

2. Mitgliederoffensive und Stärkung der Kreisverbände. 

Wir wollen in einem Dreiklang aus aktiver Parteiarbeit vor Ort, Kommunalpolitik und Arbeit in gesellschaftlichen Bündnissen, Menschen in und jenseits der Metropolen für DIE LINKE gewinnen und verallgemeinerbare Praxen entwickeln, um gemeinsam mit ihnen ihre Interessen durchzusetzen. Die Parteiarbeit soll damit verbunden digitaler werden. Eine Investition in die Zukunft. Neue Beteiligungsmöglichkeiten für Menschen, denen der Alltag wenig Zeit lässt, und verstärkte Mitbestimmung der Basis. Die politische Bildung wird auf Lernprozesse für den Parteiaufbau und die Einbeziehung neuer Mitglieder fokussiert. 

3. Verankerung in gesellschaftlichen Bündnissen und Initiativen.

Viele Menschen sind auf der Suche, auch in ihrer politischen Orientierung. Die neue Sortierung im Parteiensystem, mit SPD und Grünen in der Regierung, wird auch die Landschaft sozialer Bewegungen verändern. Wir wollen unsere aktiven Mitglieder in ihrer Arbeit in Bewegungen und Bündnissen stärken. Gerade die Möglichkeit der LINKEN, eine echte Doppelfunktion im Parlament und in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Bündnissen einzunehmen, ist ein wirklicher Mehrwert, den keine andere Partei bietet.

Eine moderne sozialistische Partei

Wir als Parteivorsitzende wollen DIE LINKE gemeinsam mit unseren Mitgliedern in eine neue Zeit führen. Das ist unser Anspruch – daran messen wir uns selbst und wollen daran gemessen werden. Wenn sich die Welt um uns herum verändert, müssen auch wir uns verändern, um linke Antworten auf die drängenden Fragen dieser Zeit zu entwickeln. Wir müssen uns deshalb immer wieder und gemeinsam grundlegende Fragen stellen: Fragen nach der gesellschaftlichen Entwicklung hierzulande und global, nach unserer gesellschaftlichen Funktion und nach der linken Idee einer freien, demokratischen, sozialistischen Gesellschaft. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit als Parteivorsitzende wird es sein, den Prozess der inhaltlichen Profilschärfung und strategischen Erneuerung zu ermöglichen.

Wir gehen jetzt in eine gründliche Analyse des Wahlergebnisses. Aber wir werden uns dafür nicht zurückziehen. Im Gegenteil. Wir werden alle in der LINKEN und unsere gesellschaftlichen Bündnispartner*innen einladen: über Mitgliederzooms, einen Gewerkschaftsrat und Bewegungs-Ratschläge, über die Bundesarbeitsgemeinschaften und Arbeitsgruppen des Parteivorstandes. 

Gemeinsam wollen wir unsere politischen Antworten weiterentwickeln – ob bei der sozial-ökologischen Transformation, bei der Digitalisierung, in der Wirtschaftspolitik, oder auf den Feldern der Außenpolitik und Europa, Friedens- und Menschenrechtspolitik. Wie will DIE LINKE heute sein und wie sieht die LINKE 2025 aus? Welche Antworten geben wir für die kommende Zeit? Wir wollen die ersten Ergebnisse dieser Selbstverständigung auf dem Bundesparteitag 2022 zur Debatte stellen – und dem Bundesparteitag selbst eine neue Form geben. 

Wir wollen eine produktive Geschlossenheit. Eine plurale Linke ist ein unverzichtbarer Wert: sich ergänzen, statt zu einer Vieldeutigkeit zu werden. Alle sollten aus ihren unterschiedlichen Lebensrealitäten heraus bei uns ihren ganz eigenen Anknüpfungspunkt finden können. Aber eine linke Partei sollte in den zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit einer Stimme sprechen. Statt praktizierter Uneindeutigkeit braucht DIE LINKE mehr gemeinsamen politischen Willen. Sie benötigt auch mehr Mut, politische Fragen zu klären und neue Kompromisse für eine zukünftige Zeit zu finden.

Als Vorsitzende in einer Doppelspitze, die unterschiedliche Traditionen und Herkünfte der LINKEN widerspiegelt, wissen wir um die produktive Kraft von Vielfalt und Differenz. Wir ringen miteinander um den besseren Weg und wir wissen, dass wir uns ergänzen und gemeinsam etwas Stärkeres herausbilden können. Ost und West, Bewegung und Parlament, Opposition und Regierung – das sind für uns keine Gegensätze, sondern zusammengehörende Facetten einer lebendigen linken Partei. Zusammen nehmen wir die Herausforderung an, gemeinsam mit euch allen wollen wir den Weg gehen. Es ist Zeit für eine erneuerte sozialistische Partei. Nur wenn wir uns verändern, können wir wieder Vertrauen gewinnen.